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Eine Stadt, in der es gärt, ist dieses Helsinki in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Auf das Trauma des finnischen Bürgerkriegs 1918, der einen Riss durch die Gesellschaft zieht, folgen die enthemmten zwanziger Jahre wie ein einziger langer Rausch. Nach den Kriegsgräueln prägen nun Jazz, Fußball, Schwindsucht, Hunger, Fotografie, Champagnerorgien, Prohibition, Tennis, Bubiköpfe und schimmelige Armeekasernen das Bild. Die unterschiedlichsten Menschen treffen sich in dieser Stadt, vereint in ihrer Sehnsucht nach Glück und Bedeutung in ihrem Leben: zum Beispiel der radikale Allu…mehr

Produktbeschreibung
Eine Stadt, in der es gärt, ist dieses Helsinki in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Auf das Trauma des finnischen Bürgerkriegs 1918, der einen Riss durch die Gesellschaft zieht, folgen die enthemmten zwanziger Jahre wie ein einziger langer Rausch. Nach den Kriegsgräueln prägen nun Jazz, Fußball, Schwindsucht, Hunger, Fotografie, Champagnerorgien, Prohibition, Tennis, Bubiköpfe und schimmelige Armeekasernen das Bild. Die unterschiedlichsten Menschen treffen sich in dieser Stadt, vereint in ihrer Sehnsucht nach Glück und Bedeutung in ihrem Leben: zum Beispiel der radikale Allu Kajander, der seine Sportlerkarriere opfert, um zur See zu fahren; der hasserfüllte Cedi Lilljehelm, der mit den Visionen der faschistischen Schwarzhemden sympathisiert; seine frivole Schwester Lucie mit ihrem unbändigen Freiheitswillen, die einen Hauch des dekadenten Paris in den Norden trägt und die Männer in Scharen anzieht; und nicht zuletzt der idealistische, hoch sensible Fotograf Eccu, der am Ende an der harschen Wirklichkeit scheitert. Doch bei allem Kampf, bei allem Scheitern und bei aller Bitterkeit gibt es auch hier, in diesen unruhigen Zeiten, die großen menschlichen Gesten, getragen von Liebe und Verständnis und Mitmenschlichkeit, die letztlich triumphieren
Autorenporträt
Kjell Westö ist einer der bekanntesten finnlandschwedischen Autoren der jüngeren Generation, geboren 1961 in Helsinki, wo er heute noch lebt. Seit seinem literarischen Debüt 1986 hat er drei Gedichtsammlungen, mehrere Bände mit Erzählungen und vier Romane veröffentlicht. Kjell Westö wurde mit zahrleichen Literaturpreisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.11.2008

Nach dem Bürgerkrieg
Ein Spaziergang mit Kjell Westö durch Helsinki
Nach Helsingfors reisen Schweden und schwedischsprachige Finnen, nach Helsinki alle anderen. In der Zweisprachigkeit seines Landes ist der finnlandschwedische Schriftsteller Kjell Westö verwurzelt wie wohl kein zweiter. Und noch tiefer in Helsinki – „Helsingfors liegt wie ein Raster über meinem Bemühen, die Bausteine, aus denen Kulturen gemacht sind, auszumachen und genau zu beschreiben”, erzählt der Finlandia-Preisträger beim Spaziergang von den südlichen Strandpassagen der finnischen Hauptstadt nach Norden, ins alte Arbeiterviertel, in die roten Stadtteile, welche von den bürgerlichen weißen Vierteln immer getrennt waren und immer noch sind („die Weißen sagten damals, dass man diese Brücke nicht ohne Revolver betreten könne”).
Aus der Zeit von 1890 bis zum Ende des 2. Weltkriegs in Helsinki erzählt der dritte große Roman des 1961 geborenen Westö: „Wo wir einst gingen” (jetzt aus dem Schwedischen übersetzt von Paul Berf, btb, München 2008, 656 Seiten, 19,95 Euro). Am letzten Band der Tetralogie, in dem es um die 60er Jahre in Helsinki gehen wird, schreibt Westö gerade in seiner klitzekleinen Arbeitswohnung auf einer Anhöhe im Nordviertel – sein langsamer, rechercheintensiver Arbeitsstil macht eine strikte Trennung von Familienleben und Arbeit nötig, „außer im Sommer, in den Schären geht das besser”.
„Wo wir einst gingen” ist auch (aber gewiss nicht nur) der erste literarische Umgang eines Finnlandschweden mit dem Bürgerkrieg 1918. „Hätte ich das Buch in den 70ern geschrieben, hätte sich niemand für die Figuren interessiert, alle hätten sich nur damit beschäftigt, ob ich darüber schreiben darf. Kekkonen war ja auch dabei, in seiner frühen Jugend, bei den Weißen. Heute lebt keiner mehr, der bereits Gelegenheit gehabt hätte, damals Blut zu vergießen, ob auf weißer oder roter Seite. Da, die Einschusslöcher auf der Brücke, die stammen von den deutschen Soldaten unter Admiral von der Goltz, der 1918 den Weißen zu Hilfe kam, Mannerheim kam erst ein paar Wochen später. Bürgerkriege schlagen die tiefsten Wunden, zumal einer jungen Nation. Und hier kam noch das Loslösen von Russland dazu.”
Eine selbstverständliche, unmittelbare Lebendigkeit trägt die Figuren in Westös Romanen, Kopf und Sinne sprechen sie gleichermaßen an. „Das ist keine Frage der Technik, sondern entwickelt sich mit intelligenter Geduld; bevor man einen Menschen nicht wirklich dreidimensional mit seinem Umfeld im Kopf hat, funktioniert das nicht. Dafür muss man auch enzyklopädische Bildungslust im definierten Raum mitbringen. Manche lesen 5 Bücher zur Recherche, um eine reale Figur nachzuzeichnen, ich lese 50, um halbwegs gelungene fiktive Personen in meinen Büchern zu entwickeln”. „Wo wir einst gingen” erzählt dicht und leicht von Krieg und Frieden, Liebe und Hass, Sieg und Untergang, von Menschen aus der Mittel- und Oberklasse, von Arbeitern und Armen, von rasender Stadtplanung, von Automobilen, Tennis und Fußball, von der Prohibition und den ersten richtig schnellen Motorbooten für die Sommervergnügen der Oberschicht und den Schnapsschmuggel im Schärengürtel, vom allmählichen europäischen Erwachen in den 20ern nach den traumatischen Jahren des Bürgerkriegs und der jährlichen Wiederentdeckung von Licht und Natur im Norden, welche für die Arbeiter in den 20ern mit gewerkschaftlich organisiertem Sport- und Freizeitleben eine Neuentdeckung wird.
Nicht sauber, aber interessant
Helsinki wuchs zwischen 1870 und 1930 am schnellsten von allen europäischen Hauptstädten – von 65 000 auf 200 000 Einwohner. 1890 waren davon noch 57 Prozent schwedischsprachig, 25 finnisch und der Rest russisch, 1930 nur noch 28 Prozent schwedisch und bereits 69 finnisch. Heute wohnen rund eine Million Menschen in Großhelsinki. „Ihr in Deutschland seht Helsingfors immer so sauber und strahlend weiß – eine derart brodelnde, vielsprachige und schnell wachsende Hafenstadt war damals nicht sauber, aber ziemlich interessant und ist es heute immer noch.”
In „Wo wir einst gingen” trifft der Leser auf den schwarzen Enok Kajander, Kommunist, roter Freischärler, Alkoholiker, seine Frau Vivan und beider Sohn Allu, den Seemann, der den Fallrückzieher in Montevideo einem farbigen Matrosenkollegen abguckte und die Technik nach Finnland in die Arbeiterfußballvereine mitbrachte. Mandi Salin, das begabte, fleißige, hübsche Kleinbürgerfräulein, wird trotz ihrer Sprachkurse und Blusen und Romanlektüre Allus Frau – ihr vormaliger Chef ist der aus reichem Handelshaus stammende Fotograf Eccu Widing, den die Erinnerungen an die weiße Brutalität, vor allem diejenige seines Schwagers Cedi, fertigmachen und seine große Begabung nicht zum Zuge kommen lassen wollen. Der Geschäftsmann Cedi Lilliehjelm hat rassistische Phantasmen aller Art im Kopf, träumt vom finnischen Auftrag in der Geschichte und erliegt schließlich psychisch den Traumata seiner Taten im Bürgerkrieg. Cedis Schwester Lucie Lilliehjelm ist emanzipiert, intelligent, witzig, schön und hat einen exquisiten Geschmack, auch für Jazz, der Finnland endgültig erreicht mit der S/S Aurora, eine Schiffsladung Amerikafinnen und ein Jazzorchester an Bord. Der Jazz „hallt über den Hafen und hüpft weiter Richtung Stadt wie ein fest aufgepumpter Fußball” und erobert die Stadt – der Klarinettist Theo Koslovsky aus Wisconsin nimmt alle mit zum Jazz, obwohl er weiß, „dass sie zu einem Kontinent und in ein Land gekommen waren, in dem der menschliche Sinn für Rhythmus und Melodie von Militärmärschen und Kirchenorgeln aufs schwerste betäubt worden war”. Aber: „Back Beat: Betont die Zwei und die Vier . . . und Off Beat: Sorgt dafür, dass sich die Melodiestimme ein bisschen an der Begleitung reibt.” Und: „Spielt nicht zu schnell: der Swing entspringt keinen rasenden, sondern angemessenen Tempi. Spielt nicht zu laut: Es muss stets Platz für überraschende crescendi geben.”
Wärme steigt von der Straße auf
Zwischen und mit ihnen allen lebt der kluge Intellektuelle Ivar Grandell, dessen Sehnsucht nach Frieden und Bildung keinen Platz findet. Henriette Hultqvist, eine schwedische Schauspielerin, findet später zu ihm als Gefährtin. Die Grundmelodie des durch und durch musikalischen Autors Kjell Westö stimmt Grandell in einem Gespräch mit Henriette an: „An jedem Ort, an dem ein Mensch gegangen ist, gibt es eine Erinnerung an ihn. Für die meisten ist sie unsichtbar, aber für jene, die diesen Menschen kennen und lieben, ist sie ein ganz deutliches Bild, das sie jedes Mal vor sich sehen, wenn sie vorübergehen. Solange es diese liebenden Menschen noch gibt, so lange gibt es auch noch das Bild, auch wenn der Mensch, der dort ging, womöglich bereits gestorben ist. Und deshalb steigt zuweilen eine plötzliche Wärme von der Straße auf, auf der wir gehen. Es ist die Erinnerung an alle anderen Menschen, die dort gingen und liebten und hassten und hofften und gepeinigt wurden.”
Finnland wurde erst 1917 unabhängig; die russische Herrschaft hatte 1809 begonnen, die schwedische schon um 1150. „Von den Zaren waren die Alexanders gut, die Nikolause eher schlecht”, im Vorbeigehen zeigt Westö auf die Zarenstatue Alexander II. vor dem Dom, dort, wo 1991 das sagenhafte Gemeinschaftskonzert des Chors der Sowjetarmee und der Leningrad Cowboys erklang. Die junge Nation entwickelte ihre Identität im Sport, „und zwar am besten so, dass wir besser sind als die Schweden”. Nach der endgültigen Zerschlagung der Roten und im Schatten der Sowjetunion wird das Land in den 30ern, 40ern anfällig für das Nazigetöse aus Südwest. Doch nach dem Krieg haben „wir uns gegenüber der Sowjetunion immer verneigt, aber nach Westen geschaut. Nach dem Fall des eisernen Vorhangs haben wir gelebt, als wenn Russland nicht existierte. Fast bis heute”.
Kjell Westö will noch die letzten nicht abgerissenen Holzhäuser im ehemaligen Armeleuteviertel Valilla besuchen („heute sind das eher teure Mietwohnungen für Künstler oder Medienleute, umringt von den klotzigen neuen Hausblöcken, die 60er und 70er Jahre waren wohl nirgendwo in Europa ein richtiges architektonisches Glück”) – dort wohnte Allu Kajander im Roman. Der Autor geht durch seine Stadt, wie man ein Buch liest.
„Handlungen kann man eigentlich schnell weiterführen, das ist kein Problem, aber für die Entwicklung von Empathie in den Handlungen brauche ich Haltepunkte. Empathie mit den und von den Figuren im Roman ist dann erlaubt und notwendig, wenn deren Gefühle wirklich sprachlich verdichtet und nicht nur behauptet werden.” Solche Haltepunkte gibt es in der Stadt nur, wenn es sie im Buch gibt. „Ich schreibe diese Geschichten nicht auf, um einer scheinbaren Moral Ausdruck zu verleihen, sondern um einige Farben vor dem Vergessen zu bewahren.” STEPHAN OPITZ
Kjell Westö 2005 auf der Frankfurter Buchmesse Foto: Uwe Zucchi/dpa
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Beeindruckt ist Rezensent Uwe Stolzmann von Kjell Westös Roman "Wo wir einst gingen", einem großen Stadtroman in "alter Tradition". Im Zentrum sieht er Helsinki in der Zeit der Prohibition nach dem finnischen Bürgerkrieg von 1918, eine Stadt, die Westö als "Labor und Archiv auffälliger Charaktere" versteht, eine Stadt auch, die zweigeteilt ist "in Bürger und Proleten". Das Werk scheint ihm wesentlich mehr als nur ein Porträt der um 1900 geborenen Generation, das Westö schreiben wollte: "Mit Poesie und Pathos", lobt Stolzmann den Autor, "hat er die versunkene wilde Stadt belebt, ihre Farbe, ihren Klang, ihren Duft."

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