Produktdetails
  • suhrkamp taschenbuch 3331
  • Verlag: Suhrkamp
  • Seitenzahl: 155
  • Deutsch
  • Abmessung: 10mm x 108mm x 176mm
  • Gewicht: 99g
  • ISBN-13: 9783518398319
  • ISBN-10: 3518398318
  • Artikelnr.: 09851370
Autorenporträt
Denis Johnson, geboren 1949 in München als Sohn eines amerikanischen Offiziers, gilt nach einigen Romanen und einer legendären Short-Story-Sammlung als einer der wichtigsten Autoren der amerikanischen Gegenwart. 2007 erhielt Denis Johnson den National Book Award. Er lebt in Idaho/USA.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.1995

Bleib ganz ruhig
Die Nachtwachen des Denis Johnson · Von Paul Ingendaay

Die Leser von Büchern, in denen Rauschgift vorkommt, müssen nicht selber welches mögen: Meistens ist es erbaulicher, sich für einen Gegenstand aus der Ferne zu interessieren. Doch wenn es um die Süchtigen, die Armen und Schwachen geht, überlassen amerikanische Autoren es nicht immer dem Publikum, den Abstand zu wählen. Ein Schriftsteller wie Raymond Carver, der sich durch das Schreiben aus elenden Verhältnissen befreit hatte, erzählte seinen Lesern gern von der Welt, die hinter ihm lag. Er erzählte von schweigsamen Trinkern, von Arbeitslosen und verzweifelten Stubenhockern, die auf ihre billigen Teppiche starren und glauben, das Schicksal könne sie noch viel härter treffen. Das war objektiv richtig. Aber es war auch Teil der Carver-Doktrin, die in den Reagan-Jahren zu Vorsicht und Mäßigung riet.

Bei dem amerikanischen Erzähler Denis Johnson ist ideologiekritisch wenig zu holen. An seinen Figuren - Drogensüchtigen, Arbeitslosen und Drifters - klebt kein Etikett und hängt keine Lehre. Fünf der elf Erzählungen fangen mit dem Wort "ich" an. "Ich fuhr zu dem Farmhaus, wo Dundun wohnte, um mir von ihm etwas synthetisches Opium zu holen, aber ich hatte kein Glück." Glück ist in diesen Kreisen selten. Mehr als dreißig Dollar für altes Kabel, das der Trödler noch nimmt, wird hier nicht verdient. Aber man darf sich auf das gemächliche Tempo nicht verlassen: Im einen Moment taumeln die Erzählungen mit müden Augenlidern dahin, im nächsten jagen sie unter Zischen und Schwefeldampf davon.

Denis Johnson ist ein ferner Bruder von Tom Waits, nur daß er es länger im Tageslicht aushält und seine Welt insgesamt gefährlicher wirkt. Seine Titel klingen programmatisch: "Arbeit", "Dreckhochzeit", "Happy Hour" oder, besonders schön, "Ruhige Hände im Städtischen Krankenhaus Seattle". Der Schauplatz ist vorzugsweise der Mittlere Westen, manchmal Arizona, und immer ist er weit und leer. Wichtig ist, daß in den Geschichten stets derselbe namenlose junge Mann auftritt - betrunken oder nüchtern; mit Stoff oder ohne; arbeitslos oder nicht. Und dieser Mann erzählt, wie er durch seine Tage gleitet und was er dabei sieht.

Schöne Tage sind es nicht. Einmal wird "Fuckhead" (so nennen ihn Freunde, aus einer anderen Erzählung, aber er hört es nicht gern) im Auto mitgenommen, es regnet, der Weg ist weit, und sein Schlafsack naß. Ein Familienvater sitzt am Steuer, bei ihm seine Frau und zwei Kinder. Der Held hört die Stimmen im Wagen und ahnt, daß sie alle verunglücken werden. Stunden später geschieht es, und im nächsten Augenblick läuft der junge Mann über die Szene und sieht Verletzte und Sterbende. Dann kommt ein merkwürdiger Moment der Stille: Wenn es kein Buch wäre, sondern ein Film, würde der Regen jetzt nur noch als dicker Dunst durchs Bild treiben. Und plötzlich steht da kein schmuddeliger Junkie auf einer trümmerübersäten Autobahn, sondern der letzte Überlebende einer Zivilisation, die sich selbst zerstört hat. Der Blick des Übriggebliebenen mißt die Atemzüge des sterbenden Fahrers von der Gegenspur und schaut "auf das große Elend eines Menschenlebens auf dieser Erde". Und er meint nicht den Tod. "Ich meine damit, daß er mir nicht sagen konnte, was er träumte, und ich konnte ihm nicht sagen, was wirklich war."

Johnson verformt die Wirklichkeit nicht allein durch die sprunghafte, bizarre Wahrnehmung der Rauschgiftsüchtigen, die immer auf ihren nächsten Entzug hinzuleben scheinen, sondern durch eine Erzähltechnik, die den Unterschied zwischen realer Handlung und Bewußtseinsbild verwischt. Der Zug im Bahnhof wird zu einem Schläfer, der beunruhigende Geräusche von sich gibt, und für einen einzelnen Satz verwandelt sich ein Fremder, dem der Held grundlos nachspioniert, in Christus. Unmöglich zu sagen, wo der Drogenrausch der Figur endet und die christliche Allegorisierung des Autors beginnt.

Diesen Effekt will Johnson ja gerade erzielen: Seine Figuren sind beides, ernstzunehmende Sozialfälle und Heilsbedürftige in Latschen und Lumpen, die sich bei den Regierungen hier unten oder dort oben keine großen Chancen ausrechnen können. Während die Drogen die Gegenstände vor ihren Augen beleben und mit Farbe übergießen, verstummen die Fragen: Was die Pistole in der eigenen Hand tut, warum der Mann am Tresen von seiner Schwester erzählt und ob heute wirklich gestern ist oder schon morgen.

Die unter dem Titel "Jesus' Sohn" versammelten Texte sind keine klassischen Kurzgeschichten, und man könnte mühelos Baustücke von einer Erzählung in die andere schieben. (Die Übersetzung von Herbert Genzmer trifft gut den umgangssprachlichen Ton, bezahlt für diese Nähe jedoch in der landesüblichen Währung, mit Anglizismen, die der Lektor eigentlich ausräumen müßte.) Eine Entwicklung scheint es nur bei der Hauptfigur zu geben, obwohl die Zeit der Handlung verschleiert und Zuordnungen erschwert werden: In den späten Erzählungen des Bandes hat Fuckhead einen Entzug hinter sich, nicht zum ersten Mal, und behält zumindest seinen Job. In der allerletzten Geschichte, vielleicht der besten des Bandes, spioniert er das Privatleben eines mennonitischen Ehepaares aus, ein verstörender Einbruch in das bißchen Bürgerlichkeit, das nach Abzug aller Geheimnisse bleibt.

Wo bei alldem der Autor steht, ist zum Glück nicht zu ermitteln. Wie Pynchon und Cormac McCarthy gehört Denis Johnson zu den Schriftstellern, die in den Halluzinationen ihrer Figuren verswinden; als Meinungs- und Verlautbarungstier wird er dadurch so ungreifbar wie sie. Und während Raymond Carver für seine Erniedrigten und Beleidigten, die mit begründet schlechter Laune aus seinen Geschichten gucken, das Mitleid des Lesers einfordert, sät Johnson vor allem Zweifel an der Wirklichkeitshaftung der Figuren und warnt davor, aus ihrem Schicksal etwas abzuleiten.

Das Leben des Autors, soweit es bekannt ist, verrät dazu nichts Näheres. Denis Johnson wurde 1949 als Sohn eines amerikanischen Besatzungsoffiziers in München geboren und lebt heute in Idaho. 1994 erschien auf deutsch sein Roman "Wiederbelebung eines Gehängten". Mehrere Jahre, so heißt es, unterrichtete er in einem staatlichen Gefängnis in Arizona. Soziologisch gesehen, kennt er die Gesellschaft, von der er schreibt. Aber von welcher Gesellschaft schreibt er? Die merkwürdige Hölle, die er uns ausmalt, muß die Erfindung eines ebenso merkwürdigen Einzelgängers sein. Und wenn es für das Personal, auf das Denis Johnson seine ungewöhnliche Bildkraft richtet, eine Therapie gibt, dann nur auf einem anderen Planeten.

Denis Johnson: "Jesus' Sohn". Geschichten. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Herbert Genzmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 157 S., br., 16,80 DM.

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