Produktdetails
  • Verlag: Patmos Verlag
  • Seitenzahl: 238
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 395g
  • ISBN-13: 9783491724563
  • ISBN-10: 3491724562
  • Artikelnr.: 09823241
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2002

Tutus Tränentribunal
Der südafrikanische Erzbischof und seine Wahrheits- und Versöhnungskommission
DESMOND TUTU: Keine Zukunft ohne Versöhnung, Patmos Verlag, Düsseldorf 2001. 238 Seiten, 19,90 Euro.
Der schwarze kirchliche Würdenträger aus Südafrika saß im Flugzeug über Nigeria, die Piloten der nigerianischen Maschine waren ebenfalls schwarz. Der Kirchenmann „empfand Stolz für diese Leistung”; in seinem Land durften nur Weiße die Fluglizenz erwerben. Doch auf einmal gerät das Flugzeug in Turbulenzen, den Passagieren dreht sich der Magen um. Der Gottesmann ertappt sich „bei einem schockierenden Gedanken”: „Ich wünschte, da wäre ein Weißer im Cockpit. Können die Schwarzen uns aus dieser schrecklichen Lage lotsen?”
Der da dieses politisch unkorrekte Stoßgebet zum Himmel schickt, ist Desmond Tutu, anglikanischer Erzbischof von Kapstadt, der nach Nelson Mandela prominenteste Freiheitskämpfer Südafrikas. Im nachhinein staunt er über sich selbst: „Ich hätte niemals geglaubt, wie sauber meine Gehirnwäsche vollzogen worden war. Ich hatte die weiße Definition der Realität akzeptiert. Weiße waren kompetenter als Schwarze.”
Das ist Tutus Stärke: Dass er nicht nur die ins Auge springenden Folgen der Apartheid sieht, die Leichenkeller, die Folterkammern, die Abermillionen von Gedemütigten und Entrechteten, sondern dass er erkannt hat, was die Diktatur der Weißen in den Hirnen der Schwarzen angerichtet hat. Nicht nur, was das unterminierte Selbstbewusstsein angeht, sondern auch hinsichtlich der „Entmenschlichung”, die von den Vollstreckern der Apartheid auf deren Opfer übergegriffen habe: Tutu klammert die Verbrechen, derer sich der ANC schuldig gemacht hat, nicht aus (wofür er sich einigen Ärger mit dem ANC eingehandelt hat).
Von 1996 bis 1998 war Tutu Vorsitzender der Kommission für „Wahrheit und Versöhnung”, und sein persönlicher Bericht von diesem in der Menschheitsgeschichte ziemlich einmaligen Versuch irdischer Gerechtigkeit liegt nun endlich auch auf deutsch vor. Nach der Beendigung eines jahrzehntelangen Staatsterrorismus wurde hier der Versuch unternommen, die Verbrechen offen zu legen, wobei man, so Tutu, einen dritten Weg zwischen Siegerjustiz und Amnesie ausprobierte. Das Prinzip der Kommission sah vor, dass grundsätzlich jedes Opfer ein Recht auf mündliche oder schriftliche Anhörung hatte. Ferner bestand die Möglichkeit für die Täter, durch ein Geständnis Amnestie zu erlangen. Leider bietet das Buch so gut wie keine Information darüber, wie viele Anhörungen es gab, wie viele Zeugenaussagen, oder wie oft Amnestie gewährt wurde.
Tutu berichtet, dass sich nur wenige Täter der Kommission stellten, und noch weniger, die dann auch Amnestie erhielten. Die Täter waren aufgefordert, Zeugnis ihrer eigenen Untaten abzulegen. So manche von Tutu wiedergegebene Szene erinnert an ein Märchen: Wenn sich ein Mörder und die Angehörigen seiner Opfer weinend in den Armen liegen, mag dies auch Kalkül oder Inszenierung gewesen sein.
Solche Einwände können indes nicht das Verdienst der Kommission mindern, das darin besteht, den Opfern Gehör verschafft zu haben. Jahrzehntelanger, flächendeckender Terror wurde damit endlich als real anerkannt, die Opfer hatten auf einmal drei Jahre lang eine Stimme, und die Weißen verfolgten die Anhörungen aus sicherer Entfernung zumindest gebannt am Radio.In der europäischen Strafjustiz spielt das Opfer nur eine Nebenrolle. Ein „ordentliches Gerichtsverfahren”, gibt Tutu vollkommen zu Recht zu bedenken, hätte aber in Südafrika viele Opfer „eher noch mehr traumatisiert, als sie es ohnehin schon waren. Richtig und falsch sind von Bedeutung, und wenn du gegen die moralischen Regeln des Universums verstößt, dann wirst du eines Tages dafür bezahlen.”
Dennoch wird Tutus geradezu an Solon gemahnende Rechtsphilosophie von der Wirklichkeit Lügen gestraft: Die Schergen der Apartheid kamen reihenweise straflos davon. Dessen ungeachtet ist Bischof Tutu zum Schluss bemüht, auch dem Rest der Welt zu vermitteln, wie man verfeindete Parteien auf einander zuführt. Er blickt dabei besonders auf Israel, wo ein in seinen Augen rachsüchtiges Volk nicht zur Vergebung bereit ist. Leider bricht bei Tutu an dieser Stelle schlichter Antisemitismus durch.
FLORIAN SENDTNER
Der Rezensent ist Journalist in
Regensburg
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Der Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu beschreibt seine Arbeit als Vorsitzender von Südafrikas Wahrheits- und Versöhnungskommission. Christlich-religiöse Rhetorik und Symbolik, mit der Tutu laut Rezensent Andreas Eckert schon die Kommission prägte, finden sich auch in seinen Aufzeichnungen wieder, aber auch sehr eindringliche Schilderungen der seelischen Belastungen, denen die Beteiligten während der Anhörungen zu Menschenrechtsverletzungen unter dem Apartheid-Regime ausgesetzt waren. Zu recht, meint Eckert, hebt Tutu hervor, wie wichtig die Aufarbeitung der Vergangenheit gewesen sei, aber auch wie begrenzt die Möglichkeiten eines Ausschusses sind, Versöhnung zu schaffen.

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