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Es gibt diesen Moment, in dem das eigene Universum zerbricht und weit und breit kein neues in Sicht ist: Eine junge Frau sitzt mittellos und nahezu dehydriert vor einer Tankstelle im Death Valley. Als plötzlich ein Indianer vor ihr steht und ihr das Leben retten will, glaubt sie zu phantasieren. Doch das Universum setzt sich nach seinen eigenen Regeln wieder zusammen. Schon bald teilen sich die beiden einen Doppelwhopper, gehen gemeinsam ins Casino und stranden schließlich in einem dieser schäbigen Motels, die es eigentlich nur im Film gibt. Karen Köhlers Erzählungen sind getragen von einer…mehr

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Produktbeschreibung
Es gibt diesen Moment, in dem das eigene Universum zerbricht und weit und breit kein neues in Sicht ist: Eine junge Frau sitzt mittellos und nahezu dehydriert vor einer Tankstelle im Death Valley. Als plötzlich ein Indianer vor ihr steht und ihr das Leben retten will, glaubt sie zu phantasieren. Doch das Universum setzt sich nach seinen eigenen Regeln wieder zusammen. Schon bald teilen sich die beiden einen Doppelwhopper, gehen gemeinsam ins Casino und stranden schließlich in einem dieser schäbigen Motels, die es eigentlich nur im Film gibt. Karen Köhlers Erzählungen sind getragen von einer fröhlichen Melancholie und einer dramatischen Leichtigkeit. Ihre Figuren sind wahre Meisterinnen im Überleben.
Autorenporträt
Karen Köhler wurde in Hamburg geboren, sie wollte Kosmonautin werden, hat Fallschirmspringen gelernt und an der Hochschule für Musik & Theater in Bern Schauspiel studiert. Nach zwölf Jahren am Theater begann sie zu schreiben und veröffentlicht heute Theaterstücke, Drehbücher, Hörspiele, Essays, Erzählungen und Romane. Stipendien- und Lehraufenthalte haben sie nach Tirana, Reykjavik, Marseille, London und New York getragen. Ihr Lebensmittelpunkt ist St. Pauli. Ihr vielgelobter Erzählungsband Wir haben Raketen geangelt erschien 2014 im Hanser Verlag und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Ebenso ihr Roman Miroloi (2019). Sie schreibt regelmäßig für das ZEITmagazin. Seit 2008 schreibt sie für das Kinder- und Jugendtheater, Himmelwärts (2024) ist ihr erster Roman für Kinder.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2014

Unser Schmerz
Erzählungen am offenen Herzen: Karen Köhlers phänomenales Debüt

Siebzehn Postkarten aus dem Nirgendwo. Er ist fortgelaufen am Morgen, eine Szene wie im Film. "Versuche etwas herauszufinden", stand auf der ersten Karte und "Mein Telefon ist aus". Sie sitzt am Küchentisch, allein, verloren, wartet auf das "Plopp" im Briefkasten vor der Tür. Es ist nicht viel, was er schreibt, nichts Wichtiges. Und doch hängt an seinen Zeilen ein Leben, ihr Leben. Sie hofft und betet, dass er zurückkommt, dass er ihr mit einem Lächeln aus dem Leid hilft wie aus einem schweren Mantel. Aber er schreibt nur "Halt durch" und "Hab Vespa fahren gelernt". Manchmal ist ein kurzes PS dabei, die Zitronen seien hier groß wie Bauarbeiterfäuste.

Wozu das alles, warum nur? Neapel, Ischia, Stromboli - die Stempel auf den Karten verraten Ort und Datum, zeigen ihr hämisch die wachsende Entfernung, immer wieder aufs Neue. Und sie bleibt sitzen und fröstelt. Mit jedem Satz auf der Karte pellt sich eine weitere Schutzschicht von ihrem Herzen ab, bis es schließlich offen daliegt, ganz ungeschützt und nackt. "Ich brauche noch", schreibt er, aber dann auch wieder: "Ich vermisse Dich". Es ist ein Handel auf ungleicher Ebene: Der eine ist gegangen, kann schreiben und zögern, ganz nach Belieben, die andere ist geblieben, abgelegt worden, verdammt zum Warten. Sie ruft an, immer wieder, um ihre Nachrichten nach dem Piepton in ein leeres Loch zu schicken.

Die zwölfte Karte zeigt Amalfi bei Nacht - eine Katze überfahren, der Rucksack geklaut, ein Grappa aufs Haus. Und auf einmal steht da wieder: "In Liebe", "Ich warte auf Dich". Und nun? Was jetzt? Wird sie hinfahren, Hals über Kopf, mit wehendem Schal auf ihn zulaufen am Kai? Oder wird sie bleiben, Stille und Stolz bewahren, jetzt, da sich alles umkehrt. Wird sie die Postkarten in die Tischschublade einschließen, sich das Haar richten und auf die Straße treten? Man weiß es nicht. Es kommen keine Karten mehr, die letzte Seite bleibt weiß. Nur unten rechts wartet mit buschigem Schwanz ein kleiner Luchs im Scherenschnitt, um den Leser hinüber zu geleiten zur nächsten Geschichte. "Polarkreis" heißt die Erzählung, nur wenige Sätze stehen da jeweils, gerade eben so viele, wie auf eine Postkarte passen. So viele, wie es braucht, um sich in eine Trennungsgeschichte einzufühlen. Mit all ihrer Gemeinheit, Traurigkeit, Ungerechtigkeit und Falschheit. Und der verzweifelten Enttäuschung darüber, dass er, der doch eben noch der Engvertraute war, auf einmal fern ist. Das ist am Ende doch der größte Betrug, dass da einer mir nichts, dir nichts einfach so zum Fremden wird.

Um dann vielleicht auf einmal wieder vor der Tür zu stehen. Einfach so. Als wäre nichts gewesen. Wie in "Name.Tier.Beruf", einer anderen Erzählung von Karen Köhler. Ein Weggegangener im Großstadtanzug und eine Hiergebliebene mit Abwaschschaum im Haar, im Schrillen der Türklingel verdichten sich fünfzehn Jahre: "Kann ich reinkommen?" Es ist der Moment, in dem das Gedächtnis vom Jetzt überfallen wird. Im bemüht unbeteiligten Austausch der gemeinsamen Dorfjugenderinnerung zerrinnt die lang gehegte Wunschvorstellung von der ersten Wiederbegegnung zur Plattitüde mit Wodkashots und Gewürzgurken. "Ich hab damals sogar deinen Müll durchsucht", sagt sie. "Verrückte Nudel", sagt er. Und später dann, wenn sie beide auf dem Friedhof stehen, wo ihre Schwester liegt, die damals älter, hübscher und deshalb seine Freundin war, bis sie an den Baum fuhr und er aus Trauer in der Scheune einmal die jüngere nahm, als sie da stehen, ohne Mond, da sagt sie schnell und platt: "Da liegt auch dein Baby. Ich habs mit reingelegt, als ichs verlor."

Die existentielle Wucht, mit der den Leser die Sätze treffen, rührt nicht von besonders ausgefallenen Szenenbeschreibungen, nicht vom ungewöhnlichen und effektvollen Handlungsverlauf. Es ist vor allem der besondere, an den amerikanischen Theaterautor Neil LaBute erinnernde Grundton, der kompromisslos direkt aufs Ganze hin zielt, der immer nah am Abgrund spielt, der einen so aus der Fassung bringt.

Karen Köhler, 1974 in Hamburg geboren, hat Schauspiel studiert und war einige Jahre am Theater engagiert. Auf ihrer Website steht, dass sie eigentlich Kosmonautin werden wollte, Fallschirmspringen gelernt und Performances mit Sandra Hüller aufgeführt hat. Bisher hat sie vor allem Theaterstücke für Kinder und Erwachsene geschrieben, "Wir haben Raketen geangelt" ist ihr erster Prosaband, mit dem sie gleich nach Klagenfurt eingeladen wurde. Aber dann bekam sie die Windpocken und konnte nicht fahren. Schicksalhaftes Anfängerglück.

Ihr Erzählband wartet mit einem reichen Panorama auf. Vom kranken Indianer in der Wüstenraststätte bis zur philosophierenden Einsiedlerin im russischen Hochland, jede der Geschichten setzt neu, an ganz anderer Stelle an und findet doch wieder zum einen Thema zurück: Fast immer geht es in Köhlers Erzählungen um den ewig lang hinausgezögerten oder sich ganz unvermittelt einstellenden Moment der Trennung. Vom Partner, vom Beruf, vom Leben.

Eine junge Frau auf einem Hochsitz an einer kleinen Lichtung. Sie ist gekommen, um zu bleiben. Bis zum Schluss zu bleiben. Die Kälte dringt durch die Ritzen, der Hunger sticht ihr zwischen die Rippen. In der Stille der Morgendämmerung liegt sie wach und malt sich Speisemenüs aus. Jeden Tag schreibt sie ein paar Sätze auf, gegen die Sirenen des Rettungswagens, gegen die Lippen der Polizisten, die die Nachricht vom Unfalltod ihres Mannes formten. "Für Dich, B. Ich schreibe alles auf". Die Bewegungen werden anstrengender, die Nächte immer klammer, die Einträge knapper: "Mir ist heut nicht viel" und "Du fehlst mir so". Am Ende, als die Zunge sich schwer und fremd anfühlt, keinen Speichel mehr produzieren will und die Haut zu Pergament geworden ist, als die letzten Erinnerungskaskaden wie beim Daumenkino immer schneller vorbeirasen, kommt der Schnee und legt sich sanft auf das verglühende Herz.

Mit ihrer ruhigen, zurückhaltenden Beschreibung der unendlichen Verzweiflung und des erlösenden Selbstmords im Schnee erinnert "Wild ist Scheu" an Vladimir Nabokovs "Der Pol", jene Schilderung der letzten Lebensminuten des glücklosen Südpolreisenden Robert F. Scott, der auf dem Rückmarsch seiner gescheiterten Expedition entkräftet, übermüdet und hungrig im Schnee erfriert - sein Tagebuch in der Hand. Ein Abschied in Stille, ganz wie der der jungen Frau auf dem Hochstand, am Rand des Waldes, bewacht von den grasenden Rehen.

Das Wunderbare, ungemein Suggestive an dieser neuen jungen Autorinnenstimme ist ihr Mut zum Wiedererzählen. Sie kennt keine Angst vor Sonnenuntergängen, vor dem Zettel auf dem Küchentisch mit dem Satz "Bin Zigaretten holen" oder den zwei Mädchen auf der Schultoilette, die sich ewige Freundschaft schwören. Auch der absurde Horror einer Kreuzschifffahrt wird beschrieben, ganz egal, ob sich das nach David Foster Wallace eigentlich noch jemand trauen sollte oder nicht. Viele der Szenen und Sätze, die hier vorkommen, meint man wiederzuerkennen, sind gesammelte Werkstücke aus unserem kollektiven Erfahrungsschatz.

Vielleicht ist das für den einen oder anderen Leser nicht genug. Vielleicht taugen die hingeschleuderte Wehmut und der schlichte Satzbau nicht als Aufhänger für das reflexhaft verliehene Gütesiegel einer neuen, immer noch dringlicheren Generation deutscher Gegenwartsliteratur. Und vielleicht reicht das Provokationspotential nicht aus, um eine Kritikerjury in Rage zu bringen. Aber: Wen interessieren am Ende die Jurys und Klappentextsiegel, wenn man an einem dieser sommerlichen Gewitterabende zu Hause sitzt, ohne Mut und mit leerem Kühlschrank, und einem Köhlers Sätze gegen den Kopf schlagen wie zurückschnellende Äste im Dickicht des Alltags.

Hier gibt es keine hochtrabende Programmatik, keinen Drang, gegen irgendjemanden Positionskriege zu führen, weder Standortbestimmung noch Ideologie ist Ziel der Unternehmung. Es geht ums Geschichten-Erzählen und ums Stimulieren von Gefühl und Sinn. Dabei hat die Autorin auch keine Angst vor dem halbhohen Ton. Zum Glück, denn ihre Sprache nimmt so mitunter lyrische Züge an, spannt die Flügel der Seele weit auf. Im besten Sinne altmodisch ist Köhler in ihrem Vertrauen auf die emotionale Fähigkeit des Lesers, sich von Bildern und Worten anrühren zu lassen.

"Findling" heißt die letzte Geschichte, in der eine alte sterbende Frau einen Brief schreibt an den, der ihren Körper einst finden wird. Berührende und traurige Worte einer einsamen Baucis: "Aber du wirst kommen, eines Tages, ich weiß es, du wirst kommen und mich den Hügel hinauftragen zu den Meinmeinen. Ich bin alt und schwach, ich weiß, dass ich den Frühling nicht mehr sehen werde. Wenn Du mich findest, bitte, lege mich zu den Meinmeinen. Ich habe mir ein Grab ausgehoben. Vor langer Zeit schon, als ich noch Kraft genug hatte. Auch ein Kreuz liegt bereit. Es steht hier neben dem Bett. Mein Name steht drauf. Ich bin Asja. Das war mein Leben. Dies ist mein siebzigster Winter."

Wie gut, dass die Autorin Windpocken bekommen hat, die Krankheit hat ihr (und uns) eingeübte Betriebsdiskussionen erspart. Sentimentalische Dichtung hieß einmal eine Gattung in der Literatur, an die man hier denkt. Aber Karen Köhler braucht kein Gütesiegel. Ihre Geschichten sind ebenso aus der Zeit gefallen wie modern, ganz so wie man immer wieder neu und aufgeregt in der Neujahrsnacht auf einer Brücke steht und mit den Blicken hoch am Himmel Raketen angelt.

SIMON STRAUSS

Karen Köhler: "Wir haben Raketen geangelt". Erzählungen. Hanser-Verlag, 240 Seiten, 19,90 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Karen Köhlers Debüt "Wir haben Raketen geangelt" enthält neun Erzählungen und nicht ein einziges "beliebiges Wort", berichtet Ursula März. Die scheinbar zeitgeisttypisch gehaltene Sprache könnte leicht darüber hinwegtäuschen, wie präzise die Autorin in ihren Formulierungen ist, weiß die Rezensentin, die ganz angetan von den temperamentvollen, künstlerisch autonomen und raffiniert konstruierten Erzählungen ist und ihnen "Virtuosität" und einen "fetzigen Sound" attestiert. Die Erzählung "Polarkreis" bestehe etwa nur aus zwei Briefen und siebzehn Postkarten, während die titelgebende Story aus 31 Kurzszenen, Dialogen und Musikstücken zusammengesetzt ist, die sich erst nach der Lektüre als Nekrolog auf einen verstorbenen Freund herausstellen. Die meisten Figuren verlieren erst alle Sicherheiten - meist in Form von Jobs und Gepäck, verrät März - und werden nur mühsam, falls überhaupt, gerettet. Hier ist "Meisterschaft am Werk", jubelt die Kritikerin.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.10.2014

Zum Unglück? Erste Abzweigung links
Temporeiche Katastrophen-Kreuzfahrt: Karen Köhlers Erzählungsband „Wir haben Raketen geangelt“
Trennungen und Todesfälle, Krebs und Chemotherapie, zwei vollendete Selbstmorde und ein in Arbeit befindlicher, ferner eine Fehlgeburt, Trunksucht, Demenz, Inzest, ein Vergewaltigungsversuch und eine rassistisch motivierte Schlägerei: Lauter schlimme Geschichten sind es, die Karen Köhler, Jahrgang 1974, in ihrem Debüt-Prosaband versammelt. Einmal ist denn auch, als wär’s ein Resümee, die Rede von der „Beschissenheit der Welt“, doch das geht ein wenig unter, weil Kommentare wie „Scheiße“, „Shit“ oder „Fuck“ auch an anderen Stellen die Dinge auf den Punkt bringen. Köhlers Ich-Erzählerinnen, mit einer Ausnahme eher jung, schleppen schwere Schicksalspakete über kurze und kürzeste Erzählstrecken, deshalb muss ihre Sprache so lakonisch wie möglich sein und zugleich ein Höchstmaß an Dramatik transportieren. Denn hier geht es immer ums Äußerste, um Grenzsituationen und extreme Gefühlszustände.
  „Ich verletzte mich an allem“, heißt es im Bericht einer Frau, die von ihrem Lebensgefährten verlassen wurde. „Am Zahnputzbecher. Dem stummen Telefon. Gerüchen. Und Gerüchen, die verblassten. An Musik. An Freunden und Bekannten, die es alle schon viel früher wussten. Ich verletzte mich an meinem Alter. An der Straße. An Büchern und Tageszeitungen. Der Post im Briefkasten. Der Post, die nicht mehr im Briefkasten war.“ Die Frau ist Schauspielerin, wie übrigens auch Karen Köhler in ihrem Erstberuf. Zwecks Trauerbewältigung hat sie in der Entertainment-Crew eines Kreuzfahrtschiffs angeheuert, als „erste Qualle von links“ in einem Unterwassermusical. Und schon ereignet sich das nächste Unglück, das die Heldin zwar nicht direkt betrifft, aber Zeichencharakter hat: „Ob wir es schon gehört haben? Was denn? Das mit der Leiche? Welcher Leiche? Die jetzt in einem Kühlraum auf Deck 2 liegt! Was? Ja! Seit wann? Seit letzter Nacht. Und wer ist der Tote? Ein Mann, schon älter. Pax oder Crew? Pax. Wann ist es passiert? Gestern Abend. Herzinfarkt. Kurz hat er noch gelebt.“
  Man muss sich Karen Köhlers Erzählsound über weite Strecken so vorstellen wie dieses kurzatmige Katastrophen-Kommuniqué. Die Anmutung ist zunächst einmal cool, flott und fetzig, da hier immerhin ein gutes Gespür für Rhythmus am Werk ist. Mitunter wird das Stakkato sanfter und gewinnt nahezu lyrische Qualitäten, etwa wenn die Kreuzfahrerin auf den Lofoten den kühnen Entschluss fasst, an Land zu bleiben, und das Auslaufen ihres schwimmenden Wohlfühlghettos von einem Berggipfel aus beobachtet: „Vereinzelt fallen Sonnenstrahlen durch die Wolkenlöcher. Ein Polizeiwagen fährt auf einer Straße. Ein Wasserfall rauscht irgendwo. Aus Miniaturhäuserschornsteinen steigt Rauch. Auf einem Campingplatz treffen sich Motorradfahrer. Ein Regenbogen spannt sich auf. Ich schlage meine Wurzeln in den Boden. Ich bin Unkraut. Drei Mal tutet das deutsche Schiff. Und fährt.“
  Unübersehbar kündigt sich hier eine Heilung der Verletzung an, eine Befreiung, ein Wiedergewinn der Autonomie. Das ist offenbar Karen Köhlers Anliegen: Mit minimalistischen Mitteln Bedeutung zu schaffen, Bewegungen der Seele darzustellen, aber auch unerklärliche Fügungen zu insinuieren – und Furchtbares durch einen poetisch erzeugten Hoffnungsschimmer zu mildern. Oft gelingt es ihr, manchmal landet sie dort, wo Frauenmagazine ihre Leserinnen abholen.
  In der Schiffsgeschichte mit dem Alarmleuchten-Titel „Starcode Red“ ist die Ausgangslage noch vergleichsweise harmlos, ebenso wie in „Cowboy und Indianer“, wo die psychisch angeschlagene Erzählerin im Death Valley von einer leibhaftigen Rothaut vor dem Hitzetod gerettet wird und nach einem Autotrip voller Entbehrungen kathartische Erleichterung findet. Und in „Name. Tier. Beruf“ hat die Heldin nach der Wiederbegegnung mit einem Jugendfreund, die schmerzhafte Verluste in Erinnerung ruft, sogar das Gefühl, „dass da jetzt ein Ort in mir ist“.
  Härter trifft es die Tagebuchschreiberin in „Wild ist scheu“, die sich auf einem spätherbstlichen Hochsitz zu Tode hungert, nachdem ihr Partner bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. In der aus 31 miniaturkurzen Szenen bestehenden Titelstory „Wir haben Raketen geangelt“ hat sich der Freund mit Tabletten umgebracht, und im Eingangsstück „Il Comandante“ verbinden sich die schonungslos geschilderten Schrecken der Krebstherapie mit der Trauer um einen Mitpatienten, der wie ein geheimnisvoller Beistand plötzlich auftaucht, Kraft spendet und bald darauf das Zeitliche segnet. Einigermaßen gruselig geht es auch in den sechs kurzen „Familienportraits“ zu, die womöglich, das wird nicht ganz klar, Motive und Figuren der längeren Geschichten wieder aufnehmen. Aus dem Rahmen fällt „Polarkreis“, die eher unaufgeregte Postkarten- und Briefserie einer Beziehungsflüchtigen: Sie gönnt sich eine Auszeit in Italien, merkt aber schon nach einem Monat, dass ihr an einem Happy End mit Ring auf der Insel Stromboli gelegen ist.
  Und dann gibt es da noch den Monolog einer Greisin im ländlichen Russland, auf dem Sterbebett notiert – die alte Frau hat es schwer gehabt im Leben, dennoch bleibt dunkel, was diese brave Rollenprosa unter Karen Köhlers gegenwartsnahen, zeitgeistgefärbten Texten zu suchen hat. Vielleicht handelt es sich um eine Fingerübung in Langsamkeit, im Zuendeschreiben von Sätzen und im ruhigen Gebrauch der Vergangenheitsform nach all den atemlosen Ellipsen, dem Präsens-Rausch zwischen Dramen- und Reportagestil. Wenn dem aber so ist, dann könnte das erklären, warum auch der Rest des Bandes, diese ganze Kollektion existenzieller Traumata, romantischer Träume und exotischer Phantasien, mitsamt ihrem rotzig-juvenilen Pathos zuweilen etwas angestrengt wirkt, so sehr um Lockerheit und Authentizität bemüht, dass die Glaubwürdigkeit leidet: Karen Köhler besitzt ein bemerkenswertes Erzähltalent, aber sie übt noch, und das ist ihr gutes Recht. Komisch nur, dass sie bei ihrer Affinität zu allem Amerikanischen den berühmten Energydrink „Gatorade“ mehrmals falsch buchstabiert.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Sammelt Traumata und romantische Träume: Karen Köhler.
Foto: Lumma-Foto
        
  
  
  
Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt.
Erzählungen. Carl Hanser Verlag, München 2014.
240 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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"Womöglich rührt die besondere Anziehungskraft dieser Erzählungen vor allem daher, dass Karen Köhler ihren Protagonistinnen viel, manchmal alles zumutet, ihnen aber zugleich bedingungslos beisteht. Die feinnervige Verbindung von Empfindsamkeit und Behauptungswillen jedenfalls macht ihre Frauenfiguren zu unvergesslichen Heldinnen." Holger Heimann, Deutschlandfunk, 28.01.15

"Karen Köhler ist der überraschendste Debüt-Erfolg des Jahres gelungen." Redaktion der Süddeutschen Zeitung, Süddeutsche Zeitung, 30.12.14

"Das Debüt des Jahres! Karen Köhler schreibt Geschichten so geistesvoll, voller Witz, mit gekonnten Dialogen und wie beiläufig dargebotenen Pointen, dass es die schiere Lesefreude ist." Peter von Becker, Der Tagesspiegel, 06.12.14

"Diese Autorin hat keine Angst vor zu viel Gefühl. Sie beschreibt Empfindungen in extremster Form; beim Lesen am besten irgendwo festhalten." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.14

"Auf Geschichten wie diejenigen von Karen Köhler haben wir lange gewartet: Sie sind unsentimental, witzig, dabei grundernst." Elke Heidenreich, Cicero, 09/14

"Leute lest mehr Erzählbände. Wenigstens dieses Debüt. Indianer kommen vor und tanzende Quallen, der totale Tod und das schöne Leben. Eine echte Rakete." Elmar Krekeler, Die Welt, 04.10.14

"Köhlers leuchtende Geschichten erzählen leichtfüßig und drastisch zugleich von Heldinnen, die stark und verletzlich sind." Dana Buchzik, Die Welt, 04.10.14

"Neun fröhlich-melancholische Geschichten voller Überraschungen und Hoffnung. Perfekte Herbst-Literatur!" Brigitte, 24.09.14

"Dieses Buch zeugt von großem erzählerischen Gestaltungswillen, und es ist ein sehr guter Grund, mal wieder Kurzgeschichten zu lesen." Claudia Voigt, KulturSpiegel, 29.09.14

"Eines der fünf großen Bücher der Herbstsaison." Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.08.14

"Karen Köhler ist die Entdeckung dieser Saison: Die Schauspielerin hat mit Ihrem Erzähldebüt 'Wir haben Raketen geangelt' viel gewagt und fast alles gewonnen. ... Was dieses Debüt besitzt und was es so sympathisch macht, das sind vor allem zwei Eigenschaften: echtes Temperament und künstlerische Autonomie. ... Reden wir nicht darum herum: Da ist Meisterschaft am Werk." Ursula März, Die Zeit, 21.08.14

"Das Debüt des Jahres." Peter von Becker, Tagesspiegel, 06.12.14

"Keine Angst vor zu viel Gefühl: Die Schauspielerin Karen Köhler hat mit 'Wir haben Raketen geangelt' einen hinreißenden Erzählungsband geschrieben. ... Ein Buch über Frauen, aber kein Frauenbuch." Sandra Kegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.08.14

"Karen Köhlers Geschichten sind ebenso aus der Zeit gefallen wie modern, ganz so wie man immer wieder neu und aufgeregt in der Neujahrsnacht auf einer Brücke steht und mit den Blicken hoch am Himmel Raketen angelt." Simon Strauß, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.08.14

"Sie schreibt lakonisch, knapp, und sie endet sanft: So ist es eben. Karen Köhler wollte Kosmonautin werden, nun ist sie eine: eine neue Stimme im Kosmos der Literatur." Elke Heidenreich, Cicero, September 2014

"Den Kosmos der Literatur mischt sie jedenfalls auf mit ihren Momentaufnahmen der Seele und des bekloppten Lebens, von dem wir nur ein einziges haben." Elke Heidenreich, Stern, 04.09.14

"Ein starkes Debüt." Hans-Jost Weyandt, Spiegel Online, 10.10.14

"Von existenziellen Situationen zu sprechen ist eine Kunst. Karen Köhler kann das in einer selten gelesenen Balance zwischen Leichtigkeit und höchster Tragik." Verena Auffermann, Deutschlandradio Kultur, 08.10.14

"Die feinnervige Verbindung von Empfindsamkeit und Behauptungswillen jedenfalls macht ihre Frauenfiguren zu unvergesslichen Heldinnen." Holger Heimann, Deutschlandfunk, 28.01.15
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Die fünf großen Bücher der Herbstsaison

Was müssen wir lesen, um uns selbst zu verstehen? Zwei Romane, eine Biographie, einen Erzählungsband und ein Erinnerungsbuch. Einer der Romane kommt aus Amerika, die anderen vier beweisen die gegenwärtige Stärke der deutschen Literatur.

Von Andreas Platthaus

Das wichtigste Buch des kommenden Bücherherbstes stand schon vor einem Jahr fest. Damals erschien in den Vereinigten Staaten der Roman "The Circle" von Dave Eggers, und er wurde sofort als das beklemmende Porträt eines modernen Geschäftsgebarens erkannt, das die Ausbeutung auf eine Stufe geführt hat, die sich selbst das neunzehnte Jahrhundert nicht hätte träumen lassen (F.A.Z. vom 5. Juli). Sprach man früher erschaudernd vom Manchester-Kapitalismus, so hat Eggers nun in seinem Buch den Silicon-Valley-Kapitalismus als ungleich perfideres System beschrieben: Unter der Vorspiegelung individuellen Vergnügens und Gemeinschaftsgeists wird bedingungsloser Einsatz für das Unternehmen nicht mehr nur während der Arbeits-, sondern auch während der Freizeit verlangt.

Jeder Leser des am 14. August auf Deutsch erscheinenden Romans wird hinter Eggers' fiktivem Monopolisten auf dem Suchmaschinen-, Freemail- und SMS-Markt der nahen Zukunft das reale Vorbild erkennen: Google. Im Firmennamen "Circle" klingt diese Verwandtschaft schon phonetisch an, und es bereitet dem 1970 geborenen Schriftsteller ein diebisches Vergnügen, in seine Unternehmensbeschreibung zahllose Details einzuflechten, für deren Recherche er sich nur ein paar Meilen von seinem Wohnhaus in San Francisco wegbewegen musste, um bei Google, aber auch bei GitHub, Pixar, oder Apple die angeblich pure Lust an einem campusartigen Arbeitsplatz zu finden, den man als dort Beschäftigter besser gar nicht mehr verlässt.

Sonst ergeht es einem wie Eggers' vierundzwanzigjähriger Protagonistin Maebelline Renner Holland, die von Circle angeheuert und im Laufe der 550 Seiten Romanhandlung mit Haut und Haaren vereinnahmt wird. "Leidenschaft, Partizipation, Transparenz" lauten die Schlagworte, die das Unternehmen sich auf die Fahne geschrieben hat, und wenn Mae sich in ihre Privatsphäre zurückziehen, allein ein Hobby pflegen will, muss sie sich von ihrem Vorgesetzten anhören: "Was glaubst du, wie sich andere Circler fühlen, wenn sie wissen, dass du ihnen physisch so nah bist, dass du augenscheinlich Teil einer Community bist, aber ihnen nicht verraten willst, was für Hobbys und Interessen du hast. . . Du spielst deinen Part. Du musst part-izipieren." Wer Karriere machen will, sollte da wohl mitspielen.

Nun muss das wichtigste Buch der Saison nicht auch das beste sein. Literarisch hat Eggers wenig zu bieten, die Dialogführung ist hölzern (und die deutsche Übersetzung macht das nicht besser), seine Figuren sind bewusst eindimensional, das Erzählprinzip von "Der Circle" lautet prosaischer Realismus. Es ist Romanmanipulation, was Eggers hier betreibt: Zeitdiagnostik eingebettet in Fiktion, gewürzt mit etwas Sex und Mysterium. Dass man dem Geschehen trotzdem atemlos folgt, ist der Hellsicht von Eggers' zu verdanken, nicht seinem Talent als Romancier.

Die beste Belletristik dieses Herbstes kommt aus Deutschland, doch da sind nicht vorrangig Romane zu nennen. Mit einer Ausnahme: Nino Haratischwilis "Das achte Leben (Für Brilka)". Die 1983 in Georgien geborene, mit zwanzig Jahren als Theaterregisseurin und -autorin nach Deutschland gekommene Haratischwili hat ein Buch geschrieben, das im Umfang (fast 1300 Seiten) maßlos ist, doch jeden Satz braucht. Im Gegensatz zu Eggers fesselt vor allem die erzählerische Souveränität, mit der Frauenschicksale einer georgischen Familie übers zwanzigste Jahrhundert hinweg verfolgt werden.

Gleich im Prolog findet Haratischwili ihre ästhetische Leitmetapher: das Teppichgewebe. "Du bist ein Faden, ich bin ein Faden", erklärt die genau zur Jahrhundertwende geborene Anastasia Jaschi ihrer 1973 geborenen Urenkelin Niza, "zusammen ergeben wir eine kleine Verzierung, mit vielen anderen Fäden ergeben wir ein Muster." Nach diesem Prinzip ist der Roman gebaut, ein bunteres Gewebe ist kaum denkbar. Die Lektüre vermittelt eine überschäumende erzählerische Lust, der man Volten und Vexierspiele leicht verzeiht, weil jeder Erzählfaden wieder eingewoben wird in diesen Sprachbilderteppich, dessen Textur zusätzlich davon profitiert, dass Harataschwili als georgische Muttersprachlerin den Mut zu Formulierungen hat, die isoliert wie Exotismen oder Archaismen wirken könnten, aber im munteren Hin und Her der Sprachweberschiffchen integriert werden in ein fürwahr episches Deutsch.

Vor drei Jahren habe ich Nino Haratischwili erstmals aus diesem Roman vortragen hören; sie gewann damit den Kranichsteiner Literaturförderpreis. Damals las sie den Auftakt, der sich aber heute unvergleichlich komplexer präsentiert. Das Ineinandergreifen der Erzählstränge wird hier durch eine Montagetechnik vorgeführt, deren Resultat eine leitmotivisch-literarische Ouvertüre ist - wie in Uwe Tellkamps "Der Turm", dem von Anspruch und Umfang einzig vergleichbaren Projekt der neueren deutschen Literatur. An der Aufnahme des Romans von Nino Haratischwili wird sich erweisen, ob Wortwagemut noch belohnt wird.

"Ich habe dir alle Worte aufgeschrieben, die ich besaß." Das sagt die Ich-Erzählerin Niza am Ende des Buchs zu ihrer elfjährigen Nichte Brilka, dem jüngsten Sprössling der Jaschis. Niza hat über 1300 Seiten hinweg um Brilkas Leben erzählt: von sieben Leben, um ein achtes zu retten. Denn ohne Wissen um die Vergangenheit, um Herkunft, Schuld und Verdienst - das ist die zentrale Aussage des Romans -, zerfällt das Webmuster unserer Existenz. Darum muss erzählt werden, mit aller Kraft, mit allen Worten.

Oder mit allem Geschick. So wie es Karen Köhler tut. "Wir haben Raketen geangelt" heißt ihr spätes Buchdebüt - die wie Nino Haratischwili in Hamburg lebende Schriftstellerin ist vierzig Jahre alt -, und es ist ein Gesamtkunstwerk vom ausfaltbaren Schutzumschlag, den die Autorin selbst gestaltet hat, bis zur Reihenfolge der neun Geschichten. Eine davon hätte sie kürzlich in Klagenfurt vorlesen sollen, doch Köhler erkrankte - als erste Teilnehmerin überhaupt in den fast vierzig Jahren des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. Was Juroren und Publikum dadurch entging, kann man als Auftakt ihres schmalen Bandes nachlesen: die Erzählung "Il Commandante" über sechs Tage im Leben einer krebskranken jungen Frau, die einen lebenszugewandten alten Mann kennenlernt. Es braucht nicht mehr zum Glück, nicht für die Kranke und nicht für die Leser.

Karen Köhler liebt hochsymbolische Konstellationen, das zeigt schon das Schemabild auf der Innenseite des Schutzumschlags, das ein kartographiertes Bestiarium für ihre Erzählungen bietet. Bisweilen wird es dabei banal, etwa in der aus Postkartenbotschaften bestehenden Erzählung "Polarkreis". Immer dann, wenn Karen Köhler harmonische Lösungen wählt, verrennt sie sich. Wo sie aber ambivalente Stoffe wählt, wie in der hinreißend traurigen Titelgeschichte des Buchs, betritt sie den Gipfel. Wenn eine deutsche Erzählung der letzten Jahre, dann diese.

Und wenn ein Memoirenbuch, dann "Tumult", die im Oktober erscheinenden Erinnerungen von Hans Magnus Enzensberger. Alles, was das Hexerwerk des Schriftstellers ausmacht, steckt in dieser Schilderung der sechziger Jahre: die essayistische Beobachtungsgabe, die lyrische Virtuosität, die epische Gestaltungskraft und vor allem der sardonische Witz. Schließlich hat Enzensberger schon einmal eine "Erinnerung an die sechziger Jahre" publiziert: als Gedichtzyklus, der bereits 1964 erschien.

Diesmal könnte man glauben, er machte Ernst. Wir begleiten Enzensberger durch ein fürwahr tumultuöses Jahrzehnt: zu Chruschtschow auf die Krim, nach Kuba, ins zerrissene Amerika der Vietnam-Kriegsjahre, natürlich auf die Demonstrationen der Achtundsechziger und in die Berliner Kommune 1. Doch unser Cicerone gibt sich so unbeteiligt wie wir; er schöpft angeblich nur aus mirakulös nach fast einem halben Jahrhundert wiederaufgetauchten eigenen Notizen: "Der Mensch war mir fremd, den ich in den Papieren, die ich in meinem Keller fand, angetroffen habe." Also begibt sich Enzensberger in eine Auseinandersetzung mit seinem jüngeren Selbst, ein Erzählprinzip, das in der lange Jahre von ihm herausgegebenen Buchreihe "Die Andere Bibliothek" exemplarisch der französische Comiczeichner Moebius vorgemacht hat.

"Das einzige, was mich interessierte, waren seine Antworten auf die Frage: Mein Lieber, was hast du dir bei alledem gedacht?" Enzensberger wäre nicht er selbst, würde er sie liefern. Stattdessen erzählt er etwas anderes. Nicht als "Mein Lieber" müsste er den jüngeren Adressaten seiner behaupteten Selbstprüfung anreden, sondern als "Mein Liebender". Denn auf einer der damaligen Russland-Reisen verliebte er sich in Maria Alexandrowna Makarowa, dann verlobte er sich und heiratete sie, und die Liebesgrüße aus Moskau sind der eingewobene rote Faden, der diesen Textteppich fliegen lässt. Einen "russischen Roman" nennt Enzensberger selbst die Geschehnisse, und genauso liest sich dieses Schelmenstück einer Autobiographie. Zwei Jahre währte die Ehe, dann war sie und waren die sechziger Jahre am Ende. Von "Tumult" aber wünschte man, es endete nie.

Aber wer weiß, was noch in Enzensbergers Keller liegt? Dagegen kommt das größte Biographienvorhaben der neueren deutschen Literaturgeschichte jetzt unwiderruflich an sein Ende. Reiner Stach schließt seine dreibändige Kafka-Biographie ab - am 24. September erscheint der erste Band, der den Jahren von der Geburt 1883 bis 1911, als Kafka seine schriftstellerische Berufung gefunden hatte, gilt. Vor zwölf Jahren, als zum Auftakt der Mittelband der Trilogie herauskam, begründete Stach diesen ungewöhnlichen Schritt mit dem noch unzugänglichen Nachlass von Max Brod, in dem er unentbehrliche Quellen für Kafkas frühe Jahre vermutete. An dieser Unzugänglichkeit hat sich nichts geändert, aber der nun nachgereichte erste Teil lässt trotzdem nichts vermissen.

Stachs Biographie hat Epoche gemacht, inhaltlich ohnehin, aber mehr noch stilistisch, weil die Verschmelzung von Leben, Werk und Umfeld hier auf eine Weise erfolgt, die selbst hochliterarisch ist, aber nichts Angestrengtes hat, obwohl sie dem Biographen alles abverlangt haben muss. "Will er tiefer eindringen in die Zeugnisse vergangenen Lebens, so muss er mit gesteigerter und reflektierter Aufmerksamkeit lesen - ganz so, als bewege er sich in einer soeben erlernten Fremdsprache." So beschreibt Stach nun zum Abschluss selbst die Herausforderung, der er sich gegenüber sah. Er erweist sich einmal mehr als der beste Dolmetscher der Fremdsprache Kafkas, den man sich wünschen kann.

Als Kafka im September 1911 in einem Schweizer Sanatorium weilte, fragte ihn eine alte Dame, die ihn im Lesezimmer bei der Niederschrift von Notizen sah: "Was schreiben Sie eigentlich?" Mit dieser Frage endet Reiner Stachs neuer Band und lädt zur Wiederlektüre der beiden früher erschienenen ein, die diese Frage beantworten. Wenn Sie sich aber für die kommenden Monate fragen: "Was lesen wir eigentlich?", dann wählen Sie eines dieser fünf fulminanten Bücher. Oder besser noch: gleich alle.

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Der besondere Ton, den Karen Köhler in ihren wundervollen Erzählungen anschlägt, bleibt hängen. Hannah Suppa Hannoversche Allgemeine Zeitung 20161216