16,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in 1-2 Wochen
payback
0 °P sammeln
  • Broschiertes Buch

Michail Ryklin ist die wohl prononcierteste Gestalt der neuen Philosophie in Rußland. In konstruktiv-kritischer Aneignung von französischer Gegenwartsphilosophie, Psychoanalyse und westlicher Totalitarismustheorie entwickelt er seit den späten 80er Jahren eine spezifische posttotalitäre Philosophie. Im Zentrum steht die kontrastive Analyse der »Logiken des Terrors« im Nationalsozialismus und in der Stalinzeit. Anhand von literarischen, technischen und propagandistischen Texten untersucht Ryklin die Diskurse, die so zentrale sowjetische Topoi wie den Metrobau in Moskau oder die…mehr

Produktbeschreibung
Michail Ryklin ist die wohl prononcierteste Gestalt der neuen Philosophie in Rußland. In konstruktiv-kritischer Aneignung von französischer Gegenwartsphilosophie, Psychoanalyse und westlicher Totalitarismustheorie entwickelt er seit den späten 80er Jahren eine spezifische posttotalitäre Philosophie. Im Zentrum steht die kontrastive Analyse der »Logiken des Terrors« im Nationalsozialismus und in der Stalinzeit. Anhand von literarischen, technischen und propagandistischen Texten untersucht Ryklin die Diskurse, die so zentrale sowjetische Topoi wie den Metrobau in Moskau oder die »Haussmannisierung« der kommunistischen Kapitale begleiten und den »Effekt des Jubels« (André Gide) erzeugen. Jubel ist für Ryklin »das Imaginäre in der Zeit des Terrors«, Reaktion auf die totale Ungesichertheit des individuellen Lebens. Während die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit im heutigen Rußland ein Manko darstellt, sind seine Essays ein mutiger Versuch, an das tiefste soziale Trauma derjüngeren russischen Geschichte zu rühren.

Autorenporträt
Ryklin, MichailMichail Ryklin, 1948 geboren, arbeitet am Institut für Philosopie an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. 2007 erschien der Essay Mit dem Recht des Stärkeren (es 2474), für den er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2007 ausgezeichnet wurde.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2003

Die Stunde, da wir wilder dachten
Flucht in die Metro: Michail Ryklins Studien über die sowjetische Zivilisation
Das Ende großer Epochen war immer schon die Stunde wilden Denkens. So auch im Falle der großen Sowjetunion und der „sowjetischen Welt”. Eine Formation in Agonie, fragmentiert, atomisiert. Unübersichtlichkeit als Chance für die Aufkündigung vertrauter Schemata und Sprachregelungen, Ausgangspunkt für Suchbewegungen in alle Richtungen. Für so wache Zeitgenossen wie den Moskauer Philosophen Michail Ryklin, Jahrgang 1948, war dies die große Chance des Innehaltens und Neudenkens. In den 1980er Jahren schon fertig ausgebildet, wuchs er hinein die Zeit des Umbruchs, der Verschiebung, einer buchstäblichen „Verrückung”. Die Ergebnisse dieses Versuchs, „die Zeit in Gedanken zu fassen”, liegen nun in einer Sammlung von Essays vor.
Ryklin hat wie viele seiner Generation rasch erkannt, dass sich mit soziologischen Idealtypen, politologischen Modellbildungen, historischen Analogieschlüssen die sowjetische Erfahrung nicht angemessen erfassen und verstehen ließ. Simplifikationen waren nicht nur der einst herrschenden Doktrin eigen, sondern auch ihrem Widerpart, etwa der Totalitarismusdoktrin. Beide verhielten sich oftmals komplementär: wo die eine affirmativ-apologetisch war, war die andere nur entlarvend-denunziatorisch.
Wie aber zu einer kritischen Analytik kommen, die die einfachen Oppositionen und Dichotomien hinter sich lässt? Ryklin gehört zu jenen, die die Gegenwart an sich heranlassen, denen das längst Vertraute fragwürdig wird, und die den längst bekannten Text der „Diskurse” noch einmal neu dechiffrieren: das Moskau des Stalinschen Generalplans, die Metro, die Allunionsausstellung, Gagarin, Kulturpalast, Weltraumbahnhof, kurzum: die lieux de memoire, die Chronotopen der sowjetischen Zivilisation. In der Dekonstruktion dieser Diskurse, das ist das Hauptverdienst, bekommt man etwas zu sehen, was einem Blick, der in den Dichotomien des Entweder/Oder, Freiheit/Diktatur, Plan/Markt, Öffentlichkeit/Geschlossenheit befangen bleibt, allzu leicht entgeht. Dass es in Zeiten des Terrors auch ein Glück gab; dass es das Wahre im Falschen durchaus geben kann; dass die Vorstellungen, die man sich zeitweise vom geschlossenen Universum des „Totalitarismus” gemacht hatte, ein wenig unterkomplex und allzu simpel waren.
Aber Ryklin scheint am historischen Material nur insofern interessiert, als es Stoff hergibt für dekonstruktivistische Exerzitien. Sie fungieren gleichsam als Rohmaterial für Sprachübungen. Wir erfahren nichts neues über die Ästhetik der Metro. Wir erfahren nichts Neues über die stürmische Aufwärtsmobilisation der 30er Jahre, die das Stalinregime getragen hat. Darüber erfährt man mehr, wenn man die Debatte der amerikanischen Russlandhistoriker – zwischen „Revisionisten” und „Totalitarismus-Theoretikern” – studiert (sie kommt bei Ryklin nicht vor), oder wenn man die Flut neuer russischer Quelleneditionen liest.
Ryklins Texte sind eher Versuche, wie man die russische Erfahrung im 20. Jahrhundert einer anders gearteten und weitgehend ahnungslosen wissenschaftlichen und intellektuellen Kultur – der „des Westens”, die es als derart homogene und kohärente freilich auch schon längst nicht mehr gibt –, verständlich machen kann.
Es ist bedauerlich, dass Ryklin Ansätze zu einer eigenen Interpretation nie wirklich ausführt, so dort, wo er eine Relation zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen inszeniertem Luxus und Verwahrlosung, zwischen Chaos und Plan herstellt. „Die Metro und der Metrodiskurs waren so etwas wie eine imaginäre Zuflucht vor dem herannahenden Terror, dem Krieg und anderen Kastastrophen”. Kommunismus ist dann „nichts anderes als eine solche imaginäre, totale Kompensation eines Traumas”. Doch diese Spur interessiert Ryklin nicht primär.
Sein Problem ist offenbar, wie die Erfahrung in eine Sprache übersetzt wird, die man beherrschen muss, wenn man gehört werden will. Das klingt manchmal etwas verstiegen und nach derridistischem Jargon. „Speaking Bolshevik” (Stephen Kotkin) war eine Bedingung für alle, die im nachrevolutionären Russland vorwärtskommen wollten. „Speaking Deconstructivist” ist eine der Weisen, in der man sich in der globalisierten nachsowjetischen Welt Gehör verschaffen oder sogar mitreden kann.
In der postsowjetischen Glossolalie gibt es viele Stimmen. Sie alle sind Übungen für einen Text, der noch nicht geschrieben ist: die große Erzählung von Russland im 20. Jahrhundert. Die schönste Prosa im ganzen Band steckt übrigens in dem von Michail Ryklin aufgezeichneten Lebensbericht seiner Mutter.
KARL SCHLÖGEL
MICHAIL RYKLIN: Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz. Essays, Aus dem Russischen von Dirk Uffelmann, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, 236 Seiten, 12 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Laut Felix Philipp Ingold gelangt der Moskauer Philosoph Michail Ryklin in Bezug auf die einst von Hannah Arendt angeschobene Totalitarismus-Debatte zu teilweise ganz anderen Ein- und Ansichten als hierzulande. Ryklin zufolge handelt es sich um zwei völlig verschiedene totalitäre Systeme, was sich schon an einer Vielzahl von staatlichen Maßnahmen festmachen lasse, die es nur in der Sowjetunion gegeben hätte: die Enteignung und teilweise Liquidierung der besitzenden Klasse, die Kollektivierung der Landwirtschaft, ein pseudoreligiöser und eher unpersönlicher Persönlichkeitskult, eine allgemeine und unberechenbare Repression, und ein nur gegen die eigene Bevölkerung gerichteter Terror. Ein vom Autor nur am Rande bemerkter Unterschied, dass nämlich die Russen ein ganz anderes Verhältnis zum Tod pflegen, spielt in Ingolds Augen eine zentrale Rolle. In Russland werde der gewaltsame Tod "als Norm" erfahren, in Deutschland dagegen eher als Schicksalsmacht. Hieraus erklärt sich auch für Ingold die unterschiedliche Vergangenheitsbewältigung in beiden Ländern. Ryklin zeige sich, was die Aufarbeitungsbereitschaft seiner Landsleute angeht, außerordentlich skeptisch, schreibt Ingold: die postsowjetische Persönlichkeit sei kollektivistisch geprägt und ersetze nun die alte ideologische Füllung durch eine neue konsumistische Haltung.

© Perlentaucher Medien GmbH