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Im Gegensatz zu seinem berühmten «Galeerentagebuch», das eine Komposition aus den jahrzehntelangen Aufzeichnungen während der inneren Emigration im sozialistischen Ungarn darstellt, handelt es sich bei den hier vorgelegten späten Tagebüchern von Imre Kertész um ein unbearbeitetes, ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit gedachtes «journal intime» von überraschender, oft verstörender Offenheit. Es umfaßt die Jahre seiner äußeren Emigration - die Loslösung von Ungarn, dessen postsozialistische Entwicklung ihn immer stärker an präfaschistische Zeiten erinnert, und die Niederlassung in der…mehr

Produktbeschreibung
Im Gegensatz zu seinem berühmten «Galeerentagebuch», das eine Komposition aus den jahrzehntelangen Aufzeichnungen während der inneren Emigration im sozialistischen Ungarn darstellt, handelt es sich bei den hier vorgelegten späten Tagebüchern von Imre Kertész um ein unbearbeitetes, ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit gedachtes «journal intime» von überraschender, oft verstörender Offenheit. Es umfaßt die Jahre seiner äußeren Emigration - die Loslösung von Ungarn, dessen postsozialistische Entwicklung ihn immer stärker an präfaschistische Zeiten erinnert, und die Niederlassung in der Wahlheimat Berlin, wo ihn 2002 die «Glückskatastrophe» des Nobelpreises ereilt.
Das damit verbundene «rare Geschenk guten Lebens» weiß er nach Jahrzehnten äußerster Einschränkung zwar durchaus zu genießen - exklusive Restaurants in Berlin, Paris und New York oder die Luxushotels von Gstaad und Madeira -, doch stärker sind die Aufzeichnungen ab jetzt von den Klagen über die «erwürgenden Anforderungen des Ruhms» und die dadurch einsetzende Selbstentfremdung grundiert, über das Nachlassen der Schaffenskraft und den «unerträglichen Terror des Alters». Ein «Trivialitäten-Tagebuch» nennt er sein Diarium schließlich.
Von der gewohnten Schärfe seiner zeitdiagnostischen und ästhetischen Reflexionen, der Prägnanz der Momentaufnahmen haben seine Tagebücher indes nichts verloren. Leitmotiv bleibt das Schreiben, das Ringen um die Gestaltung der in diesen Jahren entstehenden Prosawerke «Liquidation» und «Dossier K.» sowie des geplanten «Sonderberg»-Romans. Schreiben ist für ihn die einzige Legitimation seines Lebens. Als Krankheit und Schmerzen dominieren, macht er sich mit unerhörter Kühnheit zum gnadenlosen Chronisten des eigenen Verfalls «im Vorzimmer des Todes».
Autorenporträt
Imre Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 als 14-Jähriger nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. In seinem 'Roman eines Schicksallosen' hat er diese Erfahrung auf außergewöhnliche Weise verarbeitet. Das Buch erschien zuerst 1975 in Ungarn, wo er während der sozialistischen Ära jedoch Außenseiter blieb und vor allem von Übersetzungen lebte (u.a. Nietzsche, Hofmannsthal, Schnitzler, Freud, Joseph Roth, Wittgenstein, Canetti). Erst nach der europäischen Wende gelangte er zu weltweitem Ruhm, 2002 erhielt er den Literaturnobelpreis. Seitdem lebte Imre Kertész überwiegend in Berlin und kehrte erst 2012, schwer erkrankt, nach Budapest zurück, wo er 2016 starb. Kristin Schwamm, geboren 1953 in Altenburg, 1984-1989 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Göttingen, seit 1989 freiberufliche Übersetzerin aus dem Ungarischen (Imre Kertész).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ebenso begeistert wie bewegt hat Rezensent Hubert Spiegel die nun unter dem Titel "Letzte Einkehr" erschienenen Tagebücher des Literaturnobelpreisträgers Imre Kertesz aus den Jahren 2001 bis 2009 gelesen. Von tiefer Verzweiflung erfährt der Kritiker hier, etwa wenn er liest, wie Kertesz über den Tod sinniert oder sich als Autor bisweilen wie ein "Handlungsreisender in Sachen Holocaust" fühlt. Bewegende Einblicke erhält der Rezensent auch in zutiefst depressive Momente des Autors, dem seine Parkinson-Erkrankung immer mehr zu schaffen macht und der mit großer Sorge auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Ungarn schaut. Zugleich begleitet Spiegel den Schriftsteller aber auch bei Glücksmomenten während des Schreibens oder liest euphorische Aufzeichnungen nach Konzertabenden oder Gesprächen mit engen Freunden. In ebenso ironisch-heiterem wie bitter-verzweifeltem Ton berichte Kertesz von Trivialem genauso wie von "luziden Beobachtungen" und stelle bewegend ehrliche Selbst- und Werkanalysen neben amüsante Alltagserlebnisse, lobt der Kritiker, dem dieses wunderbare Buch wie ein "Echolot in die Abgründe" des Schriftstellers erscheint.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.03.2015

NEUE TASCHENBÜCHER
Einsichten sind
immer böse
„Bücher muss man nicht verstehen, es genügt die Inspiration, die sie uns geben, oft schon allein dadurch, daß wir sie in Händen halten und lesen.“ Imre Kertész’ Buch „Letzte Einkehr“, das er Tagebuchroman nennt, ist ein wunderbares Beispiel für seine oben zitierte Ansicht. Dieses Konvolut aus Alltagsbeobachtungen, Selbstzweifeln und Verzweiflungen, Todessehnsucht und Todesfurcht, sarkastischen Abrechnungen mit dem wahrlich ungeliebten Land Ungarn, dem Kertész keinen Kredit auf Läuterung und liberaler Entwicklung gibt, fesselt an jeder Stelle.
Auschwitz ist und bleibt Dreh- und Angelpunkt, von dem aus Kertész nicht nur die beiden Wohnorte Budapest und Berlin beurteilt, sondern die ganze Welt in der Nach-Auschwitz-Zeit befangen sieht, die ihm längst als eine Vor-Auschwitz-Zeit vorkommt. Gedankenblitze, Schlafstörungen, Altersdepression und plötzliche Lebensleichtigkeit, dazu Überlegungen zur Literatur etwa zu Stendhal, Thomas Mann oder dem wenig geschätzten Bert Brecht mischen sich mit den Eintrübungen und Bitterkeiten eines großen Autors, der den Ruhm auch als Hindernis für seine Phantasie erlebt.  HARALD EGGEBRECHT
  
Imre Kertész: Letzte Einkehr. Ein Tagebuchroman. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 350 Seiten, 10,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2013

Ich habe stets gearbeitet, als würde ich ein Attentat begehen
Ein vom Leben Unbezwungener legt Rechenschaft ab: Die Tagebücher des Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész aus den Jahren 2001 bis 2009

Am ersten Tag des neuen Jahres notiert der Tagebuchschreiber ein Ereignis, das sein gesamtes Dasein zu verändern droht: Er hat sich einen Computer gekauft, mit dem er fortan arbeiten will. Er hat Pläne und Projekte, kleinere und größere.

Am nächsten Tag, es ist der 2. Januar 2001, denkt er über den Tod nach: "Wer bei gesundem Verstand bleibt und Glück hat, stirbt so, wie das Kind gezwungenermaßen sein Spielzeug liegen lässt, wenn es am Abend ins Bett geschickt wird; sich einerseits beklagend, andererseits kaum noch in der Lage, die Augen offen zu halten." Der Hinweis, dass das Kind sein Spielzeug am nächsten Tag wiederfinden werde, helfe nur wenig, denn "das Kind glaubt so wenig an morgen wie der Sterbende".

Als der Tagebuchschreiber diese Sätze festhält, ist er 71 Jahre alt: Imre Kertész, ein Schriftsteller aus Ungarn, aber kein ungarischer Schriftsteller, ein jüdischer Schriftsteller, aber kein Jude - "denn das kann ich meiner Kultur, meinen Überzeugungen nach, leider nicht sagen". Ein Schriftsteller von Weltrang, der beklagt, dass nicht einmal seine Freunde seine Bücher gelesen hätten, ein von Antisemitismus und Missgunst aus seiner Heimat Vertriebener, der sich wenig später als "verhätschelter Luxus-Emigrant" im geliebten Berlin wiederfinden wird, ein Überlebender der Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald, der weder Repräsentant noch Märtyrer sein will, sein Leben als "Rohstoff" seiner Romane betrachtet und sich oft genug wie ein Handlungsreisender in Sachen Holocaust fühlt. Bewundert, angestaunt, umschwärmt, bedrängt, vorgeführt, ausgenutzt, unverstanden: "Mich hat noch niemals jemand verstanden. Alles, was ich geschaffen habe, habe ich nicht nur ,trotz allem', sondern auch trotz allen geschaffen. Ich habe stets gearbeitet, als würde ich ein Attentat begehen . . ."

In seinen Tagebüchern aus den Jahren 2001 bis 2009, die jetzt unter dem Titel "Letzte Einkehr" erschienen sind, ist Imre Kertész beides: das Kind, das in seiner Verzweiflung nicht an morgen glauben kann, obwohl es weiß, dass dieses Morgen kommen wird, und der Sterbende als ein dem Tod mit größter Hellsichtigkeit Entgegenlebender, der den nächsten Tag ersehnt und zugleich fürchtet, könnte er doch ein weiteres Abnehmen der eigenen Kräfte mit sich bringen. Diese oft nachtschwarzen Notizen, nicht selten in quälenden Stunden der Schlaflosigkeit entstanden, kreisen um den unerbittlich beobachteten Verfall des eigenen Körpers, um die Parkinson-Erkrankung, die die Schreibhand so zittern lässt, dass der Kauf eines Laptops unumgänglich wurde, um depressive Zustände, tiefe Verzweiflung und Todessehnsucht, um die deprimierenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Budapest, die er schließlich als Leiden an einer "lebensgefährlichen Überdosis Ungarn" empfindet. Der offene Antisemitismus, der nicht nur ihm in Ungarn entgegenschlägt, macht hochsensibel auch für die Verhältnisse in der übrigen Welt, in der Kertész das Heraufziehen eines "diskreten Faschismus" für denkbar hält.

Triviales steht neben luziden Beobachtungen, das Alltagserlebnis neben dem Aphorismus, die Selbstanalyse neben dem Klagegesang, Autoreneitelkeiten wechseln mit Vivisektionen des eigenen Werkes, die mit schärfstem Gedankenskalpell durchgeführt werden. Die Themen sind breit gestreut: Es geht um den Verlagswechsel von Rowohlt zu Suhrkamp und wieder zurück, um den Umzug von Budapest nach Berlin, um die Anschläge vom 11. September, die vor allem als Anlass für eine neue Welle des Antisemitismus betrachtet werden, um die immer häufiger werdenden Reisen, etwa nach Gstaad, Salzburg oder Madeira, die Freiheitsgenuss und Bürde zugleich sind. Nach fünf in Spanien verbrachten Tagen lautet das Fazit: "Sinnlos, anstrengend, aber schön."

Was von der schriftstellerischen Arbeit abhält, wird verflucht, mit kleinen Abstrichen, wenn es um die Musik geliebter Komponisten wie Beethoven und Bartók, Mahler und Schönberg, um Konzertabende oder um die Treffen und Gespräche mit engen Freunden geht. Die völlige Konzentration auf den Schreibvorgang spendet Glücksmomente, ruft aber auch Schuldgefühle hervor. Der Ton dieser Aufzeichnungen ist wechselhaft: mal ironisch, heiter und von souveräner Verspieltheit, dann apodiktisch, bitter und nicht selten abgrundtief verzweifelt. Urteile sind in der Regel hart, ob es um einen nicht beim Namen genannten "weiblichen Guru des Holocaust" mit dem zum Holzschnitt erstarrten Indianergesicht geht oder, fast im selben Atemzug, um Rousseau und seine Ansichten über die Natur des Menschen: "Mein Gott, Rousseau hat sich geirrt; er konnte ja nicht einmal seine eigene Natur beurteilen." In solchen Passagen atmen diese Tagebücher die Freiheit und Nonchalance des Selbstgesprächs, Einreden und Widerreden inbegriffen: "Ich bin nicht zynisch, ich spreche nur die Wahrheit aus, was so wenige tun oder zu tun wagen; für mich hingegen ist es inzwischen egal."

Doch im Kern dieser schmerzhaften Selbsterkundung geht es um anderes, Wichtigeres. Die unvorstellbare Entfremdung, die Auschwitz bedeuten musste, hat Imre Kertész zu einem Werk geführt, das seinesgleichen nicht hat. Aber nun kündigt sich die Entfremdung vom eigenen Werk an: Wie schon im 1993 erschienenen "Galeerentagebuch", das den Zeitraum der Jahre zwischen 1961 und 1991 umfasste, soll aus dem Tagebuch ein Roman hervorgehen, der weder Tagebuch noch Roman ist. Noch einmal soll ein großes Buch entstehen, "ein radikal persönliches Buch, bis schließlich nichts mehr übrig bleibt (Die letzte Einkehr). Den Weg zu Ende gehen, im wörtlichen Sinn. Die Figur zerrütten, zermalmen, vernichten. Aber möglichst ohne jede Erklärung, vor allem ohne jede sogenannte Philosophie."

Der Vorsatz ist gefasst, doch die Kräfte schwinden. Außerdem fordert der "literarische Hauptgewinn", der Nobelpreis, die große "Glückskatastrophe", seinen Tribut, der Ruhm arbeitet wie ein "Räderwerk, das mich langsam erwürgt, zerquetscht, verschlingt". Der schreibende Autor Kertész und die als erfolgreicher Autor Kertész auftretende Person sind immer weniger identisch. Ja, er schreibe über Auschwitz, sagt er am 11. Oktober 2001 zu seinem Stiefsohn Marci, "aber man hat mich nicht dazu nach Auschwitz gebracht, damit ich den Nobelpreis erhalte, sondern damit ich umgebracht werde".

Neun Tage später hält Kertész fest, was er in einem Tierfilm gesehen hat, die herzergreifende Geste eines sterbenden Vogels. Zwei Vogeljunge schlüpfen aus dem Ei, der Stärkere drängt den Schwächeren sofort aus dem Nest. Jetzt liegt das Kleine schutzlos in der Sonne, "umgeben von Gottes blutrünstigen Geschöpfen, die das sterbende Tier bereits erspäht haben und sich anschicken, es zu verschlingen. Da hebt der Vogel noch einmal den Kopf und lässt ihn dann in den Staub zurückfallen. Wäre ich Gott, hätte mich dieser Anblick sicher dazu gebracht, das totale Scheitern der Schöpfung einzugestehen."

"Letzte Einkehr" ist das Echolot, das ein großer Schriftsteller in die eigenen Abgründe gerichtet hat, groß in seiner Wahrhaftigkeit, verstörend in seiner Zerrissenheit: "Ob es mir beim Sterben hilft, dass ich nie gelebt habe?" Letzte Zeilen, von einer Knochenhand "auf das schäumende Wasser" geschrieben. Am heutigen Samstag wird Imre Kertész vierundachtzig Jahre alt.

HUBERT SPIEGEL

Imre Kertész:

"Letzte Einkehr". Tagebücher 2001-2009.

Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Rowohlt Verlag,

Reinbek 2013.

464 S., geb., 24,95 [Euro].

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Die Quintessenz eines unbestechlichen Bewusstseins. Ronald Pohl Der Standard