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Paul Auster legt hier, fußend auf einem von ihm entworfenen Projekt des staatlichen US-Rundfunks, eine Sammlung wahrer Geschichten von Hörern vor, in denen das Leben so bunt, so schicksalhaft und so verrückt erscheint wie in seinen Romanen: Geschichten, die unserer Vorstellung von der Welt zuwiderlaufen, Geschichten von den unbegreiflichen Kräften, die in unserem Leben wirken. Mal sind sie traurig, mal lustig, aber stets anrührend - und so ausgewählt, dass sie das Denken, Träumen und Hoffen einer ganzen Nation widerspiegeln.

Produktbeschreibung
Paul Auster legt hier, fußend auf einem von ihm entworfenen Projekt des staatlichen US-Rundfunks, eine Sammlung wahrer Geschichten von Hörern vor, in denen das Leben so bunt, so schicksalhaft und so verrückt erscheint wie in seinen Romanen: Geschichten, die unserer Vorstellung von der Welt zuwiderlaufen, Geschichten von den unbegreiflichen Kräften, die in unserem Leben wirken. Mal sind sie traurig, mal lustig, aber stets anrührend - und so ausgewählt, dass sie das Denken, Träumen und Hoffen einer ganzen Nation widerspiegeln.
Autorenporträt
Paul Auster, 1947 als Nachkomme eingewanderter österreichischer Juden in Newark, New Jersey geboren, studierte Anglistik und vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University New York (B.A. und M.A.) und fuhr danach als Matrose auf einem Öltanker zur See. 1971 - 74 lebte er in Frankreich, hauptsächlich in Paris. Nach seiner Rückkehr in die USA nahm er einen Lehrauftrag an der Columbia University an und arbeitete zusätzlich als Übersetzer französischer Autoren (Blanchot, Bouchet, Dupin, Joubert, Mallarmé, Sartre) sowie als Herausgeber französischer Literatur in amerikanischen Verlagen. Paul Auster lebt in Brooklyn, New York, ist mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheiratet und hat zwei Kinder. Er erhielt Stipendien der National Endowment for the Arts (1977 für Lyrik, 1983 für Prosa), den France Culture Prix Etranger (1988) und den Morton Dauwen Zabel Award (1990). 2006 erhielt er den Prinz-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur.

Thomas Gunkel, geb 1956 in Treysa, Erzieher, studierte Germanistik und Geographie und ist als Übersetzer tätig.

Kathrin Razum übersetzte u. a. T. C. Boyle, John le Carré, Agatha Christie, Vikram Chandra, V. S. Naipaul, Edna O'Brien und Susan Sontag. Sie lebt in Heidelberg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001

Selbst Hühner klopfen höflich an
Wie es der Zufall will: Paul Auster sammelt wahre amerikanische Geschichten / Von Verena Lueken

Die meisten Bücher verdanken sich, neben hehreren Anliegen, dem Willen zur Anstrengung. "Ich glaubte, mein Vater sei Gott" hingegen entstand aus Trägheit. Paul Auster, der Herausgeber der "wahren Geschichten aus Amerika", die unter diesem Titel versammelt sind, wurde gebeten, für das einem öffentlich-rechtlichen Sender vergleichbare Radioprogramm "National Public Radio" regelmäßig Beiträge zu verfassen. Möglicherweise könne er alle zwei Wochen einige Geschichten erzählen, schlug der Redakteur vor. Auster paßte das überhaupt nicht in seinen Arbeitsplan, doch seine Frau, die Schriftstellerin Siri Hustvedt, hatte eine Idee, wie er den Auftrag annehmen könnte, ohne viel dafür tun zu müssen: Er sollte doch die Hörer selbst erzählen lassen und brauchte aus den zu erwartenden Manuskripten dann nur auszuwählen, was ihm am besten gefiele und was er vorlesen wollte. Auster folgte ihrem Vorschlag, und der Sender stimmte zu. Den Hörern war einzig vorgegeben, daß ihre Geschichten kurz sein sollten und wahr. So entstand das "National Story Project". Das war 1999. Auster wäre nicht Auster, behauptete er nicht, all dies wäre Zufall gewesen. Auf Außenstehende wirkt es eher wie ein cleveres Konzept.

Schon im ersten Jahr erhielt Auster mehr als viertausend Einsendungen. Nicht alle respektieren die Platzbegrenzung, und ob sie alle wahr seien, stellt allein Auster nicht in Frage. Jetzt liegt eine Auswahl von hundertsechsundzwanzig dieser Geschichten, sortiert unter Überschriften wie "Tiere", "Liebe", "Gegenstände" oder auch "Tod", "Familien", "Krieg", als gebundene Erzählsammlung vor, und man versteht, was Auster daran gereizt haben mag, sich nun doch ein wenig Arbeit mit seinem Projekt zu machen. Denn zahlreiche der versammelten Erzählungen scheinen zu bestätigen, worauf Austers eigene literarische Erfindungen stets hinauslaufen: daß es der Zufall sei, der unser aller Leben bestimme, dieser aber keineswegs beliebig und also sinnlos daherkomme. Dinge, so abenteuerlich sie erscheinen mögen, geschehen aus gutem Grund - darauf fußt Austers Arbeit, und daran glauben auch die Erzähler des Radioprojekts. Etwa jener Mann, der in einem überfüllten Restaurant an den Tisch einer einzelnen Frau gesetzt wird, ihre Telefonnummer auf einen Zettel schreibt, diesen in den Mantel steckt, den Mantel verliert und dann, Monate später, dieselbe Frau in derselben Situation in einer anderen Stadt wiedertrifft. Nur wer daran glaubt, daß solche Zufallsverkettungen einen verborgenen Plan erfüllen, wird es für folgerichtig halten, daß der Mann diese Frau kurz darauf heiratet. Austers eigene Geschichten steuern nicht immer auf ein derartiges Happy-End zu, aber sie folgen der gleichen Logik.

Ein Huhn geht durch den Ort, kommt zu einem Haus, klopft mit dem Schnabel an die Tür, diese öffnet sich, man läßt das Huhn ein, die Tür schließt sich wieder. Das ist eine Geschichte, wie sie Laurie Anderson erzählen könnte, mit elektronisch verzerrter Stimme möglicherweise und eingebunden in eine unverschämt quietschende Tonassemblage, eine Geschichte, wie gemacht für ein virtuelles Lagerfeuer, an dem Amerika sich offenbart - als ein Land der Geschichtenerzähler, in dem jedem Merkwürdiges widerfährt und jeder das Talent hat, anderen davon zu berichten. Die Geschichte vom Huhn ist die erste, mit sechs Zeilen auch die kürzeste und eine der besten Geschichten des Buches. Andere erzählen von verlorenen und wiedergefundenen Gegenständen, von Äußerungen, die Wirklichkeit werden, von überraschenden Wiederbegegnungen, von schmerzhaften Entscheidungen, die nach Jahrzehnten plötzlich als glückliche Fügung erscheinen.

Die meisten sind zwischen einer und drei Buchseiten kurz, aber es gibt auch eine, die über elf Seiten läuft, und einige, die auf einer halben Platz haben. Die Autoren kommen aus fast allen Gegenden der Vereinigten Staaten, genau gesagt: aus zweiundvierzig der fünfzig Staaten, und so gibt es Geschichten vom Aufbruch aus der Provinz in die große Stadt und umgekehrt von der Aussiedlung aufs Land, von Reisen in die Fremde und von der Rückkehr nach Hause. Auster hat darauf geachtet, daß ebenso viele Männer wie Frauen zu Wort kommen. Sie sind zwischen zwanzig und fast neunzig Jahren alt. Auch die soziale Herkunft der Erzähler entspricht in etwa der demographischen Verteilung des Landes, wir begegnen Testpiloten und Gefängnisinsassen, Universitätsdozenten, Hausfrauen und Bauern, einem Meeresökologen und einem Omnibusfahrer, Schreinern, Postboten und einem Spezialisten für die Reparatur mechanischer Klaviere. Auch Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg und aus Vietnam erzählen ihre Geschichten. Der Titel übrigens verdankt sich einem Ereignis, von dem ein Mann aus Idaho berichtet. Jemand, der ihn geärgert hatte, sollte tot umfallen, hatte sein Vater einmal gesagt. Kurz darauf fiel der Mann um und war tot.

Nur wenige Geschichten sind so pointenlos wie jene, die erzählt, wie im heißen Sommer des Jahres 1962 ein schwarzes Paar in Manhattan auf der Straße tanzt. Die meisten illustrieren vielmehr die Grundannahme dieses Projekts, daß nämlich wahre Ereignisse oft so seltsame Wendungen nehmen, daß sie jede Erfindung in den Schatten stellen. In einer Geschichte immerhin tut auch die Fiktion Gutes. Eine Studentin hat kein Geld für eine Rückenoperation, die ihr das Gehen sehr erleichtern würde. Ihre Mutter findet auf dem Dachboden eine unveröffentlichte Erzählung von O. Henry, verkauft sie und kann mit dem Erlös ihrer Tochter die Operation ermöglichen. Eine solche Geschichte wagte sich in der Tat kaum jemand auszudenken. Daß sie wahr ist, adelt allerdings nur die Wirklichkeit, nicht die Erzählung.

Die gesammelten Geschichten klingen trotz ihrer so unterschiedlichen Herkunft im Ton einheitlich. Möglicherweise ist das der Ton des routinierten Amateurs, Amerikaner, so diese Verallgemeinerung erlaubt ist, erzählen ja tatsächlich gern und fast alle gut. Vielleicht ist es auch Austers Redigat, das Kanten abgeschliffen hat. Jedenfalls entsteht der Eindruck einer großen Eintönigkeit, die vielleicht beim Hören nicht ganz so auffällig wäre.

Paul Auster ist ein Autor, der nicht nur an den Zufall glaubt, sondern der auch einer fast obsessiven Faszination mit dem Leben Fremder anhängt. Die intensive Erforschung der Biographien anderer, das Eintauchen in fremde Existenzen bis hin zum Identitätswechsel sind häufige Motive in seinen Geschichten. Ein wenig von dieser Obsession ist in seiner Begeisterung für die Geschichten seiner Hörer zu spüren. "Depeschen oder Berichte von den Fronten der persönlichen Existenz" nennt Auster in seinem Vorwort diese Erlebnisbeschreibungen, die ihn und uns mit dem Leben völlig unterschiedlicher Menschen konfrontieren. Trotz ihrer Häufung, so Auster, bleibe jede dieser Geschichten in der Erinnerung gegenwärtig wie ein Schnappschuß.

Die Leseerfahrung bestätigt das nur bedingt. Um Auster in seiner Faszination zu folgen, muß man seine postmodern maskierte romantische Weltsicht teilen, in der tatsächlich kein Zufall nur zufällig und kein Ereignis ohne Grund sind. Wer hingegen an keinen Plan im Zufall glaubt und wem sich das Leben in all seinen Verzettelungen nicht notwendig zu einem runden Ganzen fügt, in dem alles seinen Sinn findet, den wird durch all diese Erzählungen hindurch eine tiefe Müdigkeit befallen. Vielleicht mündet sie in einen Traum, in dem, wie in diesen Geschichten, alles anders als dort, aber alles ohne Grund geschehen kann.

Paul Auster (Hrsg.): "Ich glaubte, mein Vater sei Gott. Wahre Geschichten aus Amerika". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Gunkel, Volker Oldenburg, Kathrin Razum und Marion Sattler Charnitzky. Rowohlt Verlag, Reinbek 2001. 408 S., geb., 38,92 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.03.2002

Ein Land, das an seinen Familien leidet
„Ich glaubte, mein Vater sei Gott”: Es hat nicht nur mit Faulheit zu tun, wenn Paul Auster die Geschichten von Nicht-Schriftstellern sammelt
In dem Film „Smoke”, der nach einem Buch von Paul Auster entstand, ist Harvey Keitel ein zerknautschter Mann, der jeden Tag um dieselbe Zeit eine Fotografie derselben New Yorker Straßenecke macht. Er will die Zeit anhalten und ihr auf der Spur bleiben, er reiht nur Ausschnitte aneinander und abstrahiert von ihrem Zusammenhang, aber wenn das Täuschungsmanöver des Mannes gelingt, hat der Betrachter den Eindruck, diesen Teil New Yorks zu kennen. Keitel und die Jagd des Künstlers nach den Gewöhnlichkeiten des Lebens wirken wie ein Bild für den mainstream der amerikanischen Literatur. Sie ist, ob im Kleinbürgertum, in der lower, middle, upper middle class oder gar unter Intellektuellen unterwegs, ob bei Raymond Carver, Stewart O’Nan, John Updike oder Harold Brodkey, ein vielstimmiger Chor gegen den amerikanischen Traum. Statt idealistisch zu phantasieren, möchte sie „nur” das Leben zeigen. Allerdings selten das Leben der Straßenecken, der Dinge. Das menschliche Kämpfen und Scheitern steht im Mittelpunkt, und wenn Präsidenten und Mythen noch heute von großen Möglichkeiten der Menschen erzählen, so malt die amerikanische Literatur schon seit langem das Bild eines Landes, in dem sich wenig bewegt.
Doch was bleibt, bei all der programmatischen Alltäglichkeit eines Großteils der Literatur, dann noch den Geschichten, die Männer und Frauen „von der Straße” erzählen? Was hier erst einmal alle meint, die sich nicht als Schriftsteller verstehen. Die Sammlung „Ich glaubte, mein Vater sei Gott”, die Paul Auster herausgegeben hat und die jetzt auf Deutsch erschienen ist, gibt eine erste Vorstellung davon. Das Buch heißt im Untertitel „Wahre Geschichten aus Amerika” und verweist damit auf die hoch dotierte Kategorie der Authentizität. Die aber ist, obwohl autobiographisch grundierte Texte aus der Ich-Perspektive überwiegen, auch in diesem Buch nicht einfach zu klären: Alles Geschehene verändert sich, sobald man es in eine Erzählform bringt. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen einer Novelle und dem Tagesbericht eines Ehepaars.
Doch wie kommt gerade Paul Auster dazu, Geschichten von Nicht- Schriftstellern zu sammeln? Es hat, wenn man ihm glauben kann, mit Faulheit und mit einer Idee seiner Frau Siri Hustvedt zu tun. Ein Journalist des National Public Radio hatte Auster gefragt, ob er jeden Monat ein paar Geschichten schreiben und am Radio vorlesen könne. Auster hätte beinahe abgelehnt, da sagte Hustvedt: „Du musst die Geschichten doch nicht selber erzählen.” Er solle sie sich von den Hörern schicken lassen, die besten könne er dann im Radio präsentieren. So sei, schreibt Auster in seinem Vorwort, das „National Story Project” entstanden. Dieses große Wort für das aus einem simplen Einfall geborene Vorhaben zeigt an: Auster hatte die geistige Essenz jenes Landes im Blick, das noch nicht vom 11. September 2001 getroffen war. Er wollte einen Querschnitt durch das amerikanische Leben präsentieren, ja, als Dichter-Sammler ein Medium des Volkes sein.
Humanität und Charme
Auster legt in seiner Einleitung Wert darauf, dass die Teilnehmer des NSP aus zweiundvierzig Staaten stammen, dass der jüngste Teilnehmer des Story-Projekts zwanzig und der älteste neunzig Jahre alt ist, dass nur die Hälfte der Geschichten von Männern eingeschickt wurde, dass ein Postbote, ein Gas- und Stromableser und Hausfrauen dabei sind. Die Auswahl, der sich Auster als Leser zu stellen hatte, war recht groß: Immerhin viertausend Texte wurden ihm zugeschickt, davon blieben in seinem Buch hundertsechsundzwanzig übrig. Dabei habe er, so Auster, nie an demographische Kriterien gedacht, sondern die Geschichten nach „Humanität, Wahrheit oder Charme beurteilt”. Nicht Perfektion habe er angestrebt, die Faszination liege „in dem Rohen, Ungeschliffenen, Unverfälschten”. Auch wenn das beinahe schon kitschig klingt und außerdem untertrieben ist, denn einige dieser kurzen Geschichten sind brillant geschrieben, stellt sich vorrangig die Frage: Wie sieht nach Meinung der im „National Story Project” mitschreibenden Amerikaner die Nation aus?
Das Buch ist nach Themen und Motiven geordnet, die häufiger zur Sprache kamen. Eines der problematischsten ist, nicht unüberraschend, „die Familie”. Sie dominiert trotz aller Veränderungen der Sozialstruktur ganz selbstverständlich noch immer die Entwicklung des Individuums, das ihr gegenüber am eindringlichsten und unnachgiebigsten auf seinem persönlichen Glück oder Unglück beharrt. Mit lapidarer Direktheit erzählt in „Tausend Dollar” eine Frau vom Verrat ihrer Eltern an ihren Wünschen, von den Schwierigkeiten, in die sie diese Wünsche selber gebracht haben. Es ist die klassische Geschichte vom einfachen Mädchen, das auszieht, um in Hollywood Filmstar, Drehbuchautorin oder etwas ähnlich Großartiges zu werden, dort zunächst von Kreditkarten lebt und sich schließlich als Porno-Darstellerin verdingt: „Ich kam nach Los Angeles, weil ich in der Filmbranche groß rauskommen wollte. Ich fing als Schauspielerin an und rutschte dann langsam nach unten.” Geschickt und ohne Wehleidigkeit ist die Geschichte auf den persönlichen Skandal hin erzählt, dass die Eltern der Autorin in einer entscheidenden Situation kein Geld gaben, obwohl sie es hatten, wie sie nachträglich erfuhr.
Neigen die Autoren bei der Thematisierung des eigenen Lebens zur Bevorzugung des Tiefgehenden, Schwerwiegenden, muten die Tiergeschichten der Hörer des National Public Radio oft wie befreiend leichte Phantasien an. Ein Schmetterling heilt ein kaputtes Auto; ein Huhn trabt durch Portland, klopft mit seinem Schnabel an eine Eisentür und wird eingelassen. Ein kleiner Hund springt seinen Herrn, der gerade vermummt an der Spitze des Ku Klux Klan marschiert, begeistert an und macht ihn dadurch unmöglich: Die unfreiwillige Komik der Entlarvung durch „Strolch” nimmt den wichtigtuerisch-gefährlichen Brüdern in der Kleinstadt Broken Bow jede Macht.
Ein Thema vieler Geschichten ist der Krieg, wobei erstaunlicherweise der Erste Weltkrieg, jener der Väter und Großväter, dreimal vertreten ist, der siegreiche Zweite dominiert und das berühmte amerikanische Trauma-Thema Vietnam nur einmal schüchtern sich zeigt. Wie zur Strafe kehrt das Vergessene an anderem Ort wieder, im Kapitel „Traum” in der Geschichte „Lang ist`s her”, die von den flash backs einer ganzen Generation erzählt. Locker und rotzig heruntergeschrieben ist die Kriegserzählung „Ein Marsch in der Sonne”, in der eine Gruppe amerikanischer Sanitäter, Nachfahren Schweijks im Zweiten Weltkrieg, statt einen Strafmarsch durch den sommerlichen Triestiner Karst zu unternehmen, zusammenhält und in einem schattigen Tal Volleyball spielt. Eindringlich und dramaturgisch gut aufgebaut wirkt auch „Die Siegesfeier”, ein makabres Kurzdrama aus der Nacht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Sioux Falls, South Dakota: Im Alkoholrausch gibt die Feier Gelegenheit zu Straßenschlachten und zur Jagd auf einen Schwarzen, dem auch der Erzähler nicht hilft, wofür er sich sein Leben lang schämt.
Jeder hat sein eigenes Radio
Auffällig ist, dass der Band kaum Beiträge der viel erwähnten „ethnischen Minderheiten” enthält. Eine Latino-Frau erzählt eine mexikanische Tanz-Geschichte, ein Text ist mit dem Namen Hsu unterzeichnet, ansonsten dominiert die amerikanisch-jüdisch-deutsche Kultur. Das heißt vielleicht nur, dass das National Public Radio eben doch kein wirklich nationales, sondern ein Radio der weissen Nation ist und dass die anderen Amerikaner ihre eigenen Radiosender haben. Doch gerade hierin bestätigt Austers Auswahl das stets von neuem überraschende Bild der amerikanischen Gegenwartsliteratur, die, anders als die englische in Europa, trotz beflissener correctness von ihren (inneren) Kolonien bisher kaum profitieren konnte. Eines der zehn von Auster ausgewählten Themen heißt „Fremde”. Es bezieht sich nicht nur auf Erfahrungen mit „fremden” Völkern, aber die Geschichte eines Mädchens aus Nebraska, das nachmittags in Manhattan eine unkomplizierte karibische Straßenparty erlebt, wirkt wie eine Vision dessen, was möglich wäre. Was in der Musik längst akzeptiert wird, ist für die Literatur noch ferne Zukunft.
Zu „Liebe” und „Tod” fällt auch den Amerikanern offenbar wenig Neues ein, nur dass die Liebe hier kurioserweise beinahe durchgängig gelingt, aber um wirklich Repräsentatives feststellen und folgern zu können, möchte und müsste man alle viertausend eingereichten Geschichten lesen, nicht nur die vom Herausgeber subjektiv ausgewählten. Das Bild der Nation, das sich aus dem umfangreichen Torso des „National Story Projects” ergibt, ist dennoch partiell erstaunlich: Ein Land, in dem die wichtigsten Kriege solche sind, bei denen das Land nur am Rande und siegreich beteiligt war; ein „Schmelztiegel”-Land, das beinahe ausschließlich weiße Autoren kennt; ein Land, das an seinen Familien leidet und Trost in romantischer Liebe und gescheiten Tieren findet. Eine der besten aller Geschichten, da hat Paul Auster recht, redet übrigens gar nicht von der Nation. Nur vom Medium Radio und von der Einsamkeit, die es hörbar zu machen vermag, die den Hörer leise und sanft am Arm nimmt: Immer wenn die Autorin mit dem schönen Namen Ameni Roszas nach einer Liebesgeschichte wieder allein ist, wenn die Wände wieder kalt werden und näher rücken, manchmal nach Jahren, dreht sie auf einmal wieder am Knopf.
HANS-PETER KUNISCH
PAUL AUSTER (Hrsg.): Ich glaubte, mein Vater sei Gott. Wahre Geschichten aus Amerika. Deutsch von Thomas Gunkel, Volker Oldenburg, Kathrin Razum und Marion Sattler Charnitzky. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002. 408 Seiten, 19, 90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"So richtig kann Verena Lueken sich mit diesem Buch nicht anfreunden, das aus einem Rundfunkprojekt entstanden ist, in dem Hörer zum Einsenden seltsamer und wahrer Erlebnisse aufgefordert waren. Man müsse schon den Glauben des Herausgebers an den sinnvollen Zufall teilen, um seine Faszination an den Erlebnissen fremder Leute verstehen zu können, meint die Rezensentin, die zudem nicht immer völlig überzeugt ist, dass die Geschichten wirklich wahr sind. Was sie stört, ist die "Eintönigkeit", mit der die Erzählungen vorgebracht werden und was, wie sie vermutet, beim Hören nicht ganz so störend wäre. Und so befällt sie beim Lesen eine "tiefe Müdigkeit", trotz der mitunter skurrilen Begebenheiten, die berichtet werden.

© Perlentaucher Medien GmbH"