Produktdetails
- insel taschenbuch 2712
- Verlag: Insel Verlag
- 4. Aufl.
- Seitenzahl: 154
- Deutsch
- Abmessung: 10mm x 108mm x 177mm
- Gewicht: 184g
- ISBN-13: 9783458344124
- ISBN-10: 3458344128
- Artikelnr.: 08937075
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.07.2002Kein Testament
Wolfgang Koeppen
über die Stadt München
„Der Sommer kommt spät, Temperaturen um die dreißig Grad. Wer den Wind und Regen schalt, stöhnt unter der Hitze.” Solche Allerweltssätze über das Wetter werden immer mal wieder aktuell. Wolfgang Koeppen hat sie 1982 geschrieben. Er muss die harmlosen Wettersätze gemocht haben. Gerne hat er von ihnen aus kleine Brücken gebaut, die ans andere Ufer führen, in die Regionen des nicht geheuren. In der Skizze „Leonrodplatz” liegt die Brücke im vollen Licht der Sonne: „München gibt sich gern als ein Kind des Südens. Die Sonne schmeichelt der Stadt mehr als jeder anderen in Deutschland.” Es sind dann nur noch zwei knappe Sätze bis zum Ende des ersten Absatzes, und der zweite, auf dem die Brücke aufliegt, ist nur ein Stummel: „Die barocke Seele macht alles erträglich. Hauptstadt der Bewegung.”
Als Koeppen im März 1996 starb, war in die Trauer der Nachrufe Enttäuschung darüber gemischt, dass er den großen Roman, mit dem er Gerüchten zufolge umging, nicht doch noch geschrieben hatte. Es war aber nicht nur ein Romancier gestorben, sondern auch ein Meister der kleinen Form, ein nicht ganz zu Ende geborener Feuilletonist. Der Nachlass zeigt die Spuren dieser lebenslangen Geburt. Die Skizze „Leonrodplatz” zum Beispiel. Sie führt, weil das Institut für Zeitgeschichte in der Leonrodstraße den Autor an das Hygienische Institut der Universität Greifswald erinnert, in drei Absätzen von München in die Geburtsstadt Koeppens. Achtzehnjährig, als Schüler noch, wünscht er den Direktor des Instituts zu sprechen. Aber der, eine internationale Kapazität, ist nicht zu sprechen, weil „an diesem Tag die Person eines Skandals. Die Studenten hatten mit Mütze, Band und Schläger dem Professor der Bakteriologie am Vorabend einen Fackelzug der Verwerfung gegeben. Die Greifswalder Zeitung berichtete, daß der Professor Jude sei und mit den Studentinnen der Hygiene schlafe.”
Im Ungererbad
In diesem kleinen Bändchen, in dem man nicht aufhören mag zu blättern, sind Texte von Wolfgang Koeppen über München versammelt. Dass hier ein Zugereister spricht, verleugnen sie an keiner Stelle. Nie bittet der Autor die Stadt um nachträgliche Adoption, obwohl er am Ende über ein halbes Jahrhundert in ihr gelebt hat. Der sorgfältige Kommentar des kundigen Herausgebers Alfred Estermann, sagt uns, wo: von 1945 bis 1964 in der Ungererstraße 43, von 1964 bis 1967 in der Löwithstraße 2, von 1967 bis 1994 in der berühmten Wohnung in der Widenmayerstraße 45, dann bis zum Tod im Seniorenheim in der Gollierstraße 75.
Zu den vielen abgebrochenen Texten, die hier erstmals mitgeteilt werden, gehört ein undatiertes Stück, wohl aus der Nachkriegszeit, in dem der Name „Clemens” den Autor Koeppen, den es nach München verschlagen hat, nur notdürftig verhüllt. Wieder macht einAllerweltssatz über das Wetter den Anfang. Wieder weht eine frühe Erinnerung herein, diesmal vom Aufwachsen in Ostpreußen, dann kommt die noch nicht wiederaufgebaute, in Ruinen liegende Stadt mit den vielen amerikanischen Soldaten ins Bild.
„Clemens ging jeden Tag ins Ungererbad. Von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Manchmal blieb er zur Nacht. Der Zaun war niedergerissen. Überall Einlaß, keine Kasse, keine Kontrolle. in einigen Becken war Wasser, in anderen zerrissener Stahlbeton in mächtigen, scharfkantigen Stücken. Bombensplitter, Stabbrandbomben in den Rasen getaucht. Das Gras stand hoch, wucherte, ungemäht.” Wieder bleibt das Wetter, bleiben die Hundstage nicht harmlos. Es drohen Verbrüderung und Seuchen. Aber ein Satz überstrahlt alle: „Zur Nacht glühten Feuer im Ungererbad.”
Der Essay „München oder die bürgerlichen Saturnalien” (1959), der beim Erstdruck um nahezu ein Drittel gekürzt erschien, ist hier erstmals in der vollständigen Fassung nachzulesen. Am Beginn steht das Bild Münchens aus Gottfried Kellers „Grünem Heinrich”. Es kommt darin ein Totenkopf vor, den sich der Brückenbauer Koeppen beim Weg vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert nicht entgehen lässt. Der Essay ist noch immer lesenswert. Aber in seinem vorsätzlich souveränen Überblicksgestus, der Kulturhistorie und Autobiographie elegant kombiniert, enthält nicht dieser Portaltext die Essenz dieser Sammlung. Sie ist im Wust der Splitter und Anläufen zu Erzählungen, in den nie veröffentlichten Feuilletons versteckt. In den Tagebuchnotizen aus der Mitte der sechziger Jahre mit ihren trostlosen Kreuzungen, Kasernen und Manövern. In den oft nur eine oder zwei Seiten umfassenden Aufzeichnungen aus dem Alltag der Großstadt, dem Angepumptwerden im Bahnhof, dem Erschrecken angesichts einer plötzlichen Brutalität. Oder in den hinreißenden, gestochen scharfen Medaillons zu den Ausstellungen und Postern der siebziger Jahre. Oder in dem Fragment aus dem abgebrochenen Romanprojekt „Tasso oder die Disproportion”. Hinzu kommen die nicht geheuren Nachrichten aus dem Innenleben von Hotelzimmern und Wohnungen, darunter der Traumblick auf „meine letzten Seiten” in dem Stück „Camera obscura”: „Kein Testament. Das Papier ist weiß und leer.”
Der Verleger Heinz Friedrich hat zu dem Bändchen ein nachdenkliches Vorwort, die Fotografin Isolde Ohlbaum unaufdringliche Schwarz-Weiss- Fotografien beigesteuert.
LOTHAR MÜLLER
WOLFGANG KOEPPEN: Muß man München nicht lieben? Herausgegeben von Alfred Estermann. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2002. 155 Seiten, 7,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wolfgang Koeppen
über die Stadt München
„Der Sommer kommt spät, Temperaturen um die dreißig Grad. Wer den Wind und Regen schalt, stöhnt unter der Hitze.” Solche Allerweltssätze über das Wetter werden immer mal wieder aktuell. Wolfgang Koeppen hat sie 1982 geschrieben. Er muss die harmlosen Wettersätze gemocht haben. Gerne hat er von ihnen aus kleine Brücken gebaut, die ans andere Ufer führen, in die Regionen des nicht geheuren. In der Skizze „Leonrodplatz” liegt die Brücke im vollen Licht der Sonne: „München gibt sich gern als ein Kind des Südens. Die Sonne schmeichelt der Stadt mehr als jeder anderen in Deutschland.” Es sind dann nur noch zwei knappe Sätze bis zum Ende des ersten Absatzes, und der zweite, auf dem die Brücke aufliegt, ist nur ein Stummel: „Die barocke Seele macht alles erträglich. Hauptstadt der Bewegung.”
Als Koeppen im März 1996 starb, war in die Trauer der Nachrufe Enttäuschung darüber gemischt, dass er den großen Roman, mit dem er Gerüchten zufolge umging, nicht doch noch geschrieben hatte. Es war aber nicht nur ein Romancier gestorben, sondern auch ein Meister der kleinen Form, ein nicht ganz zu Ende geborener Feuilletonist. Der Nachlass zeigt die Spuren dieser lebenslangen Geburt. Die Skizze „Leonrodplatz” zum Beispiel. Sie führt, weil das Institut für Zeitgeschichte in der Leonrodstraße den Autor an das Hygienische Institut der Universität Greifswald erinnert, in drei Absätzen von München in die Geburtsstadt Koeppens. Achtzehnjährig, als Schüler noch, wünscht er den Direktor des Instituts zu sprechen. Aber der, eine internationale Kapazität, ist nicht zu sprechen, weil „an diesem Tag die Person eines Skandals. Die Studenten hatten mit Mütze, Band und Schläger dem Professor der Bakteriologie am Vorabend einen Fackelzug der Verwerfung gegeben. Die Greifswalder Zeitung berichtete, daß der Professor Jude sei und mit den Studentinnen der Hygiene schlafe.”
Im Ungererbad
In diesem kleinen Bändchen, in dem man nicht aufhören mag zu blättern, sind Texte von Wolfgang Koeppen über München versammelt. Dass hier ein Zugereister spricht, verleugnen sie an keiner Stelle. Nie bittet der Autor die Stadt um nachträgliche Adoption, obwohl er am Ende über ein halbes Jahrhundert in ihr gelebt hat. Der sorgfältige Kommentar des kundigen Herausgebers Alfred Estermann, sagt uns, wo: von 1945 bis 1964 in der Ungererstraße 43, von 1964 bis 1967 in der Löwithstraße 2, von 1967 bis 1994 in der berühmten Wohnung in der Widenmayerstraße 45, dann bis zum Tod im Seniorenheim in der Gollierstraße 75.
Zu den vielen abgebrochenen Texten, die hier erstmals mitgeteilt werden, gehört ein undatiertes Stück, wohl aus der Nachkriegszeit, in dem der Name „Clemens” den Autor Koeppen, den es nach München verschlagen hat, nur notdürftig verhüllt. Wieder macht einAllerweltssatz über das Wetter den Anfang. Wieder weht eine frühe Erinnerung herein, diesmal vom Aufwachsen in Ostpreußen, dann kommt die noch nicht wiederaufgebaute, in Ruinen liegende Stadt mit den vielen amerikanischen Soldaten ins Bild.
„Clemens ging jeden Tag ins Ungererbad. Von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Manchmal blieb er zur Nacht. Der Zaun war niedergerissen. Überall Einlaß, keine Kasse, keine Kontrolle. in einigen Becken war Wasser, in anderen zerrissener Stahlbeton in mächtigen, scharfkantigen Stücken. Bombensplitter, Stabbrandbomben in den Rasen getaucht. Das Gras stand hoch, wucherte, ungemäht.” Wieder bleibt das Wetter, bleiben die Hundstage nicht harmlos. Es drohen Verbrüderung und Seuchen. Aber ein Satz überstrahlt alle: „Zur Nacht glühten Feuer im Ungererbad.”
Der Essay „München oder die bürgerlichen Saturnalien” (1959), der beim Erstdruck um nahezu ein Drittel gekürzt erschien, ist hier erstmals in der vollständigen Fassung nachzulesen. Am Beginn steht das Bild Münchens aus Gottfried Kellers „Grünem Heinrich”. Es kommt darin ein Totenkopf vor, den sich der Brückenbauer Koeppen beim Weg vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert nicht entgehen lässt. Der Essay ist noch immer lesenswert. Aber in seinem vorsätzlich souveränen Überblicksgestus, der Kulturhistorie und Autobiographie elegant kombiniert, enthält nicht dieser Portaltext die Essenz dieser Sammlung. Sie ist im Wust der Splitter und Anläufen zu Erzählungen, in den nie veröffentlichten Feuilletons versteckt. In den Tagebuchnotizen aus der Mitte der sechziger Jahre mit ihren trostlosen Kreuzungen, Kasernen und Manövern. In den oft nur eine oder zwei Seiten umfassenden Aufzeichnungen aus dem Alltag der Großstadt, dem Angepumptwerden im Bahnhof, dem Erschrecken angesichts einer plötzlichen Brutalität. Oder in den hinreißenden, gestochen scharfen Medaillons zu den Ausstellungen und Postern der siebziger Jahre. Oder in dem Fragment aus dem abgebrochenen Romanprojekt „Tasso oder die Disproportion”. Hinzu kommen die nicht geheuren Nachrichten aus dem Innenleben von Hotelzimmern und Wohnungen, darunter der Traumblick auf „meine letzten Seiten” in dem Stück „Camera obscura”: „Kein Testament. Das Papier ist weiß und leer.”
Der Verleger Heinz Friedrich hat zu dem Bändchen ein nachdenkliches Vorwort, die Fotografin Isolde Ohlbaum unaufdringliche Schwarz-Weiss- Fotografien beigesteuert.
LOTHAR MÜLLER
WOLFGANG KOEPPEN: Muß man München nicht lieben? Herausgegeben von Alfred Estermann. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2002. 155 Seiten, 7,50 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Harmlose Wettersätze und Regionen des Ungeheuren. Und das in unmittelbarer Nachbarschaft. Für Lothar Müller zeigt sich mit diesem München-Bändchen einmal mehr, dass mit Koeppen nicht bloß ein Romancier, sondern auch ein Meister der kleinen Form gestorben ist. Ein Essay wie "München oder die bürgerlichen Saturnalien", der hier erstmals vollständig zu lesen ist, rückt für ihn in den Hintergrund angesichts der Essenz dieser Sammlung, die "im Wust der Splitter und Anläufe zu Erzählungen, in den nie veröffentlichten Feuilletons versteckt" liegt. Da sind die Tagebuchnotizen aus den 60ern, die Alltagsaufzeichnungen aus der Großstadt, die "gestochen scharfen Medaillons" zu den Ausstellungen und Postern der 70er und die "nicht geheuren Nachrichten aus dem Innenleben von Hotelzimmern und Wohnungen". Verbunden mit dem "sorgfältigen Kommentar des kundigen Herausgebers", einem "nachdenklichen Nachwort" des Verlegers Friedrich und den "unaufdringlichen Schwarz-Weiß-Fotografien" Isolde Ohlbaums ergibt das für Müller ein Buch, "in dem man nicht aufhören mag zu blättern".
© Perlentaucher Medien GmbH
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