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Produktdetails
  • suhrkamp taschenbuch 3201
  • Verlag: Suhrkamp
  • Seitenzahl: 131
  • Deutsch
  • Abmessung: 9mm x 108mm x 176mm
  • Gewicht: 91g
  • ISBN-13: 9783518397015
  • ISBN-10: 351839701X
  • Artikelnr.: 22617686
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.2001

Von Väterchen und Mütterchen
Seelenkundig: Pjotr Aleschkowski leiht der Nostalgie viele Stimmen

Wie klingt das, wenn sich eine russische Stadt selbst erzählt? Und was macht so eine russische Stadt eigentlich aus, eine Stadt wie Stargorod, die irgendwo zwischen dem provinziellen Dorf und der Weltstadt Moskau angesiedelt ist, was kennzeichnet die Menschen dort und ihr Leben, was formt ihre Weltsicht? Mächtige Reiche sind über diese Gegend gekommen und gegangen, Kriege und Revolutionen, doch wie es scheint, bleibt die notorische "russische Seele" sich und ihrer Eigenart durch alle äußeren Wandlungen hindurch treu. Der russische Schriftsteller Pjotr Aleschkowski zumindest zelebriert in seinem Erzählungsband "Stargorod" die ungebrochene Aktualität der russischen Stereotypen frei nach Gogol und Tolstoj: "Die Stargoroder sind nun einmal so."

Erklärungen sind also keine zu erwarten, Geschichten dafür um so mehr, und die müssen sich dann eben selbst erklären. Pjotr Aleschkowski, der bei uns durch seinen ebenfalls in Stargorod angesiedelten Roman "Der Iltis" (F.A.Z. vom 28. November 1997) bekannt geworden ist, hat sich gleichzeitig viel und wenig vorgenommen, und während er im Kleinen einzelne Triumphe feiert, bietet er im Großen zu wenig, um nicht zu scheitern. Ein schmales, aber inhaltsreiches Bändchen hat er gefüllt mit dreizehn Kalendergeschichten, und sie alle handeln von den Menschen in Stargorod, ihrer Eigentümlichkeit und ihren Geschichten.

Der Chronist der Erzählungen (wenn es denn nur einen gibt) bezeichnet die Sammlung als einen Zyklus von Lebensbildern. Diese Bilder bestehen aus einem Wechselspiel von kurz skizzierten Lebensläufen und schlaglichtartigen Episoden. Neben Bezügen zu literarischen Vorbildern sind auch die Geschichten untereinander durch Motive und Figuren dicht verknüpft. Dieses Netz fügt sich zu einem Porträt dieser so typischen wie inexistenten russischen Stadt. Wo es in "Der Iltis" noch so etwas wie einen neutralen Erzähler gab, da tauchen jetzt eine ganze Reihe von Chronisten auf. Manchmal meint man, einem alten Mütterlein beim Dorftratsch zuzuhören, ein anderes Mal läßt uns ein allwissender Erzähler eine Geschichte durch die Augen einer beteiligten Person sehen, oft gibt es sogar ein unbestimmtes "wir", eine Art kollektives Anekdotengedächtnis.

So unterschiedlich diese Erzählinstanzen allerdings sein mögen, Nostalgie ist für alle ein grundlegender Antrieb des Erzählens. "Alles verliert an Größe. Ausnahmslos alles." So lautet der Tenor, der zunächst rückwärtsgewandt klingt, jedoch im Zusammenspiel der Erzählungen als Ironie erkennbar wird. Früher waren die Bösen böser und die Guten besser, das Land war weiter und die Winter kälter, die historischen Ereignisse verschwimmen, werden austauschbar, und die Geschichte wird zum Märchen. Ganz im Sinne dieses Verkleinerungstopos heißt es: "Die ganze Folklore ist also sozusagen passé, Histörchen aber - Histörchen gibt es immer wieder mal."

Genau solche Histörchen bietet uns Pjotr Aleschkowski, und auf dieser Mikroebene gelingen einige meisterhafte Erzählungen. Daß sich aus den Teilen am Ende doch wieder so etwas wie Folklore ergibt, gelingt aber nur in Ansätzen. Das reale Elend während und nach der sowjetischen Herrschaft etwa dient nur als dekorativer Hintergrund für burleske Episoden und Schwejkiaden. Auch gerät die Kritik an den Vorurteilen der naiven Stargoroder bisweilen etwas schlicht, wie in der Geschichte "Die Teufelsbraut", die in Wahrheit natürlich keine Hexe ist. Andere Erzählungen aber, wie die von der "Stargoroder Vendetta", münzen die Nostalgie in ein präzises und poetisches Porträt der gegenwärtigen russischen Gesellschaft um.

Was in vergangenen Zeiten als blutige Auseinandersetzung von fast mythischen Dimensionen begonnen hatte, setzt sich in der folgenden Generation als Farce fort, bei der es um die Vergabe von Strafzetteln und Fleischereiwaren geht, und es endet mit dem Schönsten, was Stargorod zu bieten hat, dem Anblick des vollen Mondes. Aleschkowski will mit seinen Erzählungen Stargorod in den Atlas der Weltliteratur eintragen, so wie Yoknapatawpha County oder Winesburg, Ohio. Doch anders als Faulkners oder Andersons ländliche Antiidyllen liegt Stargorod bis jetzt noch in der Provinz.

SEBASTIAN DOMSCH

Pjotr Aleschkowski: "Stargorod". Erzählungen. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 131 S., br., 12,90,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Stargorod ist ein fiktives russisches Dorf, dem der Autor bereits in seinem vorherigen Roman "Der Iltis" gehuldigt habe, informiert Sebastian Domsch den unkundigen Leser. Es geht um Folklore und Nostalgie als Antrieb des Erzählens, meint Domsch und erzählt, wie sich diese rückwärtsgewandte Haltung im Zusammenhang der miteinander verknüpften Geschichten doch als kleiner Scherz des Autors entpuppt. Seine dreizehn Episoden ergeben ein kleines Kalenderblatt, das lokale Begebenheiten, Lebensläufe und Lebensbilder schildert und geschickt miteinander verwebt. Im Kleinen kann Domsch den Geschichten viel abgewinnen, insbesondere der Erzählung "Stargoroder Vendetta", die ein präzises Porträt der gegenwärtigen russischen Gesellschaft zeichne; im Großen jedoch gibt ihm das ganze zu wenig her: etwas Folklore, die nicht durchgehalten wird, etwas Geschichtskritik, die zu schlicht ausfällt, und viel russische Seele, die sich im Wesen immer gleich bleibt.

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