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Clara ist sich sicher: Ihr Vater hat sie nie geliebt. Doch als er dann nach einem Herzinfarkt todkrank im Krankenhaus liegt, zieht sie sich heimlich auf den Dachboden zurück und stöbert in seinen alten Sachen, um ihm ein letztes Mal nahe zu kommen. Sie findet eine Truhe, die dem Vater gehört, angefüllt mit Erinnerungsstücken, Fotos, kleinen Zettelchen und kitschigen Figürchen. Langsam nähert sie sich der Familiengeschichte, die ja auch ihre eigene ist.

Produktbeschreibung
Clara ist sich sicher: Ihr Vater hat sie nie geliebt. Doch als er dann nach einem Herzinfarkt todkrank im Krankenhaus liegt, zieht sie sich heimlich auf den Dachboden zurück und stöbert in seinen alten Sachen, um ihm ein letztes Mal nahe zu kommen. Sie findet eine Truhe, die dem Vater gehört, angefüllt mit Erinnerungsstücken, Fotos, kleinen Zettelchen und kitschigen Figürchen. Langsam nähert sie sich der Familiengeschichte, die ja auch ihre eigene ist.
Autorenporträt
António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.

Maralde Meyer-Minnemann, geboren 1943 in Hamburg, erhielt 1992 den "Hamburger Förderpreis für literarische Übersetzungen", 1997 den Preis "Portugal-Frankfurt", 1998 den "Helmut-M.-Braem-Preis" und wurde 2005 für den "Preis der Leipziger Buchmesse" nominiert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Von den Vögeln verhöhnt
António Lobo Antunes geht auf Trödelsuche / Von Martin Halter

Der "Familienroman der Neurotiker" ist, wie wir von Freud wissen, die phantasierte Wunscherfüllung der ödipal Traumatisierten. Die Möglichkeit, ein verwunschener Prinz, ein verleugneter Bankert von Königen zu sein, ist der Traum derer, die unter der Wirklichkeit ihres legitimen Vaters leiden. António Lobo Antunes kennt als gelernter Psychiater seinen Freud. Seine Romane erzählen immer auch Fallgeschichten von neurotischer Regression und Depression, aber sie enthalten mehr historische, soziale und vor allem sprachliche Substanz, als sich zwischen der Hintertreppe der Kolportage und der Couch der Psychoanalyse abhandeln ließe.

In seinem neuen Roman "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht" ist es eine deklassierte höhere Tochter, die sich ihren Familienroman zusammenfabuliert, und das hat Folgen für die soziale Färbung ihrer Neurose: Weil Maria Clara in eine Familie zombiehafter Kolonialveteranen und großbürgerlicher Marionetten hineingeboren wurde, die Kinder und Diener mit demselben verächtlichen Dünkel behandelte, will sie, die ein Leben lang vergeblich um Anerkennung bettelte, zum Gesinde am Katzentisch gehören: Der "Armeleutegeruch" ist allemal wärmer und wohlriechender als die Miasmen "fauliger Stagnation" und kalter Zigarrenasche, die aus den Häusern der Bourgeoisie aufsteigen, um vom Leichengeruch in ihren Kellern zu schweigen. Die Kiefern im Lissabonner Armenviertel Alcoitão duften nach Leben und Liebe, die Palmen und Levkojen im Villenvorort Estoril nach Untergang und Tod: Was also, wenn Clarinha dort, als Enkelin ihres Dienstmädchens Adelaide, zur Welt gekommen wäre?

Maria Clara vertraut ihren Traum von einer niederen Abkunft außer ihrem Tagebuch auch einem Psychiater an, aber sie wartet vergeblich auf Antwort. Kein Analytiker ordnet das Puzzle ihrer abenteuerlichen Phantasien, kein Therapeut weist ihrem monomanisch in sich kreisenden Bewußtseinsstrom einen Weg ins Freie. Im Gegenteil: Eingesponnen in ein Gespinst aus Träumen und Albträumen, fingierten Beichten und retuschierten Erinnerungen, verstrickt sie sich immer tiefer in die Widersprüche von Dichtung und Wahrheit, Wahn und Wirklichkeit. Antunes macht aus Maria Claras Gespenstern Menschen, aus formlosen Ängsten Erfahrungen und Bilder, aber er verweigert sich jeder Traumdeutung. Er verzahnt Figuren, Schauplätze und Zeitebenen bis zur Ununterscheidbarkeit, montiert Dialog- und Erinnerungsfetzen, bange Fragen und Tötungsphantasien in komplexe innere Monologe. Er läßt seine Sätze gelegentlich mitten im Wort abbrechen und folgt den assoziativen Gedankengängen seiner Unglücklichen bis in die subtilsten Verästelungen und Geheimcodes: ein polyphones Stimmengewirr, in dem sich Wiederholungen, Ungleichzeitigkeiten und Echos, Metaphern und Realitätspartikel überlagern, relativieren und verstärken.

Vermutlich läßt sich Maria Claras Familienroman nicht besser wiedergeben; aber es bedarf schon großer Geduld und Konzentration, um in diesen reich instrumentierten Überblendungen von Unter- und Oberstimmen, Re- und Dissonanzen, Alltagsszenen und apokalyptischen Visionen nicht den Überblick zu verlieren. Selbst nach sechshundert - von Maralde Meyer-Minnemann wieder brillant übersetzten - Seiten bleibt manches im dunkeln: Ist Adelaide alias Leopoldina nun Schwester oder Komplizin, Mutter oder Geliebte des Vaters, Schutzengel oder nur die mißhandelte Dienstmagd?

Maria Clara jedenfalls ist die Idiotin der Familie: schüchtern, ungeschickt, häßlich, mißtrauisch, trotzig und verbittert bis zur Ungenießbarkeit. Hat man sie nicht ein Leben lang gedemütigt, verletzt, betrogen? Der Großvater, der einst Portugals strahlende Größe in Mosambik repräsentierte, befindet sich "auf dem halben Weg zwischen Hindernis und Mensch": ein stumm und blind dahindämmernder Greis, der seiner verwaisten Enkelin Angst einflößt. Die Großmutter reißt in ihrer Verwirrung alle Fassaden der Frau aus besseren Kreisen ein: Sie verspielt im Casino den Familienschmuck oder, noch peinlicher, wertlose Klunker und Adelaides karges Gehalt. Der Vater ist offenbar ein sinistrer Waffenschieber, der Terroristen empfing und seine Familie vergaß; jetzt liegt er als sprachloses Wrack im Krankenhaus. Die Mutter ist eine hochmütige, bigotte Hysterikerin; Maria Claras verhätschelte Schwester Ana ein mannstolles Zierpüppchen. Kein Wunder, daß Clarinha, der "Mann im Haus", eifersüchtig, mürrisch und menschenfeindlich wurde: "Sehnsucht ist ein Stirnrunzeln aus Ärger." Schon als Kind hat sie Tiere gequält und ihre Puppen zerstört; jetzt, verarmt und vollends vereinsamt, behandelt sie in ihren Phantasien die Menschen um sich herum wie die Puppen und Tiere, die sie auch sind: Seelenlose Kreaturen, die man nach Belieben verkuppeln, hätscheln oder töten darf.

So erschafft Maria Clara sich aus geborgten Erinnerungen und dem vergessenen Plunder des Dachbodens - Medaillons, verblichene Familienalben, Jagdtrophäen, "Armeleutenippes" und "Dienstmädchenmüll" - eine Schöpfungsgeschichte von eigenen Gnaden, die weniger Allmachtsphantasie als der Hilfeschrei einer Frau ohne Identität und Selbstbewußtsein ist. Die Menschen erscheinen ihr fremd und bedrohlich, und selbst die Dinge in ihrer "grauenhaften Reglosigkeit" führen ein unheimliches Eigenleben, das Maria Claras unglückliches Bewußtsein zur schizophrenen Selbstentzweiung steigert. "Bin ich das da, bin ich du da, bin ich wir beide?"

Nicht genug damit, daß die Toten reden und die erfundenen Ahnen ihr widersprechen: Die Gabel führt ihre Hand zum Mund; die Vögel verhöhnen sie, die Büsche draußen schütteln ihr Laub vor Empörung. "Jemand klopfte auf meinem Kopf Teppiche, die Schere des Gärtners schnitt mir erbarmungslos lebendige Nervenzweige ab: So fallen Innen- und Außenwelt, Subjekt und Objekt ineinander und schlagen über ihrem armen Kopf zusammen.

Maria Clara will immer Kind und unschuldig bleiben. In Wahrheit ist sie längst eine frustrierte, hypochondrische Hausfrau, die mit einem ungeliebten Mann und einem unerwünschten Kind in einer tristen Sozialwohnung haust und alle ererbte Schmach und Schuld weiterzugeben im Begriffe ist. In ihren Aufzeichnungen will sie ihr verpfuschtes Leben ad infinitum verbessern, verleugnen oder auch auslöschen. Aber ihr Tagebuch zerstört zwischen den Zeilen ihre Lebenslügen, und ihre Litanei von Eifersucht, Haß und Wut gibt sich als Sehnsucht nach Liebe zu erkennen.

Lobo Antunes erhebt sich nicht über diese delirierende, gelegentlich auch geschwätzige Lebensbeichte, die eine Allegorie portugiesischer Tristesse und Stagnation ist. Er erteilt Maria Clara weder Lehren noch Absolution. Er leiht ihr nur seine berückend musikalische Sprache, die noch Wahn, Verzweiflung und Tod in eine insistierende, irisierende Schönheit taucht. Und doch bleibt sein Abgesang auf den lusitanischen Popanz seltsam schal. So nah uns Maria Claras Schicksal geht: Es ist das alte Lied. So wie sie, weil "uns das Vergessen zu sehr vergißt", immer wieder auf den Dachboden steigt, um sich aus zerbrochenen Schaukelpferden und Spiegeln eine Biographie zu basteln, komponiert er aus dem morbiden Plunder der portugiesischen Geschichte eine quälende Sinfonie von Krankheit, Trauer und Verfall. Die Sprache von Doktor Antunes, magischer und reiner denn je, mag von der unverwüstlichen "Gesundheit der Agonie" zeugen. Aber auch grandiose Obsessionen und ästhetisch versöhnte Depressionen ermüden, wenn der Weg in die dunkle Nacht so lang und steinig ist.

António Lobo Antunes: "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht". Roman. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand Verlag, München 2001. 592 S., geb., 49,80 DM.

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"Antunes folgt den Lebensspuren einer jungen, von den Gespenstern der Familie gejagten Frau. Er beschreibt das so verführerisch, wie Pan flötet." Verena Auffermann, Süddeutsche Zeitung