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Fließende Metamorphosen: Von der biographischen Skizze zum knalligen Kriminalroman.
Es war in den 70er Jahren ein richtiges Kultbuch gewesen, Peter Rühmkorfs Autobiografie "Die Jahre, die ihr kennt", eine Revue aus rasant aneinandergesetzten Erinnerungspartikeln, die gegen Ende folgerichtig in Tagebuchaufzeichnungen ausliefen. Der Verfasser hat das Diarium dann konsequent weitergeführt, in bewährter Unverschämtheit und mit gespitztem Rotstift. Was zunächst als Journal intime gedacht war, eröffnet sich jetzt als eine private Lebensbilanz und zugleich ein gesellschaftskritischer Exkurs, in…mehr

Produktbeschreibung
Fließende Metamorphosen: Von der biographischen Skizze zum knalligen Kriminalroman.
Es war in den 70er Jahren ein richtiges Kultbuch gewesen, Peter Rühmkorfs Autobiografie "Die Jahre, die ihr kennt", eine Revue aus rasant aneinandergesetzten Erinnerungspartikeln, die gegen Ende folgerichtig in Tagebuchaufzeichnungen ausliefen. Der Verfasser hat das Diarium dann konsequent weitergeführt, in bewährter Unverschämtheit und mit gespitztem Rotstift. Was zunächst als Journal intime gedacht war, eröffnet sich jetzt als eine private Lebensbilanz und zugleich ein gesellschaftskritischer Exkurs, in dem sich die Stimmungen, Nervositäten und unheiligen Heilsvorstellungen einer bewegten Revolutionsepoche wie in einem Narrenspiegel aufgefangen sehen.
Auch der sogenannte "Mythos RAF" schien dem "Zeitmitschreiber" nicht viel mehr als ein klassen- und generationsübergreifendes Paranoiasystem. Lustig und brenzlig dabei sind die Verwicklungen der eigenen Person und des Freundes und Alter Ego Erich, die sich auf erotische Abenteuer einlassen, welche unversehens in politische Unverträglichkeiten übergleiten. Fließend sind die Metamorphosen von der biographischen Skizze zu einer Art von knalligem Kriminalroman. Unter dem Vorlauftitel "Der Dandy und die Partisanin" zieht sich ein novellistischer Faden durch das Buch. Wohin und worauf zu? "Fortsetzung folgt" heißt das letzte Wort des Abreißkalenders. Und da kann man nur bangen und hoffen.
Autorenporträt
Rühmkorf, Peterwurde am 25.10.1929 in Dortmund geboren. Er studierte von 1951-58 Germanistik und Psychologie in Hamburg und schrieb ab 1953 schrieb unter Pseudonym für den «studentenkurier» (später «konkret») die Kolumne «Lyrikschlachthof». 1958-63 Verlagslektor, 1964/65 Stipendiat der Villa Massimo in Rom. 1969/70 Gastvorlesungen in den USA, 1985/86 Gastdozent an der Universität Paderborn. Freier Schriftsteller. 1979 Erich-Kästner-Preis, 1980 Bremer Literaturpreis, 1986 Arno Schmidt-Preis, 1987 documenta-Schreiber Kassel. Rühmkorf war korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste der DDR und erhielt 1988 den Heinrich-Heine-Preis (DDR). Ehrendoktor der Universität Gießen 1989. Georg-Büchner-Preis 1993. Sein erster Gedichtband "Irdisches Vergnügen in g" lässt bereits die Virtuosität seiner Wortkunst erkennen: er parodiert, persifliert vorgegebene Gedichtformen, kombiniert sogenannte Hochsprache mit Slang und saloppem Umgangsdeutsch, reißt Wörter aus dem gewöhnlichen Kontext u

nd stellt sie in neue Zusammenhänge. Das Raffinement von Rühmkorfs Verssprache ist von keinem seiner Zeitgenossen bisher erreicht. Was die Publikationsform seiner Werke angeht, bevorzugt Rühmkorf eine Mischform: Seinen Gedichtbänden gibt er Essays bei, die fast immer das Handwerk des Dichters reflektieren. "Walther von der Vogelweide","Klopstock und ich" sowie sowie "Strömungslehre I" enthalten wechselseitig sich spiegelnde Gespräche, Briefe, Aufsätze über Dichtkunst, zumal über die Modalitäten der zeitgenössischen Schriftstellerexistenz, dazu eigene Gedichte und im ersten Band auch Gedichte Walthers von der Vogelweide in der Übertragung von Rühmkorf. - "Die Jahre die Ihr kennt" kombiniert autobiographische Reminiszenzen des Autors mit eigenen Rezensionen, politischen Pamphleten und eigenen Gedichten. Seit 1999 erscheint eine Ausgabe seiner Werke. Peter Rühmkorf verstarb am 8. Juni 2008.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2004

Der Schneckenforscher
Vaterloser Geselle: Peter Rühmkorf in seinen Tagebüchern

Schlechte Zeiten, Genosse. Der Buchmarkt ist im Umbruch, der Autor muß sehen, wie er seine Kosten hereinbekommt. Immerhin zahlt das Kulturfernsehen noch, wenn es ihn zu den "neuen Buchvertriebsmethoden" befragt. "Die großen Discounter, modernen Buchantiquariate, Massenversandhäuser, Katalogfirmen, Palettenabsatz en gros pp, wo die Highlights von gestern zu Massen-Mini-Preisen verschleudert werden u. der Edelliteratur nun noch einmal die Tour vermasseln." Kann darüber aber nicht wirklich klagen, "weil auch ich mich als Käufer mich bei diesen Quellen betanke". Der Schriftsteller steckt mit drin, ist repräsentativ nur noch insofern, als er am eigenen Leib die Proletarisierung des Mittelstandes studieren kann. Dem "blaugrau gewürfelten und schmalkrägigen Schlußverkaufshemd von Mey & Edlich", so "schneidig" es daherkommt, sieht wenigstens der Schicksalsgenosse und Geistesbruder den Preisabschlag an. Glücklich dagegen, wer in den "Hackeschen Höfen" wohnt und vor den "schön zu Augen gehenden Art-Deco-Fassaden bis in den dritten Hinterhof rechts hinten" die "neue Freundin in wagemutig geschlitztem Seidenkleid" spazierenführen kann.

Kassensturz auch im Politischen. Rapider Wertverfall der alten Ideale unter dem Druck globaler Bedrohungen. "Blutige Geistesverwirrungen allenthalben u. weltweit gespannte Verschwörer-Netzwerke." Selbst der Urlinke schließt in dieser Lage, "daß solches martialische Gespenstertreiben nur durch internationale Polizeigewalt eingedämmt werden kann". Der Haken ist allerdings, "daß die USA sich sofort an die Spitze solcher Operationen setzen würden u. den gerechten Zorn der zivilisierten Menschheit selbstsüchtig im Sinne eigener Hegemonialabsichten mißnutzen". Finstere Aussichten "für eine erträgliche Zivilgesellschaft". Sicherheit gibt es nicht mehr, wenn dem Chronisten selbst in der Klause eines befreundeten Dichters "ein Aupairgirl von unwiderstehlichem Hautgout und in einem aufreizend eingelaufenen Pullover" entgegentritt, "der hübschen schnirkelschneckenförmigen Nabel und einen etwa fahrradschlauchbreiten Hüftstreifen freigab". Da steht der empfindsame Zeitgenosse am Scheideweg: Bleib erschütterbar - oder widersteh. Die Historisierung des Phänomens mag die Wahrung der intellektuellen Distanz erlauben, schiebt aber die Entscheidung nur hinaus. "Seit einigen zwei-drei Jahren bereits à la mode, aber für meine Generation immer noch an eine borderline rührend, wo das Spiel mit der Selbstentblößung etwas Kritisches kriegt."

Einige zwei bis drei Jahre: Das sollte doch einen Anhalt zur Datierung dieses Textkonvoluts geben. Nichts ist zuerst so gegenwärtig und dann so vergangen, nichts ist so historisch wie die Mode. Als "TABU I" veröffentlichte Peter Rühmkorf 1995 seine Tagebücher der Wendejahre 1989 bis 1991. Läßt er nun mit "TABU II" die Jahrtausendwendezeit folgen? Nein, er tritt den Rückzug an, und siehe da: alles schon einmal dagewesen, die wachsende Angst vor dem Terror und seiner Bekämpfung, die schrumpfenden Gewinnmargen und Pullover. Kaum mehr als ein Jahr umfaßt der zweite Band, die Zeit von April 1971 bis Juni 1972.

Im April 1972 erschien das Buch, dessen Titel sprichwörtlich werden sollte, aber damals durchaus ironisch gemeint war, weil es die Linke, die der Wohlstand auf den Geschmack an der Gesellschaftsveränderung gebracht hatte, an eine Vergangenheit erinnerte, von der sie nichts mehr wissen wollte: an den Nachkrieg als Epoche nackter Armut und Augenblick unerhörter Freiheit. Wäre verstanden worden, was es bedeutete, daß alles neu gemacht werden mußte, hätte sich der Traum von der Revolution erübrigt. "Die Jahre, die Ihr kennt": Auf den zweiten Blick fragt man sich, ob nicht auch dieses Memoirenbuch eines vom Pensionsalter weit entfernten Autors, in dem Bosheiten über Freund und Feind sich abwechseln mit Prachtstücken aus dem ewigen Vorrat deutscher Fäkalpoesie, ein frühreifes Kind unserer Zeit sein könnte.

Rühmkorf, der Barde und Blattmacher, der die Volksdichtung sammelte, mit Jazzmusikern vor das Hamburger Rathaus trat, um gegen die heraufziehende Große Koalition zu protestieren, und Klaus Rainer Röhl empfahl, beim Titelblattlayout von "konkret" nicht länger jenseits des Lustprinzips zu agieren, war eine Art Pop-Titan, dem zu seinem Bedauern das Talent der Selbstvermarktung abging. Auch dieses Hadern mit der Warenunförmigkeit der eigenen Produktion gehört indes zu jenem Freimut, den sich nur der Popstar leisten kann. Die hunderteinundsechzig abgezählten Abschnitte der "Jahre" sind Bruchstücke eines großen Bekennerschreibens. "Wenn ich mal richtig ich sag . . .", das "Bilder-Lesebuch" zum fünfundsiebzigsten Geburtstag am 25. Oktober, ist sozusagen die Kaffeetischausgabe von Rühmkorfs Soloalbum. Hier wird das in den Annalen ausgebreitete Material nun faksimiliert, angefangen mit den alliierten Flugblättern, die schon den Schüler zum Archivar seiner Sehnsüchte und Ängste machten.

Der Tagebuchschreiber nimmt naturgemäß erst recht kein Blatt vor den Mund. Schlimmstenfalls in die Hand, wie es ihm einmal auf kulturdiplomatischer Mission in London widerfuhr: "Auf der nicht verriegelbaren Goethetoilette dann von einer dieser BH-losen Hoheitsträgerinnen überrascht, und hob abwehrend verschreckt die Hand mit dem gerade benutzten Papier wie die blitzabwehrende Brunnenfigur auf der Piazza Navona (nachschlagen, wer, was, von wem, wogegen?): besetzt!" Das Nachschlagen ist dann unterblieben oder hat sich jedenfalls nicht in einer Retusche des Textes niedergeschlagen. Seht her: Er kann sich diese Blöße erlauben. Der Bildungsreflex des blitzgescheiten Verfassers ist auch so eindrucksvoll genug.

Den Erdenrest zu tragen ist Rühmkorf nicht peinlich, weil er nie auf die Komplettvergeistigung der Schöpfung spekuliert hat. Aber wo dem Schüler in den letzten Kriegstagen die alltägliche Drecksarbeit des Überlebens einen Begriff der Wirklichkeit in einer Welt der Lügen vermittelte, da markiert der in die Freiheit der Triebbefriedigung entlassene Leib die Grenze der Vergesellschaftung und damit auch des linken Projekts der Herstellung gleicher und vernünftiger Verhältnisse. Die "allerintimste Selbsteröffnung" des Freundes Erich, der als Alter ego ("er-ich") des Verfassers fungiert, soll zeigen, daß "die wirklichen Leidensgründe allemal leiblich-körperliche" seien.

Wenn wir die Jahre von "TABU II" zu kennen meinen, auch wenn wir sie nicht erlebt haben, so bestätigt das zwar die Geltung von Marktgesetzen, nach denen anscheinend zu jeder Zeit das schlechtere Buch das bessere verdrängt. Aber das Totemtier des stillgestellten Fortschritts ist die Schnirkelschnecke auf dem Bauch der jungen Damen. In der Ökonomie der erotischen Provokation sind alle Marktlücken längst geschlossen. Ewig irritiert das Fleisch, weil es gleichgültig ist gegen den Prozeß der Zivilisation: Es ist das am Menschen, was auf alle Fälle ungebildet bleibt. Ein Leitfaden des Tagebuchs ist eine Komödie oder besser gesagt ein Schwank über den pädagogischen Eros: die Beziehung zu der Kapitänstochter und Gymnasiastin Aleke, erwachsend aus einer Situation der von vornherein von allen Parteien einschließlich des alten Seebären als potemkinsch durchschauten Nachhilfe.

Das Kritische des Spiels mit der Selbstentblößung hatte auch der Verfasser der "Jahre" zu bedenken. Diese "Privatgeschichtsschreibung" scheint ohne Preisgabe von Intimitäten auskommen zu wollen und hält dem linken Glauben noch die Treue, eine gerechte Gesellschaft werde aus öffentlichen Personen bestehen. Als "gesellschaftliches Wesen bis in tiefste Tiefen des Subjekts" weist den Autor seine Krankenakte aus: Auf einem Studentenkongreß in Prag entzündeten sich seine Mandeln im Namen der internationalen Solidarität. Es gehe darum, "Persönlichkeitsverschiebungen und Charakterumschläge als Gesellschaftsprodukt zu betrachten": Dieses Warnschild plazieren die "Jahre" vor der dort erzählten Geschichte, wie Ulrike Meinhof, Rühmkorfs Kollegin bei "konkret", sich durch das Scheitern ihrer Ehe in eine absolute Isolation treiben ließ, aus der nur Gewalt einen Ausweg zu weisen schien. Aber das Schicksal des Auseinanderbrechens einer Ehe unter dem Druck eines alle Verhältnisse regierenden "Liberalismus" ist ein gesellschaftliches nur im Sinne der Statistik. Alle unglücklichen Familien sind auf ihre eigene Weise unglücklich, und die Gründe lassen sich nicht hochrechnen.

Dieser Schluß wird im Tagebuch gezogen: Die Privatquelle korrigiert die Privathistorie durch die These, hinter der "Märtyrergeilheit" des politischen Fanatismus stünden "immer ungelöste und bis auf einen tiefsten Daseinsgrund vergiftete Familienbeziehungen". Man hat die Vermutung geäußert, Rühmkorf selbst glaube an diese Deutung nicht, die Psychologie sei hier nur Abwehrzauber - ein bizarres Fehlurteil, wie es nur ein Dogmatiker aus der Schule Hegels fällen kann. Jeder Gedankenstrich und jedes Auslassungszeichen in diesen Aufzeichnungen verweist auf die Erfahrung der Unzulänglichkeit der Dialektik: Das Versprechen der Erlösung durch Vermittlung ist trügerisch. Private und öffentliche Existenz lassen sich nicht harmonisieren - daher das urkomische und anrührende Nebeneinander von Eheleben und Ehebruch, aber auch die keiner Lösung zuzuführende Frage nach der dem eigenen Genius angemessenen Form des Schreibens. Das Gift in den Familienbeziehungen des Autors ist die uneheliche Geburt, die ihn den Gedanken fassen läßt, "daß ich tief unbewußt unsere nicht ganz regelrecht ausbalancierten Lebensverhältnisse reproduziere, in denen an Vaters Stelle nur ein mysterienumwobenes Loch klafft".

Für die vaterlose Gesellschaft als schönes Ideal steht in Rühmkorfs Vokabular der Begriff des Genossenschaftlichen, der in den Notizen von 1971/72 fast nur noch in ironisch-melancholischer Färbung vorkommt. Als am 15. Juni 1972 Ulrike Meinhof schließlich festgenommen wird, erzählt ihr Körper ihrem Freund ihre Geschichte: "erbarmungswürdig abgemagert u. zugleich aufgeschwemmt, ein verspätetes Heimkind", selbst "tragisches Opfer" des "fatalen Identifikations-gleich-Genossenschaftszaubers", der eine ganze Generation ergreift. Nicht zu verachten, die Psychologie, wenn sie gegen solchen Zauber zur Abwehr taugt. Was bleibt, wenn der Mensch sich als Naturerscheinung auf den Grund geht, wie es die "Jahre" postulierten, wenn er dann im Tagebuch die Geliebte und deren Hund als "die beiden ungleichen Viecher" beschreibt und sich selbst aus Freundesmund als "ein Tier" charakterisiert hört? "Schöne Zeiten, als ich noch mit den Wolken u. den Gestirnen genossenschaftlichen Umgang pflegte" - keine schlechten aber auch, als er es mit den Schnecken hielt und eine unverkennbare Spur auf dem Papier hinterließ.

Peter Rühmkorf: "TABU II". Tagebücher 1971 - 1972. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 399 S., geb., 22,90 [Euro].

Peter Rühmkorf: "Wenn ich mal richtig ich sag . . ." Ein Bilder-Lesebuch. Steidl Verlag, Göttingen 2004. 156 S., Abb., geb., 29,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2004

Der Igel auf dem Balkon über der Elbe
Peter Rühmkorf, der Hansdampf auf allen Versfüßen und scheinbar heitere Vagant, sichtet die Jahre, die keiner mehr kennt, und wird zum traurig-treuen Archivar einer Gemeinschaft, die am Terrorismus zerbrach: In „Tabu II. Tagebücher 1971-1972” vervollkommnet er die literarische Kunst, Augenblicke der Zeitgeschichte zu beatmen
Es war in einer Sommernacht des Jahres 1971, als dem Dichter Peter Rühmkorf träumte, er sei zu Besuch bei seinem Kollegen Martin Walser. In dessen Haus ging es wunderlich zu, denn alle Möbel waren mit Rollen versehen - Tische, Stühle, Sessel, das alles ließ sich mit leichter Hand über viele Meter bewegen. Und Peter Rühmkorf, der Gast, lag auf einem Sofa, das eine Bein herunterhängend, und stieß sich mit dem Fuß von einem Zimmer ins nächste. Bis er an eine Vase geriet. Diese fiel um, das Wasser ergoss sich über das Parkett, und mittendrin schwammen die Blumen. Aber das mache doch nichts, beruhigte Martin Walsers plötzlich anwesende Mutter den peinlich berührten Sofafahrer, der Schaden sei doch so gering.
Solche Träume schreibt Peter Rühmkorf auf, und dann denkt er darüber nach. Zu diesem Traum fällt ihm ein, dass sich Martin Walser zu jener Zeit der DKP angenähert habe: „nach meiner Einschätzung reichlich mobiler Charakter”. Das ist eine schlichte und nicht ganz stimmige Deutung, aber sie wirft ein Licht auf den Deuter. Denn tatsächlich ist Peter Rühmkorf, dieser flinke Geist, dieser Hansdampf auf allen Versfüßen, dieser scheinbar stets heitere Vagant, der letzte Bewohner der klassisch deutschen Dichterstube unter dem spitzen Dach. Peter Rühmkorf ist ein Muster an Sesshaftigkeit, er ist der Igel, der jedem flinken Hasen, ganz gleich, ob dieser nun Martin Walser oder Fritz. J. Raddatz heißt, sein fröhliches „Ick bin all hier” entgegenruft - der Weltenschreiber mit Sitz in Oevelgönne, auf dem Balkon, mit Blick über die Elbe.
Als vor neun Jahren das „Tabu I” erschien, ein gewaltiges Konvolut von Skizzen und tagebuchartigen Notizen, galt die ebenso poetische wie autobiographische Anstrengung den zweieinhalb Jahren vom Fall der Mauer bis zum Ende des ersten Golfkriegs, einer Periode also, von der man damals denken konnte, es habe sich darin das Schicksal der deutschen Nation entschieden. Dass dem nicht so wurde und dass die Bedeutung der jeweiligen Geschichte nicht über die literarische Qualität des Werkes entscheiden konnte - diese Möglichkeit hatte sich Peter Rühmkorf schon damals offengehalten, indem er schrieb, was von einer Zeit bleibe, seien nicht „die pflastersteindicken Fakten, sondern die Anwendungen von Augenblicken: beatmete Momente”. Tatsächlich war dieses Buch eine große Sammlung von solchen beatmeten Augenblicke der deutschen Zeitgeschichte, schnell, scharfsinnig, auf der Höhe des Küchentisches mit poetischer Kraft erzählt.
Auch in „Tabu II” finden sich solche Momente, viele sogar - und doch hat das jüngste, ältere Buch ein ganz anderes Thema. Nach der Lektüre weiß der Leser, dass es eine Periode im Leben von Peter Rühmkorf gab, die für ihn von prägenderer Kraft war als die Zeit der Wiedervereinigung Deutschlands: die Jahre 1971 und 1972. Damals muss sich das Schicksal dieses Autors entschieden haben, und zwar in einer Weise, die man fatal zu nennen nicht umhin kann. „Tabu II” ist ein Buch von tiefer Trauer, ja Verzweiflung, und je mehr der Leser das versteht, desto heftiger schmerzt ihn der heitere Ton, die Lust an der Pointe, das handwerkliche Virtuosentum, all die literarischen Künste, die Peter Rühmkorf nach wie vor beherrscht.
Das Tagebuch beginnt im April 1971. Der Sperrmüll des täglichen Lebens liegt vor dem Autobiographen ausgebreitet, Taxiquittungen, Einladungen, Absagen, aus denen sich keine Biographie zu ergeben scheint. Die politischen Ereignisse, die Ostverträge, Jochen Steffen, der Vorsitzende der schleswig-holsteinischen SPD, ein Umsturz in San Salvador - das alles bleibt im Hintergrund, während sich im Vordergrund eine Sozialgeschichte in privaten Verhältnissen entfaltet. Klaus-Rainer Röhl, der Verleger von konkret, dem „Mezzoporno”, gehört zum Kreis der Vertrauten, durch den sich Rühmkorf in diesem Jahr bewegt wie ein habitueller Spaziergänger, der immer wieder dieselben Wege geht. Zu Erich etwa, dem älteren Freund, zu Lilja, der ehemaligen Rowohlt-Kollegin, nach St. Pauli. Eva, die Gattin und Gefängnisdirektorin, die halbwüchsige Aleke, die Liebhaberin, die Handwerker im Landhaus gehören auch dazu. Viel mehr als „Tabu I” ist dieses Werk das Porträt einer Gruppe - einer Gruppe, die dem Dichter alles gewesen zu sein scheint, in der sich die weltanschaulichen, beruflichen, erotischen, alkoholischen Fäden verknüpften. Und die Skatrunde.
Der innere Kreis dieser Gemeinschaft ist in Hamburg zu Hause. An der Peripherie gehören auch Rudolf Augstein oder ein paar Redakteure von Spiegel, Zeit oder WDR dazu. Die Gruppe ist ein weitgespanntes Netz, in Iowa City sitzt Nicolas Born, in London Erich Fried, in Dortmund Ursula Krechel, in Berlin leben Klaus Wagenbach und Hans Christoph Buch. Diese kleine, aber publizistisch äußerst präsente Welt, damals gern auch „kritische Öffentlichkeit” genannt, besaß, darin den sezessionistischen Bewegungen der klassischen Moderne nicht unähnlich, ein konspiratives Bewusstsein. Man attackiert die Kontinuität zwischen „Drittem Reich” und Bundesrepublik, man wusste den Feind im scheinbar mächtigeren Lager, in der Welt, oder angeführt von Rainer Barzel, aber Franz Josef Strauß zählte schon nicht mehr.
„Tabu II” erzählt von der damals offenbar sich fast unbemerkt vollziehenden Auflösung dieser Gruppe: Für Peter Rühmkorf ist dieses langsame Ende einer Katastrophe gleichgekommen - und das, obwohl ihm selbst jeder moralische Fanatismus fremd gewesen sein muss. Die erweiterte Lebensgemeinschaft zerbrach am Terrorismus, und deshalb hat das „Tabu II” eine Hauptfigur, die nicht der Autobiograph selbst ist und nur sporadisch auftaucht: Ulrike Meinhof, die in den Untergrund gegangene ehemalige Chefredakteurin der Zeitschrift „konkret”, die geschiedene Frau des Verlegers Klaus-Rainer Röhl. Sie hatte an der Befreiung Andreas Baaders mitgewirkt, Pässe geraubt und an Banküberfällen teilgenommen - und Peter Rühmkorf steht fassungslos vor dieser Laufbahn und anderen Karrieren, an denen nichts Liebes, Kluges und Nettes mehr sein kann: „Wie ich mich seinerzeit in die Gesellschaft altlieber Freunde gesehnt hatte und dann plötzlich in einen Kreis von kaum noch kenntlichen Umspringfiguren geriet.”
Und wieder, wie bei der Deutung seines Traums, greift er, um diesen Wandel zu erklären, zu simplen Mitteln: „Allerletzten Endes stehen auch hier - siehe Ulrike Meinhof und ihre Beziehungen zu KRR - immer ungelöste und bis auf einen tiefsten Daseinsgrund vergiftete Familienbeziehungen dahinter.” Unwahrscheinlich, dass er selbst an eine solche Deutung glaubt, wahrscheinlich, dass die Psychologie hier nur Abwehrzauber ist. Denn die konspirative Gemeinschaft des anderen, besseren Deutschland war kein esoterischer Club, sondern erstreckte sich weit bis in den intellektuellen Mittelstand hinein. Ulrike Meinhof gehörte zu dieser Mitte, ja zu deren Heldinnen - und als sie zum bewaffneten Kampf überging, verlor diese große Gemeinschaft ihr Gravitationszentrum. An der Frage der Gewalt wurde der lebendigste Teil dieser Gemeinschaft zu einer militanten Sekte - der Rest war Agonie.
Eine solche Gruppe gibt es nicht mehr, und Peter Rühmkorf scheint einer der ersten gewesen zu sein, die das gemerkt haben - und sei es am plötzlichen Emporkommen von Botho Strauß und Peter Stein mitsamt „Feinkostbühne”. Aber die Zeitungen, die in „Tabu II” vorkommen, die Parteien, den Bauernverband und die Kultusministerkonferenz, sogar die Zeitschrift konkret gibt es nach wie vor. Aber würde sich Rühmkorf noch, so mir nichts, dir nichts, auf Martin Walsers Sofa träumen?
In diesem Buch, das nur das Jahr bis zum Juni 1972 umfasst, hat Peter Rühmkorf der konspirativen Gemeinschaft ein Denkmal gesetzt, in angemessener Form, durch ein publiziertes Tagebuch. Daher die vielen Abkürzungen, daher die Initialen, aus denen der Leser viele Figuren erschließen muss. Peter Rühmkorf hat ihnen ein lebendiges, plastisches, unendlich wahres Archiv errichtet - aber hinter der Maske des Schelms verbirgt sich ein trauriger Archivar.
Peter Rühmkorf
TABU II. Tagebücher 1971-1972
Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 400 Seiten, 22,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Gabriele Killert stellt das jetzt zum 75. Geburtstag von Peter Rühmkorf erschienene Tagebuch von 1971/72 vor, dass als TABU II dem ersten Tagebuch folgt, das die Jahre 1989 bis 1991 umfasst und damit chronologisch eigentlich an zweiter Stelle steht. Die Rezensentin macht aus ihren Sympathien für den Lyriker, der seine wiederholten Schreibkrisen mit dem Verfassen der Tagebücher überbrückt, keinen Hehl. Gerade weil Rühmkorf bei allem Leiden diesen "Vagantenton desperater Heiterkeit" anstimmt", deshalb, so Killert entzückt, "haben wir ihn ja so gern". Denn zwar zieht sich wie ein roter Faden "Enttäuschung und Melancholie" durch das Tagebuch, das von seinen Misserfolgen als Dramatiker, der politischen Situation in der Bundesrepublik und von Alkohol- und Tablettenbetäubung berichtet. Doch daneben behauptet sich ein "satyrischer Komödienfaden", mit der Rühmkorf seine "artistische Selbstaufhebung" betreibt, meint die Rezensentin eingenommen. Rühmkorf ist ein "Gesamtkunstwerk", der in "bierernstbeflissenen Zeiten" seinem "Unmut" eine Stimme gibt und in seinem "beschwingten Abwinken" etwas "Kostbares" ist, preist Killert.

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