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Produktdetails
  • btb
  • Verlag: btb
  • Originaltitel: The Gospel According to the Son
  • Seitenzahl: 222
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 220g
  • ISBN-13: 9783442726332
  • ISBN-10: 3442726336
  • Artikelnr.: 08508461
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.1998

Halb Mensch, halb Mailer
Die Autobiographie Jesu · Von Friedrich Wilhelm Graf

Albert Schweitzer kam schon 1906 in seiner "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" zu einem vernichtenden Resultat: Jesus-Viten sagen grundsätzlich mehr über den Autor aus als über den Dargestellten. Den Mangel an gesicherten historischen Kenntnissen hatten die Biographen durch Assoziationskraft überspielt. Auch in unserem Jahrhundert wollten zahlreiche Dichter und Denker den fernen, fremden Mann aus Nazareth vergegenwärtigen. Nun ist jedoch endlich eine epochale literarische Revolution zu vermelden.

Erstmals können wir Jesu Autobiographie lesen. Und aus dem Munde des Messias selbst erfahren, was er gedacht, erlebt und erlitten hat. Nach zweitausendjähriger Parusieverzögerung haben wir endlich das einzig authentische, vom Heiland selbst abgelegte Zeugnis seines Wirkens. "Obwohl ich nicht sagen möchte, daß Markus' Evangelium falsch ist, enthält es viel Übertreibung. Und noch weniger traue ich Matthäus und Lukas und Johannes, denn sie legten mir Worte in den Mund, die ich nie ausgesprochen habe, und schilderten mich als sanftmütig, während ich rot vor Zorn war. Deshalb will ich meinen eigenen Bericht geben. Wer fragt, wie meine Worte auf diese Seiten gelangt sind, dem rate ich, es als ein kleines Wunder zu betrachten."

Das Rätsel der wundersamen Überlieferung des fünften, einzig wahren Evangeliums löst die Presse New Yorks. Norman Mailer, einer der großen alten Männer der amerikanischen Gegenwartsliteratur, hat Jesu Autobiographie niedergeschrieben. Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse demonstriert er in Interviews seine exzeptionelle Fähigkeit, sich in den Gekreuzigten zu verwandeln. Den schreibenden Juden aus Brooklyn verbindet mit dem beschriebenen Juden aus Nazareth mehr als nur eine tiefe Seelenverwandtschaft oder eine Gleichartigkeit von Glaube und Weltsicht. Es ist die komplizierte doppelte Konstitution ihrer Subjektivität, die Mailer Jesus selbst zu imaginieren erlaubt.

Ernsthaft will der Autor, ganz wie Jesus, mehr als nur ein Mensch sein. Zwar scheinen Mailers Lesergemeinden ihm den Christustitel noch zu verweigern. Aber zahllose Literaturpreise haben den Autor erkennen lassen, "what it's like to be half a man and half something else, something larger". In früheren Romanen hatte Mailer diverse Ikonen des zwanzigsten Jahrhunderts gefeiert. Er schrieb über Muhammed Ali, Marilyn Monroe, Pablo Picasso und Lee Harvey Oswald, den Kennedy-Mörder. Für seinen dreißigsten Roman mußte er sich etwas Neues einfallen lassen. Nun will er den Mailer-Jesus, das heißt sich selbst, als absolute Ikone inszenieren. Fulton Oursler hatte die Geschichte von Jesu Leben und Sterben als "The Greatest Story Ever Told" bezeichnet. Mailer macht sich dies zu eigen.

Wer Jesu Autobiographie schreiben kann, will sich zur Rechten Gottes erhöht wissen und in Stockholm bald Nobels Preis erhalten. Die von amerikanischen Rezensenten gestellte Diagnose der präsenilen Hybris lehnt Mailer aber mit medizinischen Argumenten ab. Der Fünfundsiebzigjährige hält sich für jünger als Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, die als alte Männer nur das Jesus-Geschwätz anderer alter Männer aufgezeichnet hätten. Nach sechs Ehen mit acht Kindern, einer gescheiterten Kandidatur als New Yorker Bürgermeister und dem medienwirksamen, aber unglücklichen Freikauf eines Mörders aus dem Gefängnis erhebt er als fünfter Evangelist nun den Anspruch auf ewige Jugend und literarische Unsterblichkeit.

Zu Jesu Leben liegen nur wenige Quellen vor. Jede Biographie bleibt auf die vier kanonischen Evangelien angewiesen. Mailer macht von ihren Erzählstoffen und Logien sehr viel mehr Gebrauch, als er zugibt. Als Mailer-Jesus muß er sich von den narrativen Konstruktionen der alten Evangelisten distanzieren. So gibt er den überlieferten Stoffen einen neuen Rahmen. Auch will er einige Gestalten aus dem Umfeld Jesu, vor allem Joseph und Judas Ischarioth, anders deuten. Schließlich will Mailer eine realistischere, befreiende Anschauung Gottes vermitteln. Die Innovationskraft des Mailer-Jesus hält sich gleichwohl in überschaubaren Grenzen. Der wundertätige Heiland von einst stellt sich als ein Guru oder religiöser Popstar vor, der ein bißchen postmodernen Psychojargon draufhat und von seinen außergewöhnlichen spirituellen Kräften zu plaudern weiß.

In der Entfaltung der Zweinaturenlehre standen christliche Theologen immer in der Gefahr, über der Göttlichkeit Jesu seine Menschlichkeit zu vergessen. Der Mailer-Jesus ist demgegenüber ein durchschnittlicher, bisweilen ordinärer junger Mann mit einer neurotischen Persönlichkeitsstruktur. Jesus Christ Superstar ist bindungsschwach, launisch, redet am liebsten von sich selbst und hat Probleme mit starken Gefühlen der Wollust und Begierde, die sich bei einem jungen, muskulösen Zimmermann einstellen. Seine Groupies hält er sich durch Sarkasmus auf Distanz, und seine Wunder beruhen auf jenen kleinen Psychotricks, die man bei Seminaren für mittelständische Führungskräfte lernt. Mailer-Jesus stellt sich zudem als ein zerrissener Mensch vor, der nicht recht weiß, ob er die ihm von Gottvater zugewiesene Rolle des Erlösers wirklich spielen soll. Dazu mag beitragen, daß er an massivem Gedächtnisschwund leidet.

Erst im Alter von dreißig Jahren erinnert er sich daran, daß ihn sein vermeintlicher Vater Joseph im Alter von zwölf Jahren über seine übernatürliche Geburt informiert hat. So will er nun doch seine göttliche Mission erfüllen und tritt den Kampf gegen finstere Mächte an. Mailer-Jesus lehnt Egoismus ab und jammert darüber, daß den Menschen Konsumgüter wichtiger als geistige Werte geworden sind. Offenkundig hat der Messias einen Volkshochschulkurs in "Kulturkritik des zwanzigsten Jahrhunderts" absolviert.

Im Unterschied zur dumpfen Masse ist Mailer-Jesus aber trotz seiner heimlichen Lüste ein wahrer Tugendbold, der den Verführungen des Teufels, des schönsten aller von Gott geschaffenen Geschöpfe, zu widerstehen vermag. Dieser Satan ist "schön wie ein Prinz" und von hoher homoerotischer Attraktivität. Selbst Jahwe sei, lehrt er Jesus, nur ein geiler Lustgreis, der Angst vor verführerischen Frauen habe und lieber den Knaben nachschaue. "Deines Vaters Zunge ist so reif vor Lust wie meine eigene." Möglicherweise hat der fünfte Evangelist mit diesem Satan ein Porträt Gore Vidals, seines bestgehaßten Widersachers, gezeichnet. Jedenfalls gibt er der scheiternden Verführung in der Wüste ungleich mehr Raum als seine vier Vorgänger. Doch bleibt der Unterhaltungswert auch hier eng begrenzt. Wenn Kinder schon im Vorschulalter von "superaffengeil" reden, können greise Götter, die erfolglos Zungenküsse begehren, nur alt aussehen.

Biographen, die die fiktionale Form einer Autobiographie wählen, müssen das Innenleben ihres Helden darstellen können. Sie stehen vor der schwierigen Aufgabe, Wechselwirkungen zwischen prägenden Lebenserfahrungen und Charakter zu erfassen. Sie müssen Narrationen für eine persönliche, geistige Entwicklung finden. Mailer hat vor dieser Anstrengung von vornherein kapituliert. Zwar gibt er im faszinierend klaren, altehrwürdigen Englisch der King James Bible zentrale Sprüche Jesu wieder. Dies erinnert an alte Bibeln, in denen die Worte des Herrn durch Fettdruck hervorgehoben waren. Zu möglichen Konflikten Jesu fällt ihm aber nur das Übliche, eben Sex, ein, und als religiöse Botschaft kann er bloß verkünden, daß gute Menschen die Löcher im sozialen Netz flicken sollten.

Originell ist allein die Deutung des Judas Ischarioth. Mailer zeichnet ihn als einen harten dogmatischen Kämpfer gegen die Pharisäer, der um der Befreiung der Armen willen die Römer mit Gewalt aus dem Lande vertreiben will. Den Verrat führt er auf die Enttäuschung darüber zurück, daß der weiche, schwankende Jesus die Option für die Armen nicht gewaltsam durchführen wollte. Seit Charles Dickens für seine Kinder 1849 ein "Life of our Lord" schrieb, haben sich zahllose Autoren, etwa D. H. Lawrence oder John Updike, an das Thema gewagt. Mailer macht von ihren Werken intensiv Gebrauch, erhebt mit der autobiographischen Form aber einen ruinösen Überbietungsanspruch.

Ein Interviewer hat ihn gefragt, ob er nach dem "Jesus-Evangelium" überhaupt noch weiter schreiben könne. Als eitle Berühmtheit hat er mit Ja geantwortet. Nun sucht er nach einem Stoff, der noch größer ist. Wir möchten einen autobiographischen Gottes-Report über die Creatio ex nihilo vorschlagen.

Norman Mailer: "Das Jesus-Evangelium". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Alfred Starkmann. Bertelsmann Verlag, München 1998. 223 S., geb., 36,90 DM.

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