Produktdetails
  • Verlag: Rowohlt
  • ISBN-13: 9783498029494
  • ISBN-10: 3498029495
  • Artikelnr.: 08617316
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Sittenloses Treiben lehne ich ab
Die Mutter, die so redet, beweist verblüffende Einfalt: Judith Rich Harris vertreibt den Mut zur Erziehung / Von Michael Gassmann

Bei der Geburt geraten wir mit einem Mal in eine prächtige und erschreckende Falle. Bei der Geburt sehen wir etwas, was wir uns vorher nicht hätten träumen lassen. Vater und Mutter liegen auf der Lauer und fallen über uns her wie Räuber aus dem Gebüsch. Der Onkel ist eine Überraschung. Die Tante kommt wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Wenn wir mit der Geburt in die Familie eintreten, betreten wir eine Welt, die unberechenbar ist, eine Welt, die ihre eigenen befremdlichen Gesetze hat, eine Welt, die auch ohne uns auskommt, eine Welt, die wir nicht gemacht haben." Ob Judith Rich Harris ihren Chesterton gelesen hat, aus dessen Buch "Ketzer" diese Familienbeschreibung stammt, ist unbekannt. Wahrscheinlich hätten sich die beiden nicht sonderlich gut vertragen.

Chesterton preist die Familie, weil sie auch ohne uns auskomme; sie bestehe aus "gegebenen Menschen", die exemplarisch seien, weil sie zufällig sind. Harris will nachweisen, dass wir ohne die Familie auskommen (nur was die Erziehung betrifft, versteht sich). Chesterton verachtet Gruppenbildung, weil sie die Auseinandersetzung mit dem andersartigen Individuum verhindere: "Eine große Gesellschaft ist dazu da, Gruppen von Gleichgesinnten herauszubilden. Eine große Gesellschaft ist eine Gesellschaft zur Förderung der Beschränktheit." Harris zufolge kann die Bedeutung von Gruppen - "peer groups" - für die Erziehung gar nicht überschätzt werden. Das Wort "Individuum" verwendet sie erstmals auf Seite 423 ihres dickleibigen Werks. Natürlich reden der Katholik und die Psychologin aneinander vorbei; dennoch funkeln im Lichte dieses fiktiven Konflikts die Begriffe "Familie" und "Gruppe" besonders bunt. Wie viele ihrer Facetten hat Harris in ihrem Buch beschreiben können?

Der Autorin geht es um die Kritik der so genannten "Erziehungshypothese". Dieser These zufolge entwickeln sich im Elternhaus Verhaltensmuster, die auch außerhalb des Elternhauses das Verhalten in allen erdenklichen Situationen bestimmen. Harris tritt dieser Hypothese mit einer ungeheuren Fülle von Versuchsanordnungen entgegen und zieht aus diesen den Schluss, dass die Familie keineswegs das hauptsächlich prägende Umfeld bildet, sondern dass es die Gleichaltrigengruppen sind, in denen Kinder sozialisiert werden.

Harris wendet sich energisch gegen die Vorstellung, man schleppe Erlerntes wie einen Rucksack mit sich herum; vielmehr werde Verhalten in jedem sozialen Kontext neu erlernt. Damit distanziert sie sich von Freudianern und Behavioristen gleichermaßen. Sie kritisiert die Unterschätzung des genetischen Einflusses in den meisten Untersuchungen zum Verhalten von Kindern und verweist auf die Evolutionsgeschichte, die zeige, dass die Institution der Familie - anders als die der sozialen Gruppe - eine lächerlich junge Erfindung ist. Scharf geißelt Harris die fragwürdigen Methoden der Entwicklungspsychologie, die fast immer die Auswirkungen der Eltern auf ihre Kinder, fast nie aber die Wechselwirkungen zwischen Kindern und Eltern untersuche, selten zwischen häuslichem und außerhäuslichem Verhalten unterscheide, demografische Faktoren vernachlässige und äußere Umstände unberücksichtigt lasse.

Dies ist ein glänzend geschriebenes und ausgezeichnet übersetztes Buch, dessen Sogwirkung man sich kaum entziehen kann. Harris kokettiert mit ihrem außeruniversitären Status, und der antiakademische Elan, mit dem sie gegen die Lehrgebäude der Schulpsychologie anrennt, hat beträchtlichen Charme. Mit Leidenschaft bekämpft sie den kulturellen Mythos, zu dem die Theorie vom alles beherrschenden Einfluss der Eltern inzwischen geworden ist. Wer würde ihr da nicht Recht geben? Die Talkshow-Inflation bringt die verheerenden Folgen Freuds an den Tag; da ist kaum ein Problemchen der Studiogäste, das nicht unmittelbar, so deren Überzeugung, auf starke, schwache, trinkende, schlagende, überängstliche, sorglose, herrische oder unterwürfige Väter oder Mütter zurückzuführen ist.

Wie sollen, so eine von Harris' verblüffend einfachen Fragen an die Zunft, Kinder alles von ihren Eltern lernen, wo doch Kindern fast alles verboten ist, was Eltern gewöhnlich tun? Wer sagt einem, so eine andere Frage, dass Eltern, wenn sie unfreundlich, energisch, herrisch zu einem Kind sind, nicht auch auf dieses Kind reagieren, ihr Tun eine Folge des vielleicht genetisch bedingten Verhaltens des Kindes ist?

Harris untermauert ihre These vom überwältigenden Einfluss der peer groups mit einer Fülle von Beispielen. Sie erwähnt die Immigranten, deren Sohn die amerikanische Kultur übernimmt, während die Eltern ihre eigene behalten. Sie spricht vom englischen Jungen aus der Oberschicht, der erst von einer Nanny großgezogen, dann aufs Internat und schließlich aufs College geschickt wird und dennoch seinem Vater ähnelt, obwohl der mit seiner Erziehung gar nichts zu tun hat. Sie argumentiert mit den in der Familie aufgewachsenen eineiigen Zwillingen, die sich im Verhalten nicht ähnlicher sind als jene, die in frühester Kindheit von ihren Eltern und voneinander getrennt wurden. Sie verweist auf den Brauch traditioneller Gesellschaften, Kinder früh den Geschwistern zu überlassen.

Das grundlegende Problem der Erziehungshypothese ist ihr Anspruch, alles und jedes in der Entwicklung zum Erwachsenen erklären zu können. Diesen Anspruch macht Harris erfolgreich zunichte. Doch dann kippt die Sache um, und zwar in dem Moment, als Harris die Entwicklung ihrer Gruppensozialisationstheorie zum Erweckungserlebnis stilisiert: "Der Gedanke entfaltete sich plötzlich wie der Strauß eines Zauberers. Binnen weniger Minuten war mein Grundentwurf fertig . Auf einmal passte alles zusammen. Alle Beobachtungen, die sich in die herrschenden Theorien nicht einfügen wollten, ergaben plötzlich einen Sinn." Selten hielt man ein Buch in Händen, das eine so hohe Meinung von sich hatte. Im Kritiker, der Harris' Ausführungen bisher gebannt folgte, regen sich ob solcher Unangefochtenheit die niederen Instinkte. Passt alles zusammen?

Die Fallbeispiele, die die Autorin anführt, handeln von Kindern in außergewöhnlichen Situationen, die von diesen gemeistert werden mussten. Was aber, wenn nichts wirklich zu meistern ist? Auch für den Fall, dass wohlsituierte Eltern ihre Kinder auf angesehene Schulen schicken, auf die auch andere wohlsituierte Eltern ihre Kinder schicken, und diese Kinder alle gleich wohl geraten, hält Harris eine Erklärung bereit: Die Erziehung im Sinne der Eltern funktioniere, weil die peer group der Eltern ihre Sitten an die peer group der Kinder übermittle, in welcher dann die eigentliche Erziehung stattfinde. Zum Beweis dafür, das es sich so verhält, verweist sie auf die erörterten außergewöhnlichen Sonderfälle. In Wirklichkeit aber gibt es in den Normalfällen gar keinen Beweis für ihre Theorie, weil die erzieherische Wirkung der Eltern und die der Gruppe unentwirrbar verknüpft sind. Harris verweigert der Familie den Status einer Gruppe, indem sie auf die Besetzung von Nischen durch die Familienmitglieder und das Fehlen eines echten Anführers verweist, während sie den peer groups Differenzierung der Einzelfunktionen ihrer Mitglieder zugesteht.

Harris unterscheidet sehr scharfsinnig zwischen direkten und indirekten genetischen Effekten, etwa dem guten Aussehen eines Kindes und der sozialen Akzeptanz, die dieses damit erreicht. Es hätte nahe gelegen, auch zwischen direkten und indirekten Eltern-Kind-Effekten zu unterscheiden. Eltern verhalten sich nicht nur ihren Kindern gegenüber auf die eine oder andere Weise, sie tragen auch für die Auswahl der peer groups Sorge. Es ist eben ein Unterschied, ob man von Vater und Mutter auf ein ehrwürdiges humanistisches und vor allem linksrheinisches Gymnasium gesteckt wird oder in einen rechtsrheinischen Nonnenbunker. Der englische Oberklassenjunge gerät nicht nur nach dem Vater, obwohl er dessen Erziehung frühzeitig entzogen wurde, sondern auch, weil ihn der Vater aufs Internat und College schickte, damit er so werde wie er.

Es ist halt doch alles ziemlich verzwickt. Wahrscheinlich liegt der Fehler beider Theorien - der von Harris verfochtenen wie der von ihr bekämpften - darin, die Familie vom Rest der Welt zu trennen, statt sie als Teil von ihr anzusehen. Da war Chesterton klüger: "Tante Elisabeth ist unvernünftig, genau wie der Mensch. Papa ist reizbar, genau wie der Mensch. Unser kleinster Bruder ist boshaft, genau wie der Mensch. Großpapa ist töricht, genau wie die Welt; er ist alt, genau wie die Welt."

Judith Rich Harris: "Ist Erziehung sinnlos?" Die Ohnmacht der Eltern. Aus dem Amerikanischen von Wiebke Schmalz. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000. 672 S., geb., 48,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Besprechung von Michael Gassmann ist im Ton eher amüsiert als dass er die Autorin besonders ernstnimmt. Immerhin bescheinigt er ihr und ihrer Übersetzerin, das Buch sei "glänzend geschrieben und ausgezeichnet übersetzt". Er findet, die Autorin "kokettiert" etwas mit ihrem außerakademischen Status aber meint, das verleihe ihren leidenschaftlich vorgetragenen Thesen durchaus einen gewissen Charme. Ihrer Gegenthese zur "Erziehungshypothese", dass nämlich nicht die Familie die Verhaltensweisen eines Menschen überwiegend prägt, sondern genetische Information plus `peer group`-Einfluss, gesteht er einen gewissen Relativierungseffekt für die Anhänger eines talk-show-gestützten Freudianismus zu, nimmt sie letztlich jedoch ebensowenig ernst wie die Erziehungshypothese selbst. Beides sind für Gassmann Verkürzungen, die nicht beachten, wie viel Prägung Familie und `peer groups` selbst durch die Gesellschaft erfahren und wie stark sie zudem miteinander verknüpft sind.

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