Marktplatzangebote
8 Angebote ab € 13,50 €
  • Gebundenes Buch

Für Sándor Márai ist 1945 ein Schicksalsjahr, es ist der Untergang der alten Welt, das Ende des bürgerlichen Zeitalters, dem er mit Leib und Seele angehörte. Genau beobachtet er, was um ihn herum geschieht, liest Zeitung und lauscht den Informationen der BBC, die auch in Ungarn zu empfangen ist. Als scharfer Kommentator und zorniger Prophet beschreibt er die Zustände in seinem Land und nimmt die Zukunft Europas in den Blick. Klug, hellsichtig, anrührend, zutiefst human und persönlich sind die unzeitgemäßen Gedanken des bürgerlichen Demokraten Márai, der neben seinen Notizen zu Shakespeare und…mehr

Produktbeschreibung
Für Sándor Márai ist 1945 ein Schicksalsjahr, es ist der Untergang der alten Welt, das Ende des bürgerlichen Zeitalters, dem er mit Leib und Seele angehörte. Genau beobachtet er, was um ihn herum geschieht, liest Zeitung und lauscht den Informationen der BBC, die auch in Ungarn zu empfangen ist. Als scharfer Kommentator und zorniger Prophet beschreibt er die Zustände in seinem Land und nimmt die Zukunft Europas in den Blick. Klug, hellsichtig, anrührend, zutiefst human und persönlich sind die unzeitgemäßen Gedanken des bürgerlichen Demokraten Márai, der neben seinen Notizen zu Shakespeare und Baudelaire, Büchner und Freud seine Ansichten zu Neubeginn und Emigration verfasst. Das leidenschaftliche, ebenso persönliche wie zeithistorische Dokument eines großen Schriftstellers und Denkers.
Autorenporträt
Sándor Márai, 1900 in Kaschau (KoÜice, heute Slowakei) geboren, lebte und studierte in verschiedenen europäischen Ländern, ehe er 1928 als Journalist nach Budapest zurückkehrte. Er verließ Ungarn 1948 aus politischen Gründen und ging 1952 in die USA, wo er bis zu seinem Freitod 1989 lebte. Er war einer der bedeutendsten ungarischen Schriftsteller und Kritiker des 20. Jahrhunderts.Ernö Zeltner, Jahrgang 1935, studierte in Budapest ungarische Literatur- und Sprachwissenschaft und ab 1956 in Wien Germanistik und Theaterwissenschaft. Nach einer erfolgreichen Verlagslaufbahn lebt er seit einigen Jahren als freier Lektor, Übersetzer und Autor in Tirol.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.07.2009

Aufzeichnungen der Resignation
Abschied vom Bürgertum, Abschied von Budapest: Die Tagebücher des ungarischen Autors Sándor Márai
„Ich habe bisher dreiundvierzig Jahre gelebt”, schreibt Sándor Márai am 11. April 1943: „Und wenn ich noch einmal so lange lebe? Und sechsundachtzig bin? Werde ich dann mehr wissen?” Am 11. Januar 1985 ist aus der Frage Wirklichkeit geworden, und die ist ernüchternd. Nach der Lektüre seines Tagebuchbandes 1943/44 notiert er im amerikanischen Exil: „Eher ist es so, daß ich zusammenkratze, was ich schon vor 43 Jahren gewußt, aber inzwischen verloren, vergessen habe.” Bei aller Desillusioniertheit unterstreicht diese Verschränkung über ein halbes Leben hinweg doch die Bedeutung, die sein Tagebuch für Márai gehabt hat: „Für mich ersetzen diese Aufzeichnungen die publizistische Arbeit der letzten vierzig Jahre, sind die Verbindung mit der täglichen Wirklichkeit”, zitiert ihn Ernö Zeltner, der als sein Übersetzer und Biograph zu den besten Kennern des Máraischen Œuvre zählt.
Das erklärt, warum es sich bei den ersten beiden jetzt aus dem Nachlass in bisher nicht gekannter Vollständigkeit edierten Bänden nicht um Tagebücher im strengen Sinn handelt. Als Márai kurz vor seinem 43. Geburtstag mit den Aufzeichnungen begann, markierte dies seinen Rückzug aus der literarisch-journalistischen Öffentlichkeit Ungarns, zu deren profiliertesten Repräsentanten er gezählt hatte. Nachdem die Deutschen seine Heimat am 18. März 1944 (ausgerechnet am Sándor-Tag) besetzt hatten, habe er zunächst keine Zeile mehr veröffentlicht.
Sein Verstummen war so demonstrativ wie defensiv. Stärker als der bürgerlich-liberale Autor Márai wäre sonst seine jüdische Frau Ilona alias Lola (in den Tagebücher L. genannt) exponiert gewesen. Während sie mit ihrem Mann in dem idyllischen Donaukniedörfchen Leányfalu die nun einsetzenden Judenpogrome und Deportationen überstand, wurde ihr Vater in Auschwitz ermordet.
Auch wenn Massenmorde, Plünderungen, Einmarsch der Roten Armee und die Zerstörung Budapests drastisch in die Aufzeichnungen vordringen, erscheint vieles der Aktualität enthoben. Die Tage dieser Bücher tragen kein Datum, das subtile Räderwerk der Reflexion treibt eine Uhr ohne Zeiger an. Was die Stunde geschlagen hat, muss man aus datierbaren Ereignissen erschließen, die im Text erwähnt werden. Márai schreibt nicht als Chronist, sondern will die Zeit selbst ergründen, sucht darin eine Nische. Beistand findet er bei Goethe, Shakespeare, Mark Aurel. Hatte der 1900 geborene Schriftsteller im Jahre 1934 seine autobiographischen „Bekenntnisse eines Bürgers” veröffentlicht, so formulierte er 1943 dessen Resignation.
Dazu gehörte das Ablegen der Insignien und der Abschied von der kommoden Welt von gestern. Das Dienstmädchen, der Orangensaft am Bett, die Morgenblätter, das Frühstück auf rollendem Tablett, danach eine Stunde Arbeit, dann die Fahrt im eigenen Auto zum Tennisplatz und Schwimmbad – so skizziert der bis dato höchstbezahlte Kolumnist Ungarns den Vormittag eines bürgerlichen Schriftstellers. Kurz zuvor hat er einen Luftangriff auf Buda beschrieben, den er in einem leeren alten Kaffeehaus überstand: „Meine Freunde sind im Ausland oder in Internierungslagern, in Viehwaggons, die sie in die Gaskammern fahren, sofern sie Juden sind.”
Jener Vormittag ist Phantasmagorie geworden. Márais Stadtwohnung samt Bibliothek wird in Trümmer zerfallen. Das Bürgertum hat für ihn versagt, hat dem Teufelspakt mit Deutschland nicht widerstehen, hat sich den Pfeilkreuzlern nicht widersetzen können. Was den Deutschen Versailles, war den Ungarn 1920 Trianon geworden: „Nachdem man in Trianon zwei Drittel des Landes unter die Nachbarn aufgeteilt hatte, konnte nach Trianon keine ungarische Regierung die Möglichkeit zur Revision dieses Vertrags ablehnen.” Hitler hatte 1938 diese Möglichkeit angeboten, und man hatte angenommen. Márai glaubt nicht, dass ein widerständiges Ungarn von den Westmächten verteidigt worden wäre, doch die Bereitschaft seiner Landsleute, mit den Wölfen zu heulen, egal ob braun oder rot, widert ihn an. Sein Ideal vom Bürgertum ist an der Realität zerbrochen.
Als Tagebuchautor schrieb Márai zunächst nicht allein sub specie aeternitate, sondern auch auf Vorrat für baldigen Gebrauch. Er publizierte schon 1945 erste Auszüge und im Exil die Bände 1945-1957, 1958-1967, 1968-1975 und 1976-1983. Was jetzt als Übersetzung des im Budapester Helikon-Verlages veröffentlichten „A teljes napló” (Das vollständige Tagebuch) auf Deutsch erscheint, ersetzt Márais Auswahl durch eine Edition, die dessen in den 22 Kartons seines Nachlasses enthaltene Manu- und Typoskripte zugrunde legt.
Zwischen 1943 und 1945 changiert der Autor zwischen der Rolle eines Zeitzeugen, eines Kommentators und eines Zeitkritikers, widmet sich stoizistischen Reflexionen und dem Ferkelkauf. Dabei wahrt er seinen Habitus, spart Privates aus, pflegt ein Understatement in ökonomischen Fragen. Meinte man eben noch, den Schriftsteller inmitten seiner zerstörten Bibliothek verhungern zu sehen, so wird hier plötzlich ein Schweinchen gekauft und werden da Hektoliter Wein in den Keller geschafft.
Es war das Goldene Zeitalter der Zeitung, das einen Kerr, einen Roth, einen Márai zum großzügig entlohnten Souverän der Feder hat werden lassen. Márais Tagebücher sind auch ein Schrein dieser Sphäre, in der sich Bildung, Traditionsbewusstsein und literarisches Stilgefühl mit dem Sinn für das Aktuelle in einer selbstverständlichen Weltläufigkeit verbanden.
Doch so golden war selbst dieses Zeitalter nicht. Natürlich zählte Márai auch als Journalist seiner Zeit zu den glücklichen Ausnahmen. Manches ist Pose, manches bleibt ausgespart. Erst ein halbes Leben nach Beginn seiner Tagebücher erwähnt Márai, inzwischen verwitwet, dass auch seine zunächst nur schattenhaft auftretende Frau Tagebuch geführt hat: „Sie hat alles aufgeschrieben”, notiert er am 20. April 1986, „über Jahrzehnte, alle kleinen und großen Ereignisse aller Tage.”
Vielleicht war Lola Márai eine zweite Alice Schmidt, deren Tagebücher sich nicht nur als Material zur Erschließung der Werke ihres Mannes Arno erweisen, sondern als Zeitdokumente sui generis. Von über hundert Heften berichtet Márai, die aber laut Piper-Verlag von Lolas Erben unter Verschluss gehalten werden. Ob ein- oder zweistimmig – die vollständige Edition der Máraischen Tagebücher wird uns noch viele Jahre begleiten, Neues zutage fördern und zu einem weiteren großen Epitaph des europäischen Bürgertums anwachsen.
Darin wird sich erfüllen, was Márai ab 1943 schon antizipierte: Die Loslösung aus seiner ungarischen Heimat und später auch aus Europa unter Wahrung einer bürgerlich-europäischen Haltung. Dass sein Alterssitz in den USA Exklave bleiben würde, ließ 1945 eine Äußerungen über „Hemingways Roman über den Spanischen Bürgerkrieg” ahnen: „Ordentliche Arbeit – keine Literatur.”
Anders als der Kleinbürger Arno Schmidt, der Schlimmeres über Hemingway geschrieben hat, vermochte der Großbürger Márai diesem neuen Zeitstil literarisch wenig entgegenzusetzen. Trotz aller Wiederentdeckungen seiner Romane klingt der Klang der Zeit darin immer nach einem alten Ungarn, in dem Sándor Márai einmal jung ein durfte: „Ich verleugne diese Bücher nicht”, schrieb er schon 1945 angesichts einiger seiner älteren Werke, „es ist jedoch gewiss, dass mir in den letzten Jahren das Schreiben schon zu leicht gefallen ist, der Widerstand in dem, was ich sagen wollte, zu gering war, alles war zu musikalisch und überhaupt ein wenig ,zu’”. Was blieb, sind die Tagebücher.ULRICH BARON
SÁNDOR MÁRAI: Literat und Europäer. Tagebücher Band 1: 1943-1944. Aus dem Ungarischen von Akos Doma. Unzeitgemäße Gedanken. Tagebücher 2: 1945. Aus dem Ungarischen von Clemens Prinz. Herausgegeben, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Erno Zeltner. Piper Verlag, München 2009. 472 und 440 S., pro Band 48 Euro.
Die Tage dieser Bücher tragen kein Datum
Als die ungarische Presse noch groß war – vor einem Verlagsgebäude in Budapest. Foto: William Vandivert / Time & Life Pictures / Getty Images
Sándor Márai Foto: dpa
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Beim Lesen dieser ersten beiden Tagebuchbände von Sandor Marai kommt es Anja Hirsch mitunter vor, als wohne sie der Entstehung eines Romans bei. Neben Marais' sinnlicher Aufnahmefähigkeit imponieren ihr seine Urteilsschärfe und sein gründlicher, weniger auf Privates, denn auf innere Vorgänge (des Volkes, des Subjekts) gerichteter Blick. Hirsch liest die Einträge als zeitgeschichtliche Dokumente, als beständige kritische Auseinandersetzung des Autors mit seiner Heimat Ungarn, aber auch als hellsichtigen, treffsicheren Kommentar, der durch Marais Ausdruck zu "stilisierter Wahrhaftigkeit" wird. Die Befürchtung, hier auf die allzu distanzierte, verbitterte Stimme eines Zurückgezogenen zu stoßen, möchte Hirsch dem Leser gerne nehmen. Obwohl der Autor jedem Überschwang entsagt, wie es heißt, stößt die Rezensentin immer wieder auch auf Momente der Begeisterung. Nach ihrem Ermessen haben diese Bände ihren Platz neben großen Tagebuchschreibern wie Julian Green und Virginia Woolf.

© Perlentaucher Medien GmbH