Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.01.2006Hinweis
DER GROSSE ANFANG. Als in Rußland die Revolution ausbrach, setzte sich die Kunst, die zur Avantgarde gehören wollte, an einen Nullpunkt: Sie schüttelte die Lasten der alten Kultur ab. Die politische und ökonomische Revolution versprach, das Leben zu verändern - die Kunst zog mit. Zentrale Texte des Futurismus, Konstruktivismus, Suprematismus sowie - für die dreißiger Jahre, als sich die Folgen der Revolution auch auf kulturellem Gebiet längst absehen ließen - Texte aus dem spitzen Winkel des Absurden sind für den vorliegenden Band ausgesucht und eingehend kommentiert worden. Den beiden Herausgebern sei Dank für diese Arbeit. Jetzt hat man in einem umfangreichen Buch wichtige Dokumente zur Hand, an denen sich noch einmal ablesen läßt, in welchem Maß die russische Revolution eine Umwälzung der Köpfe vorantrieb, wenn nicht sogar auslöste: Alles mußte anders werden. Der Mond der Romantik wurde ausgeknipst, die Sonne der Produktion eingeschaltet. In der Zeitung "Kunst der Kommune" erschien 1919 ein Artikel Kasimir Malewitschs über das Museum (der Text wurde für diesen Band von Gabriele Leupold neu übersetzt), in dem der Künstler dem Leben das Recht zur kontinuierlichen Zerstörung der Geschaffenen zubilligte: "Wir dürfen nicht in Museen leben. Unser Weg liegt im Raum, nicht im Koffer des Überlebten." Das waren damals noch echte Nomaden. ("Am Nullpunkt". Positionen der russischen Avantgarde. Herausgegeben von Boris Groys und Aage Hansen-Löve. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold, Annelore Nitschke, Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 778 S., br., 20,- [Euro].)
rtg
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
DER GROSSE ANFANG. Als in Rußland die Revolution ausbrach, setzte sich die Kunst, die zur Avantgarde gehören wollte, an einen Nullpunkt: Sie schüttelte die Lasten der alten Kultur ab. Die politische und ökonomische Revolution versprach, das Leben zu verändern - die Kunst zog mit. Zentrale Texte des Futurismus, Konstruktivismus, Suprematismus sowie - für die dreißiger Jahre, als sich die Folgen der Revolution auch auf kulturellem Gebiet längst absehen ließen - Texte aus dem spitzen Winkel des Absurden sind für den vorliegenden Band ausgesucht und eingehend kommentiert worden. Den beiden Herausgebern sei Dank für diese Arbeit. Jetzt hat man in einem umfangreichen Buch wichtige Dokumente zur Hand, an denen sich noch einmal ablesen läßt, in welchem Maß die russische Revolution eine Umwälzung der Köpfe vorantrieb, wenn nicht sogar auslöste: Alles mußte anders werden. Der Mond der Romantik wurde ausgeknipst, die Sonne der Produktion eingeschaltet. In der Zeitung "Kunst der Kommune" erschien 1919 ein Artikel Kasimir Malewitschs über das Museum (der Text wurde für diesen Band von Gabriele Leupold neu übersetzt), in dem der Künstler dem Leben das Recht zur kontinuierlichen Zerstörung der Geschaffenen zubilligte: "Wir dürfen nicht in Museen leben. Unser Weg liegt im Raum, nicht im Koffer des Überlebten." Das waren damals noch echte Nomaden. ("Am Nullpunkt". Positionen der russischen Avantgarde. Herausgegeben von Boris Groys und Aage Hansen-Löve. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold, Annelore Nitschke, Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 778 S., br., 20,- [Euro].)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.07.2006Brandanschläge
Manifeste der russischen und sowjetischen Avantgarde
Soll man dem Louvre doch die Lunte in den Hintern stecken, fluchte einst Paul Cézanne und erboste sich über den bigotten Umgang des französischen Staates mit einem seiner Kollegen. Programmatisch gewendet gegen die gesamte Museumskultur wurden die pyrotechnischen Antriebe bekanntlich erst mit den Futuristen. Zuerst in Italien, wo die Bibliotheken, Museen und Akademien in einem großen Furor des Neubeginns zerstört werden sollten. Später in Russland unmittelbar nach der Revolution, als Kasimir Malewitsch die Erfindung der Krematorien nicht zuletzt deshalb begrüßte, weil sie in seinen Augen den einzig legitimen Bestimmungsort der tradierten Kunst darstellen würden.
„Über das Museum” heißt der kurze Text Malewitschs von 1919, der in der Zeitung „Isskustvo kommuny” (Die Kunst der Kommune) erschien. Auf deutsch wird er nun dank einer reichhaltige Anthologie von Texten zugänglich, die im Russland der Jahre 1914 bis 1935 geschrieben worden sind. Ihr Titel, „Am Nullpunkt”, will fraglos an das damaligen Pathos einer umfassenden tabula rasa anknüpfen. Aber dass die Anthologie zugleich einem mit Bundesmitteln geförderten Projekt über die „Post-Communist Condition” zugehörig ist, sollte nachdenklich stimmen: Nicht nur, dass es eines Labels in englischer Sprache bedarf, um die Existenzbedingungen im heutigen Mittel- und Osteuropa bestimmen zu wollen. Nicht nur, dass die Rede vom „Post-Kommunismus”, wie sich unlängst der Moskauer Künstler Pavel Pepperstein wunderte, eine Utopie nach der Utopie voraussetzt. Zu denken gibt vor allem das Bemühen, in der Rückbesinnung auf die programmatischen Texte der Vergangenheit allzu säuberlich zu unterscheiden: zwischen dem avantgardistischen Aufbruch, für den das Attribut „russisch” herhalten darf, und dessen Unterdrückung, für die in den Kommentaren der Terminus „sowjetisch” bereitgehalten wird. Hier spiegelt sich der alte Mythos vom guten Aufbruch und den bösen Folgen, der immer schon die Artefakte von Malewitsch, von Rodtschenko und von vielen anderen, die seinerzeit die Revolution begrüßt und ästhetisch begleitet hatten, im Westen akklamations-, das heißt museumsfähig machen konnte.
Nichts scheint abwegiger, liest man die Texte der Anthologie. „Auf der Straße und im Haus, in uns und an uns das ist unser lebendiges Museum”, heißt es etwa bei Malewitsch. Oder, grundlegender, bei Nikolai Tarabukin, einem damals jungen Wissenschaftler (1899-1956). Dieser veröffentlichte 1923 das Traktat „Von der Staffelei zur Maschine”, eine radikale Schrift, die in Italien und in Frankreich um 1970 wiederentdeckt wurde, hierzulande aber kaum zugänglich war, und forderte dort: „Es gilt eine neue Wissenschaft zu begründen” voll falscher Schonung spricht die deutsche Übersetzung von „Kunstwissenschaft” , „der die Maschinenbaufabrik und die Schiffswerft weit mehr bedeuten als der Louvre und die Uffizien.”
In einem Atemzug wollte Tarabukin die mimetische und die ungegenständliche Kunst, das Kunstmuseum und eben auch die Kunstwissenschaft verabschieden. Dass er sich dabei auf Oswald Spengler berief sowie auf eine „neue Wissenschaft von der Verbesserung der menschlichen Gattung”, bringt seine Diagnosen jedoch in ein zweifelhaftes Licht. Welchen prognostischen Wert könnte es haben, dass der Museumsstürmer die Eugenik mit der Avantgarde verschränkt?
HENDRIK FEINDT
BORIS GROYS, AAGE HANSEN-LÖVE (Hrsg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold, Annelore Nitschke und Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 778 Seiten, 20 Euro.
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Manifeste der russischen und sowjetischen Avantgarde
Soll man dem Louvre doch die Lunte in den Hintern stecken, fluchte einst Paul Cézanne und erboste sich über den bigotten Umgang des französischen Staates mit einem seiner Kollegen. Programmatisch gewendet gegen die gesamte Museumskultur wurden die pyrotechnischen Antriebe bekanntlich erst mit den Futuristen. Zuerst in Italien, wo die Bibliotheken, Museen und Akademien in einem großen Furor des Neubeginns zerstört werden sollten. Später in Russland unmittelbar nach der Revolution, als Kasimir Malewitsch die Erfindung der Krematorien nicht zuletzt deshalb begrüßte, weil sie in seinen Augen den einzig legitimen Bestimmungsort der tradierten Kunst darstellen würden.
„Über das Museum” heißt der kurze Text Malewitschs von 1919, der in der Zeitung „Isskustvo kommuny” (Die Kunst der Kommune) erschien. Auf deutsch wird er nun dank einer reichhaltige Anthologie von Texten zugänglich, die im Russland der Jahre 1914 bis 1935 geschrieben worden sind. Ihr Titel, „Am Nullpunkt”, will fraglos an das damaligen Pathos einer umfassenden tabula rasa anknüpfen. Aber dass die Anthologie zugleich einem mit Bundesmitteln geförderten Projekt über die „Post-Communist Condition” zugehörig ist, sollte nachdenklich stimmen: Nicht nur, dass es eines Labels in englischer Sprache bedarf, um die Existenzbedingungen im heutigen Mittel- und Osteuropa bestimmen zu wollen. Nicht nur, dass die Rede vom „Post-Kommunismus”, wie sich unlängst der Moskauer Künstler Pavel Pepperstein wunderte, eine Utopie nach der Utopie voraussetzt. Zu denken gibt vor allem das Bemühen, in der Rückbesinnung auf die programmatischen Texte der Vergangenheit allzu säuberlich zu unterscheiden: zwischen dem avantgardistischen Aufbruch, für den das Attribut „russisch” herhalten darf, und dessen Unterdrückung, für die in den Kommentaren der Terminus „sowjetisch” bereitgehalten wird. Hier spiegelt sich der alte Mythos vom guten Aufbruch und den bösen Folgen, der immer schon die Artefakte von Malewitsch, von Rodtschenko und von vielen anderen, die seinerzeit die Revolution begrüßt und ästhetisch begleitet hatten, im Westen akklamations-, das heißt museumsfähig machen konnte.
Nichts scheint abwegiger, liest man die Texte der Anthologie. „Auf der Straße und im Haus, in uns und an uns das ist unser lebendiges Museum”, heißt es etwa bei Malewitsch. Oder, grundlegender, bei Nikolai Tarabukin, einem damals jungen Wissenschaftler (1899-1956). Dieser veröffentlichte 1923 das Traktat „Von der Staffelei zur Maschine”, eine radikale Schrift, die in Italien und in Frankreich um 1970 wiederentdeckt wurde, hierzulande aber kaum zugänglich war, und forderte dort: „Es gilt eine neue Wissenschaft zu begründen” voll falscher Schonung spricht die deutsche Übersetzung von „Kunstwissenschaft” , „der die Maschinenbaufabrik und die Schiffswerft weit mehr bedeuten als der Louvre und die Uffizien.”
In einem Atemzug wollte Tarabukin die mimetische und die ungegenständliche Kunst, das Kunstmuseum und eben auch die Kunstwissenschaft verabschieden. Dass er sich dabei auf Oswald Spengler berief sowie auf eine „neue Wissenschaft von der Verbesserung der menschlichen Gattung”, bringt seine Diagnosen jedoch in ein zweifelhaftes Licht. Welchen prognostischen Wert könnte es haben, dass der Museumsstürmer die Eugenik mit der Avantgarde verschränkt?
HENDRIK FEINDT
BORIS GROYS, AAGE HANSEN-LÖVE (Hrsg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold, Annelore Nitschke und Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 778 Seiten, 20 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dieser vom Münchner Slawisten Aage Hansen-Löve besorgte Band ist Teil eines dreiteiligen Projekts, mit dem der Philosoph und Medienwissenschaftler Boris Groys die "geistige Situation in Osteuropa und ihre kulturhistorischen Voraussetzungen" zu fassen versucht, und Rezensent Ulrich M. Schmid ist höchst zufrieden mit den gehaltvollen Ergebnissen. "Am Nullpunkt" widmet sich der russischen Avantgarde in der Kunst zur Zeit der bolschewistischen Revolution und nimmt vor allem Kasimir Malewitschs Suprematismus in den Blick, der einige rabiate Vorschläge zur Neugestaltung der Kultur beinhaltete. So hatte Malewitsch 1919 zur Förderung der generellen Vorstellungskraft gefordert, alle überlieferten Kunstwerke zu verbrennen und nur noch ihre Asche auszustellen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wichtige Dokumente, an denen sich noch einmal ablesen läßt, in welchem Maß die russische Revolution eine Umwälzung der Köpfe vorantrieb, wenn nicht sogar auslöste.« Frankfurter Allgemeine Zeitung