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Es gibt Geschichten, die man nie wieder vergißt. Ein Förster findet im Wald einen menschlichen Arm, in die Erde gekrallt, noch warm, er muß mit ungeheurer Kraft ausgerissen worden sein - doch der dazugehörige Körper bleibt unauffindbar. Bevor im buchstäblich letzten Satz der Novelle das Rätsel gelöst wird, hören wir die Leidensgeschichte des Herrn Stern, eines Privatgelehrten, der im vollbesetzten städtischen Konzertsaal philosophische Vorträge hält und dem eines Tages die Wörter verlorengehen; als wäre da jemand, der sie ihm stiehlt. Sein Unglück ist so bizarr und tragisch, obszön und komisch…mehr

Produktbeschreibung
Es gibt Geschichten, die man nie wieder vergißt. Ein Förster findet im Wald einen menschlichen Arm, in die Erde gekrallt, noch warm, er muß mit ungeheurer Kraft ausgerissen worden sein - doch der dazugehörige Körper bleibt unauffindbar. Bevor im buchstäblich letzten Satz der Novelle das Rätsel gelöst wird, hören wir die Leidensgeschichte des Herrn Stern, eines Privatgelehrten, der im vollbesetzten städtischen Konzertsaal philosophische Vorträge hält und dem eines Tages die Wörter verlorengehen; als wäre da jemand, der sie ihm stiehlt. Sein Unglück ist so bizarr und tragisch, obszön und komisch wie gelegentlich das Leben selbst, dessen "Besitzern" in einem Augenblick alle Gewißheit über Wahrheit und Lüge, Schuld und Unschuld abhanden kommen kann. Von dieser Erfahrung erzählt László Darvasi, der begnadete Hermeneut des Unbegreiflichen, in seinen Novellen.
Autorenporträt
Darvasi, LászlóLászló Darvasi, 1962 in Törökszentmiklós geboren, war Lehrer und debütierte mit Gedichten und Kurzprosa. Spätestens seit seinem Roman Die Legende von den Tränengauklern (1999; dt. 2001) gilt der vielfach ausgezeichnete Autor als einer der originellsten Schriftsteller seiner Generation. Er lebt in Budapest.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2006

Sterns Himmelfahrt
Dunkler Hoffnungsstrahl: László Darvasis Novellen

Eine Welt, die noch in den Fugen ist, sieht anders aus. Jedenfalls nicht so, daß ein Fremder, ein Zufallsgast in der Provinz, die Familie des angesehensten Bürgers einfach so niedermetzelt; daß alles, was ein Schriftsteller schreibt, augenblicklich wahr wird; daß ein alter Verwandter, bei dem man sich einquartiert, tagelang Schlachtpanoramen im Miniaturformat aufstellt und vor der möglichen Rückkehr des lange verschollenen Sohnes zittert; daß einem kultivierten Alleswisser auf einmal die Worte abhanden kommen, bis er nur noch Ferkeleien von sich gibt; daß schließlich ein Onkel seinen jungen Neffen zum Nachfolger aufbaut: als Amtsarzt im Gefängnis, als Zeuge unzähliger Exekutionen.

Nichts ist normal im Universum des 1962 geborenen ungarischen Autors László Darvasi. Seit seine Novellensammlung "Das traurigste Orchester der Welt" 1995 auf deutsch erschienen ist, seit sechs Jahre später sein Roman "Die Legende von den Tränengauklern" in der vorzüglichen Übersetzung von Heinrich Eisterer hierzulande sein Publikum gefunden hat, gilt er zu Recht als der interessanteste Schriftsteller seiner Generation in Ungarn: als einer, der sich beim Projekt der Verzauberung des Alltags souverän allen Forderungen nach einem oberflächlichen Realismus widersetzt, der sich seine Welt aus Bruchstücken der Geschichte und Eindrücken der Gegenwart zusammensetzt, der vom Türkenkrieg spricht und den Jugoslawienkrieg meint und natürlich auch umgekehrt. Und der in dem Erzählungsband "Eine Frau besorgen" (2000, deutsch 2003) das erhellendste, bitterste und nachhaltigste literarische Zeugnis der jüngsten Exzesse auf dem Balkan ablegte, das dazu bislang erschienen ist.

Darvasis Texte spüren der Gewalt nach, wo immer sie sich blicken läßt, sie schildern, wie der kulturelle Überbau aufweicht, wenn seine Repräsentanten ernsthaft Stellung beziehen sollten, sie berichten von Strafgefangenenlagern und dem Einflußbereich der Warlords, als wäre das unsere Normalität. Vor allem aber malen sie eine Welt, in der man sich auf keinen Frieden verlassen kann.

Die erste Novelle seines jüngsten Bandes "Herr Stern" beginnt mit den Worten: "Auf dem Friedensvertrag von Osnabrück waren die verschnörkelten Signaturen der Königin Christine und des Abgesandten Ferdinands II. eben erst getrocknet, als sich im bayrischen Müttenheim eine abscheuliche Untat ereignete." Der Verweis auf den Dreißigjährigen Krieg ist kein Zufall: Mit seinem verwirrenden, von Seitenwechseln der Kombattanten und dem Terror gegen die Zivilbevölkerung geprägten Verlauf ist er einer der wichtigsten Hintergründe für Darvasis historische Novellen. Und auch der idyllische Name "Müttenheim" fügt sich in diesen Kosmos. Dort jedenfalls wird ein Mensch urplötzlich zum Verbrecher und mutiert umgekehrt in der Haft zu einem derart sanften Wesen, daß man ihm ganz am Ende sogar die Bluttat, für die es erdrückende Beweise gibt, nicht mehr zutrauen mag.

Die Novellen, die Darvasi in diesem Band versammelt, fragen fortwährend nach dem Ursprung des Bösen und kleiden die verschiedenen Antworten in rätselhafte Bilder, die einen lange beschäftigen: Ist es die Hybris des Privatiers Stern, der in seiner Maßlosigkeit einen Vortrag über Gott ankündigt und dann urplötzlich daran scheitert, dessen Namen auszusprechen? Erscheint der Satan als Person auf der Erde, um als biblisch verbürgter Begleiter des Kleophas dem auferstandenen Jesus zu begegnen? Verweigert sich Gott seiner Schöpfung, weil, wie es in der Novelle "Das vollkommene Leben des Fernando Asahar" heißt, umgekehrt "das, was ist, Gott nicht will"?

Im Roman "Die Legende von den Tränengauklern" hatte Darvasis einen Holzschnitzer ein Abbild des Teufels fertigen lassen, um dann mit der Figur alles Böse zu verbrennen, ein Vorhaben, daß scheitern muß: Der angekokelte Holzteufel wälzt sich aus dem Feuer und zieht, mächtiger denn je, fröhlich singend in die Welt hinaus. Herr Stern aber, der unglückliche Vortragende, der Wort für Wort immer weiter verstummt, klammert sich, ein moderner Hiob, um so mehr an die Welt, je härter er für den Verstoß gegen das zweite Gebot gestraft wird. Am Ende bleibt von ihm nur ein Arm, der sich in den Waldboden krallt, während der übrige Körper von einer gewaltigen Kraft abgerissen wurde, in einer Himmelfahrt ohne Zeugen.

László Darvasi hat diese Novelle, die wie die meisten des Bandes aus den neunziger Jahren stammt, seiner Lektorin Katharina Raabe gewidmet. Das ist nicht nur ein schöner Zug, sondern erklärt sich auch durch ihr Thema: Wo mit derart feiner Zunge über Sprachverlust gesprochen wird, geht es implizit auch um die Arbeit derjenigen, die dabei helfen, die richtigen Worte für das Unsagbare zu finden. Denn das, weiß Leutnant Brünn, der einzige Freund, der Herrn Stern noch bleibt, ist "das Wunder, der Sinn, die Essenz des menschlichen Daseins". Und das ist sogar ein Hoffnungsstrahl.

László Darvasi: "Herr Stern". Novellen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 227 S., geb., 12,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.03.2007

Wie Honig auf der Rasierklinge
László Darvasis großartige Novellensammlung „Herr Stern”
Wie schön das wäre: Die Welt ist ordentlich aufgeteilt in Gut und Böse, schwarz und weiß, und wir könnten die Unterschiede erkennen, den Sinn vom Unsinn scheiden und festen Schrittes den einzig richtigen Weg voraneilen. Doch alles wird schwieriger – aber vielleicht ist ja gerade das ein Glück, – wenn es mehrere mögliche Wege gibt und es nicht heißt: entweder oder, sondern: sowohl als auch. Dann ist jedes so friedlich erscheinende Schaf heimlich ein Wolf und jeder Engel zugleich ein Teufel. Und auch mit dem Lächeln hat es eine schwierige Bewandtnis, denn auch das Böse lächelt sein ganzes Leben lang, nicht wahr?
Etwas von diesem bedrohlichen Ineinanderfließen der Sphären, von dieser planvollen Unordnung wohnt in László Darvasis Novellen, diesen „unerhörten Begebenheiten”, die sich unter dem Titel „Herr Stern” in einer kleinen Sammlung zusammengefunden haben. Darvasi führt uns in eine unheimliche Landschaft voller Schrecken und Tod, in der die Zeit in ein beständig fortdauerndes Schwingen versetzt wird. Sie ist weder tot noch steht sie still, „sie hatte sich vielmehr verdichtet und rüstete sich”, doch wofür genau, das kann niemand sagen. Und wenn die Unsicherheit wächst, beginnt die Zeit des Erzählens. Also wuchern die Spekulationen und Legenden, und Märchen werden verbreitet.
Ein Bäcker, seine Frau und der zwölfjährige Sohn werden niedergemetzelt. Ihr Mörder, ein Schrat und Besessener, wird zur Legende, und traurige Wanderkomödianten setzen seine Geschichte in Szene. Da stirbt ein ehemaliger Oberst, sein Taschentuch ist schon voller Blut. Er liebt die Toten so sehr, dass er sie in einem geblümten Fotoalbum aufbewahrt, mit „verrenkten Gliedern, verdrehten Oberkörpern, blutig, auf schrecklichste Weise hingemetzelt oder auch ohne das kleinste Anzeichen einer äußeren Verletzung.” Da beugt sich jemand an einem Seziertisch über einen Körper, den Rumpf vom Hals bis zum Unterleib geöffnet: Ein Arzt schneidet seine eigene Frau auseinander, er hat sie einmal gut gekannt, als sie noch lebte.
Und andernorts kommt mit einemmal einer dazu, das Leben eines anderen auszulöschen und dabei sogar noch Erleichterung zu spüren. „Was gedenken Sie zu tun?”– „Ich bringe Sie um.” Es fällt ein Schuss und zerfetzt schöne Gesichtszüge. Die Gerüche von Blut und Rauch vermischen sich. Ein Stirnbein knirscht, man hört das Krachen der Knochen, Blut fließt in den Mund – „ein weiterer Haufen Mensch”. Maßlose Ungeheuerlichkeiten werden hier vorgetragen, das klingt und atmet und ächzt – in der Übersetzung von Heinrich Eisterer –, und der Wind verbannt „die Schmerzenslaute ins Laub der Eichen”. Überall ist die Nähe des Todes zu spüren, und so gilt es, ihm einen Platz zu geben, ihn zu nähren, zu hätscheln, zu kosen: „Nimm ihn bei dir auf.” Mit dem Schicksal des Herrn Stern schließlich werden die Fenster und Türen zum Jenseits sperrangelweit geöffnet. Fortan kann jeder geradewegs hineinblicken.
Darvasis Figuren sind Sünder, Verbrecher, Bösewichte, die nur mehr auf die Gnade Gottes verwiesen sind. Es scheint manchmal, als müssten alle Beteiligten erst einmal durch alle Finsternisse hindurchwandern, alles Leiden auf sich nehmen, um – ja um was eigentlich? Wer weiß das schon. Aber sie haben die Augen sicher auf einen Punkt in der Unendlichkeit gerichtet.
Trauermusik an Wochentagen
Die Novellen bewegen sich auf der vagen Grenze von Traum und Wachen, „aber man kann weder in den einen noch in den anderen Teil der Welt eintreten”, und auf diese Weise bleiben Darvasis Gestalten immer auf dieser Grenze – als traurige Grenzgänger. Und sie hoffen und leben und lieben, denn trotz allem ist die Liebe in dieser Welt eine der stärksten treibenden Kräfte. Die Liebespaare sind „wie der April”, und sie reden nicht. Oder doch, aber „anders, als es die Welt wochentags tut” – und von irgendwoher erklingt Musik, bei Darvasi ist es Trauermusik, denn die meisten Geschichten enden traurig für die Liebenden.
Und so mancher hört hinter sich einen fernen Ruf, und ohne sich umzusehen, bleibt er stehen. Der Wind weht wohin er will, und alle Bemühungen gehen dahin, nicht zu fragen und nicht zu antworten und: „Warum wollen wir nur immer alles verstehen”. Die Wirklichkeit gerät ins Rutschen und Schlittern, ihre Verschiebung findet bei einer Scheibe Honigbrot statt, direkt am Frühstückstisch, gerade wenn die Butter auf das Brot gestrichen wird. Bei jeder Seite, die der Leser umblättert, muss er einsehen, dass die Rückseiten die Vorderseiten widerlegen, vervielfachen oder vollständig aus den Angeln heben. Keine Frage, Darvasi führt ganz sicher durch eine Atmosphäre der Unsicherheit, und was die unwiderstehliche Anziehungskraft seiner Novellen ausmacht, liegt wohl in der langsam aufdämmernden Einsicht, dass die Welt von etwas angetrieben wird, was sich verborgen hält und nur manchmal durch die Literatur, das Schreiben, das Erzählen berührt und in Schwingung versetzt werden kann. Oder wie es bei Darvasi heißt, dass „hinter den gesprochenen Worten andere sich aufdrängen . . . und ihre mysteriöse Gegenwart verrät sich in jedem Zittern des Manuskripts”.
YVONNE GEBAUER
LÁSZLÓ DARVASI: Herr Stern. Novellen. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 226 Seiten, 12 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Alles Normale kann man bei Laszlo Darvasi schlichtweg vergessen, entzückt sich der Rezensent Tilman Spreckelsen, denn von Fugen, aus denen die Welt noch geraten könnte, ist schon weit und breit keine Spur mehr. Alle Stücke seines jüngsten Novellenbandes "Herr Stern" kreisen um die Frage, wie das Böse entsteht, erklärt der Rezensent, und Darvasi liefere seinem Leser anstatt klarer Antworten lieber "mysteriöse Bilder" (wie etwa der titelgebende Herr Stern, von dem am Ende seines qualvollen Vortrags über Gott nur noch ein verkrampfter Arm übrigbleibt), die den Leser einfach nicht loslassen. Insgesamt hinterlassen Darvasis Verwirrungs- und Verwicklungskünste einen fröhlich verunsicherten und reich mit Symbolischem beschenkten Rezensenten.

© Perlentaucher Medien GmbH