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Die totalitären Regime im 20. Jahrhundert haben schon in den Interpretationen der Zeitgenossen eine breite Spur hinterlassen. Die Auseinandersetzung um die zutreffende Deutung von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus dauert bis heute an. Am bekanntesten geworden sind die Konzepte des Totalitarismus und der Politischen Religionen. Der Diskussionsprozeß geht weiter. Um so willkommener ist der abschließende dritte Band des internationalen Forschungsprojekts "Totalitarismus und politische Religionen". Er fasst die bisherigen Ergebnisse der Forschung handbuchartig in sechs großen…mehr

Produktbeschreibung
Die totalitären Regime im 20. Jahrhundert haben schon in den Interpretationen der Zeitgenossen eine breite Spur hinterlassen. Die Auseinandersetzung um die zutreffende Deutung von Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus dauert bis heute an. Am bekanntesten geworden sind die Konzepte des Totalitarismus und der Politischen Religionen. Der Diskussionsprozeß geht weiter. Um so willkommener ist der abschließende dritte Band des internationalen Forschungsprojekts "Totalitarismus und politische Religionen". Er fasst die bisherigen Ergebnisse der Forschung handbuchartig in sechs großen Kapiteln zusammen: - Zur Deutung totalitärer Herrschaft 1919-1989 - Das klassische Verständnis: Tyrannis und Despotie - Die neuen Zugänge - Zu Begriff und Theorie der Politischen Religionen - Faschismus und nicht-demokratische Regime - Interpreten des Totalitarismus
Autorenporträt
Dr. phil., Dr. jur. h.c. Hans Maier, geboren 1931, seit 1962 Professor für politische Wissenschaft in München, war von 1970 bis 1986 bayerischer Kultusminister und ist seit 1999 Prof. em. für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie. Von 1976 bis 1988 war er Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Er ist u. a. Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2003

Das Anziehende und das Abstoßende
Hans Maiers umfassendes Handbuch über Totalitarismus und Politische Religionen

Hans Maier (Herausgeber): Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs. Band III: Deutungsgeschichte und Theorie. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003. 450 Seiten, 34,90 [Euro].

Seitdem Lenin und sein Nachfolger Stalin, Mussolini und Hitler ihre menschenverachtenden Diktaturen begründet hatten, beschäftigte die Frage nach dem Spezifischen dieser modernen Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts Zeitgenossen und Späterlebende, Öffentlichkeit und Wissenschaft. Geraume Zeit sind Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus, wie Hans Maier die entsprechende Tendenz der Forschung einmal umschrieben hat, ausschließlich als "politische Phänomene" begriffen worden. Diese Einschätzung hat sich - nicht zuletzt unter dem Eindruck der großen Zeitenwende der Jahre 1989/91 - inzwischen deutlich geändert.

In Aufnahme und Weiterentwicklung zeitgenössischer Urteile, welche die Diktaturen in der Sowjetunion, in Italien und in Deutschland als politische oder säkulare Religionen zu begreifen versucht haben, steht die Frage im Zentrum der wissenschaftlichen Debatte, ob beziehungsweise inwieweit der moderne Totalitarismus eine politische Religion gewesen ist: Sind die großen Despotien des zurückliegenden Jahrhunderts mithin nichts anderes als in die Politik verschlagene Religionen? Sind ihre Ideologien, Programme und Dogmen - im Sinne einer Rückkehr zur Einheit von Kult und Polis, von Religion und Herrschaft - politisch instrumentalisierte Theologien? Sind ihre alltäglich praktizierten Riten, Inszenierungen und Stile, die den "Führer" als Messias feierten, Ausdruck einer ganz besonderen, nämlich politischen Religiosität?

Der maßgebliche deutsche Repräsentant dieses die internationale Diskussion beschäftigenden Problems ist der Münchener Politik- und Religionswissenschaftler, Philosoph und Historiker Hans Maier. Seinem großen Forschungsvorhaben, das die Jahrhundertfrage nach dem Charakter der Diktaturen des vergangenen Saeculums in den zurückliegenden Jahren umfassend untersucht hat, verdanken wir einen ganz maßgeblichen Fortschritt unserer Kenntnis über die widrige Sache. Unter dem Titel "Konzepte des Diktaturvergleichs" sind Zwischenergebnisse dieses wissenschaftlichen Projekts bereits in zwei Bänden unterbreitet worden, die gleichfalls unter dem Titel "Totalitarismus und Politische Religionen" in den Jahren 1996 und 1997 vorgelegt worden sind. Jetzt wird im dritten Band, der sich bevorzugt mit der "Deutungsgeschichte und Theorie" des Untersuchungsgegenstandes auseinandersetzt, eine Gesamtbilanz gezogen. Alles in allem liegt so etwas wie ein Handbuch zum Thema "Totalitarismus und Politische Religionen" vor, das umfassend informiert. Mehr noch: Mit Sicherheit werden von diesem Werk mannigfache, den künftigen Gang der Forschung prägende Anstöße ausgehen.

Das gilt nicht zuletzt für die Betrachtungen von Hans Otto Seitschek über frühe Verwendungen des Begriffs "Politische Religion", beispielsweise bei Tommaso Campanella oder bei Christoph Martin Wieland ebenso wie für seine Auseinandersetzung mit Autoren wie Eric Voegelin und Raymond Aron, Franz Werfel und Hermann Broch, die den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts bereits sehr früh als ein religiöses Phänomen gedeutet haben. Das gilt auch für Hella Mandts gelehrte Abhandlung über die klassischen Begriffe der Tyrannis und Despotie sowie deren Anwendbarkeit auf die modernen Totalitarismen. Das gilt schließlich, um aus der Fülle der Ergebnisse nur einige Beispiele zu benennen, für Juan J. Linz' essayistischen Beitrag "Faschismus und nichtdemokratische Regime", der auf eine bemerkenswerte, der Religion innewohnende Dialektik aufmerksam macht: "Religion ist immer eine Bremse der absoluten Macht gewesen, aber wenn es an einem transnationalen Zentrum fehlt, das die heiligen Texte autoritativ bestimmt, kann sie dazu dienen, Macht und eine Gesellschaft zu legitimieren, deren Prinzipien sie intolerant gegenüber jedweder Andersheit macht."

Damit ist zugleich das Kernproblem des Gesamten berührt, das Hans Maiers Forschungen begleitet hat und seine "Einführung: Zur Deutung totalitärer Herrschaft 1919-1989" durchzieht. Denn mit der "sorgfältigen Bestimmung totalitärer Merkmale und Attribute", die unverzichtbar ist, scheint ihm die Frage nach dem "historisch Neuen" nicht zureichend beantwortet zu sein: "Führt nicht schon der Begriff der Ideologie über die Grenzen einer phänomenologischen Betrachtung weit hinaus? Was veranlaßt totalitäre Systeme von sich aus, nicht nur schrankenlose Handlungsfreiheit für sich zu beanspruchen, sondern zugleich die Logik der eigenen Rechtfertigung bis ins Absurde zu treiben?"

Auf Schritt und Tritt, so entwickelt Maier seine Deutung der Dinge, gerät der Historiker, der sich mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts befaßt, "an religiöse Phänomene. Ob es sich nun um Feste und Feiern handelt, um den überall gegenwärtigen Personenkult (und Totenkult!), um die Mystik des ,Großen Plans', um religionsähnliche Zeichen, Symbole, Embleme, aber auch um den Alltag, der mit forderndem Anspruch - in Abhebung von christlichen Traditionen - neu gestaltet wird: überall streben die totalitären Regime einer fast antiken Nähe des Kultischen und des Politischen zu, überall sind sie bestrebt, die im Christentum wurzelnden Dualismen von Individuum und Öffentlichkeit, von Gesellschaft und Staat rückgängig zu machen. Aber sie verarbeiten auch christliche Elemente, zum Teil in usurpatorischem Zugriff: So kehrt mit dem Kommunismus ein religiöser Wahrheitsanspruch in die Politik zurück; und es entfaltet sich eine Glaubensgeschichte mit sakrosankten Texten, berufenen Auslegern, strafbewehrter Sorge um die Reinheit des Glaubens. Ketzer, Dissidenten, Apostaten, Renegaten werden verfolgt und notfalls vernichtet."

Dabei ist sich der Autor selbstverständlich darüber im klaren, daß es entschiedenen Widerspruch findet, den Begriff der Religion im Zusammenhang mit dem Phänomen des Totalitarismus zu benutzen. Vor allem ein Argument der Kritik erscheint ihm besonders bedenkenswert: "ein so ehrwürdiger Begriff wie Religion", so wird immer wieder eingewendet, "eigne sich kaum als Deutungskategorie für den Bereich der Totalitarismen. Zumindest gerate er, so verwendet, in einen Bereich der Zweideutigkeiten. Wenn gar die Rechtfertigungssysteme totalitärer Regime in die Nähe von ,Religionen' gerückt würden, müsse heillose Verwirrung entstehen. Wo sei dann am Ende noch ein Unterschied zwischen Religion und Verbrechen?"

Gleichwohl hält Maier an seinem Befund fest, wonach das eine mit dem anderen aufs engste zu tun habe, wonach der moderne Totalitarismus auf jeden Fall mehr sei als nur säkularer "Glaube an die Geschichte" und auf gar keinen Fall in Begriffen wie "Religionsersatz" oder "Ersatzreligion" aufgehe. Vielmehr entdeckt er in den Tyranneien des zurückliegenden Jahrhunderts "Schrecken und Heil, unbedingte Hingabe und unbeirrbare Gefolgschaft, das Tremendum et fascinosum der Religion, ihr Credo quia absurdum, ihr sacrificium intellectus". In dieser Perspektive erscheinen ihm die "modernen Totalitarismen als freiwillig-unfreiwillige Wiedergänger archaischer Religiosität".

Denn, so lautet sein Fazit, das wohl kaum unwidersprochen bleiben wird, "Religion ist nichts Harmloses. Sie hat gewinnende und schreckliche Züge, anziehende und abstoßende Seiten." Lasse man aber gerade diese Dimension des Gesamten außer acht, so gibt der Autor abschließend zu bedenken, verstelle man sich ohne Not Zugänge zu dem "ins Entsetzliche verstiegenen" (Dolf Sternberger) Bewußtsein der Täter, "zur absurden Logik ihrer Rechtfertigungen - zu jener ,Maskerade des Bösen', von der Dietrich Bonhoeffer gesagt hat, sie habe unsere ,ethischen Begriffe durcheinandergewirbelt'. Auch die Begriffe von Recht, Politik und - nota bene - Religion!"

KLAUS HILDEBRAND

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.02.2004

Pathologische Erklärungen für die ganz großen Fragen
Totalitarismus funktioniert wie eine Ersatz-Religion – mit falscher Moral zollt das Böse der Tugend seinen Tribut
HANS MAIER (Hrsg.): Totalitarismus und Politische Religionen. Band III: Deutungsgeschichte und Theorie, Ferdinand Schoeningh Verlag 2003. 450 Seiten, 34,90 Euro
Im Jahre 1576 befahl Königin Elisabeth I. von England dem Erzbischof von Canterbury, Edmund Grindal, dem Klerus der Kirche von England zu verbieten, die Schrift zu diskutieren. Dieser jedoch weigerte sich. Die Königin stellte mit Bedauern fest, dass der Erzbischof zu populär sei, um enthauptet zu werden – und setzte ihn für das Rest seines Lebens in Haft. Während der Zeit des Absolutismus waren Kirche und Lehre Instrumente des Staates: cuis regio, eius religio. Die europäische Krise, die im Jahr 1517 ausbrach (als Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg schlug), setzt sich in Nordirland fort, ebenso später im Kampf der amerikanischen Fundamentalisten gegen ihre Mitbürger.
Düstere Überzeugungen
Dennoch hält niemand Elisabeth I. oder auch George W. Bush, den gewählten Präsidenten der USA, für totalitäre Herrscher. Die eine war eine Autokratin, der andere hat düstere moralisch-theologische Überzeugungen – aber keiner der beiden hat je versucht, die gesamte Gesellschaft umzugestalten. Die Umorganisation allen Lebens, die Aufhebung der Trennung von Privatem und Öffentlichem, von Staat und Gesellschaft, von persönlichen Überzeugungen und öffentlichen Pflichten, sind die Kennzeichen totalitärer Systeme. Hitlers Drittes Reich und Stalins Sowjetunion bleiben die extremsten Vertreter dieser Richtung. Was es so schwer macht, sie zu verstehen, ist allerdings nicht nur ihr repressiver Charakter. Schwer zu verstehen ist eher die Tatsache, dass ihre Bürger nicht vollkommen passiv waren – sie bildeten vielmehr Gemeinschaften von Gläubigen.
Die vorliegende Sammlung von Essays ist das Ergebnis der jahrelangen Forschung von Professor Hans Maier und seinen Kollegen. Sie benutzen das Konzept der „politischen Religion”, um zwischen dem modernen Totalitarismus und archaischen sowie vormodernen Tyranneien zu differenzieren. Maier selbst begreift Formen des Totalitarismus als Ersatz- oder, genauer, als unechte Religionen. Sie sind nach seiner Ansicht pathologische Antworten auf das universelle Bedürfnis des Menschen nach schlüssigen Erklärung für die historische Welt. Und sie leiden, wie Maier argumentiert, an einem fundamentalen Widerspruch: der Übernahme einer moralischen Funktion, die eigentlich bei den Kirchen läge oder doch zumindest bei jenen Bürgern, die sich ein freies und unabhängiges Urteil über geistige Fragen bilden können.
Die Autoren konzentrieren sich auf die Idee des Totalitarismus als Teil der Geschichte der politischen Theorie. Sie stellen fest, dass diese Idee im politischen Diskurs als bisweilen hoffnungsloser Versuch entstand, der Agonie der liberalen Demokratie zu begegnen. Hella Mandt erinnert uns an die klassischen Wurzeln von Despotie und Tyrannei – und an ihre Probleme bei der Umsetzung totalitärer Politik. Hans Otto Seitschek glaubt, dass Eric Voegelins Portrait der Moderne als schlecht maskierter Gnostizismus (die Welt als letzte Stufe der Wirklichkeit) einen zentralen Aspekt des Totalitarismus ausmacht. Seine Analyse steht im Widerspruch zu Hans Maiers These, dass die Bezugnahme des Totalitarismus auf alle Formen der Religion Ausdruck jenes Tributs sei, den das Böse der Tugend zollt, eine Anerkennung also der Unentbehrlichkeit der Religion.
Es ist anzunehmen, dass die Idee des Totalitarismus für sich genommen durchaus eine wichtige politische Funktion hatte. Sie wurde bekannt nach der Niederlage des Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus, sie diente gleichermaßen zur Erklärung und Verurteilung des Sowjet-Kommunismus und seiner stalinistischen (und maoistischen) Formen. Die Leistung der Studie von Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski, „Totalitäre Demokratie und Autokratie” aus dem Jahre 1956, wird in dem Buch respektvoll erwähnt. Sie enthielt die Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen der US-Regierungen, die sich im Kalten Krieg gegen den Ostblock befanden. Als diese Studie veröffentlicht wurde, ereigneten sich jedoch gerade der Aufstand von 1953 in der DDR, die Niederlage der polnischen Stalinisten und ihre Ersetzung durch Gomulkas Partnerschaft mit der katholischen Kirche, der Aufstand in Ungarn, Chruschtschows „Persönlichkeitskult”-Rede und die Öffnung des Gulags sowie die Entscheidung der italienischen Kommunisten für die parlamentarische Demokratie.
Erstaunlicherweise bewirkten diese Ereignisse aber nicht, dass die Manager des Kalten Krieges umzudenken begannen. Statt dessen hielten sie daran fest, dass die Ideologen, von denen sie ihre Vorstellungen vom Totalitarismus übernommen hatten, Recht hatten: Kommunismus, dachten sie, kann sich niemals ändern. Es ist sehr schade, dass die Autoren rund um Maier nicht über die kritische Studie „Totalitarismus; die interne Geschichte des Kalten Krieges” des amerikanischen Historikers Abbott Gleason aus dem Jahre 1997 nachgedacht haben. Sie hätten sich allerdings genauso gut selbst fragen können, ob George Orwell, der in dem Text nur verschämt erwähnt wird, mit 1984 nicht die UdSSR, sondern vielleicht das Schicksal der industriellen Demokratien porträtiert hat. Und schließlich vermissen wir die Zeugenaussagen von denen, die – jung oder alt – in der UdSSR, dem Sowjetblock oder dem kommunistischen China lebten: Sie werden sich kaum still verhalten haben. Interessanterweise zeigt der einzige empirische Beitrag in der Sammlung – die Analyse der verschiedenen Arten des Faschismus von Juan Linz –, wie schematisch, ja fast mystisch die Vorstellungen vom Totalitarismus geworden sind. Linz versucht nachzuweisen, dass die Instabilität und Verwundbarkeit der Regime italienischer Faschisten und spanischer Falangisten die Grenzen staatlicher Macht deutlich machten.
Inzwischen ist eine große Menge Wissen akkumuliert worden sowohl über den Nationalsozialismus wie auch über Stalinismus: Wenn mehr davon Eingang in das Buch gefunden hätte, dann wäre das Beharren der Autoren auf der Parallele zwischen totalitaristischer Ideologie und Religion noch besser untermauert worden. Der Konflikt zwischen sozialem Zwang und psychokulturellen Strukturen ist es, was schließlich das Leben zur Hölle gemacht haben muss für jene, die dachten, sie würden den Himmel auf Erden verwirklichen. Die Totalitaristen waren da keine Ausnahme.
Wir sollten uns nun selbst fragen, ob unsere Beschäftigung mit dem europäischen Totalitarismus womöglich von Nutzen ist – nun, da die USA absichtlich und Europa unfreiwillig in einen Krieg mit der islamischen Welt treiben. Die Theoretiker des Totalitarismus waren sich in einem zentralen Punkt niemals einig: Waren die Doktrinen der Bewegungen, die sie studierten, Spiegelungen bestehender kultureller und historischer Strukturen – oder aber gigantische Anstrengungen, um einer widerspenstigen Welt eine neue Eschatologie aufzuzwingen?
Die Medien in den Vereinigten Staaten und die Buchhandlungen sind voll von Analysen des Islam als Spielart des Totalitarismus. Nahezu alle beteiligten Autoren haben keine Ahnung vom Arabischen, von der Geschichte des Islam, des Mittleren Ostens und der imperialistischen Politik der westlichen Staaten. Sie sind die geistigen Enkel derer, die dem Totalitarismus als einer politischen Religion entgegentraten. Sie sind geistig und moralisch unrechtmäßige Erben, die Gedanken durch Schlagwörter ersetzt haben. Und sie haben durchaus auch ihre Brüder in Europa.
Die Texte von Hans Maier und seinen Kollegen entstammen der politischen und wissenschaftlichen Sichtweise einer Generation, die bereits Vergangenheit ist. In unserer Kultur mit ihrem erstaunlichen (fast Orwellschen) Verlust an Erinnerung ist dies eine beachtenswerte Tugend. Der Anhang mit den totalitären Denkern sowie der bibliographische Apparat sind von großem Nutzen für jene, welche die Voreingenommenheit der jüngeren Vergangenheit verstehen wollen. Zeitgemäß an diesem Buch ist, dass es den Kampf mit der Komplexität der Materie nicht scheut – und sich ebenso
wenig scheut anzuerkennen, dass unser Verständnis der Welt viele Mängel hat. Dafür stehen wir in der Schuld der Autoren.
NORMAN BIRNBAUM
Der Rezensent ist Emeritus an der Georgetown Universität in den USA.
Übersetzung: Andreas Bock
„Die Bürger waren nicht vollkommen passiv – sie bildeten vielmehr Gemeinschaften von Gläubigen” – die Hitlerjugend auf dem Reichsparteitag 1938.
Foto: Scherl
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Was die politischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts verbindet, so die seit längerem vorgetragene These Hans Maiers, ist ihr Charakter als Politische Religionen. Nicht einfach Religionsersatz, sondern Religion im strengen Sinne. Die Absicht von Maiers Studien und nun auch die der in diesem Band versammelten Beiträge anderer Autoren ist der Ausweis der Eigenschaften, die den Vergleich des Totalitarismus mit Religionen und ihren Dogmen sowie Rechtfertigungsargumenten aufdrängen. Höchst aufschlussreich in dieser Hinsicht findet Rezensent Klaus Hildebrand einen Aufsatz von Hans Otto Seitschek über die Verwendung des Begriffs "Politische Religion" seit der Renaissance, sowie Hella Mandts Abhandlung über die Begriffe "Tyrannis" und "Despotie". Die grundsätzliche These wird, so Hildebrand, "nicht unwidersprochen" bleiben können - nicht zuletzt, weil sie die Religion im Umkehrschluss in die Nähe des Verbrechensregimes rückt. Die von Maier und den Autoren des Bandes angeführten Argumente jedoch vermögen den Rezensenten durchaus zu überzeugen: Die Forschung wird von diesem Band "prägende Anstöße" erhalten, meint er.

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