Weltliteratur aus Irland
Tóibíns Söhne sind Diebe, Priester, Bauern, die Mütter Folksängerinnen, Alkoholikerinnen oder Geschäftsfrauen - sie sind tot oder nicht da, aber sie unterhalten hochkomplizierte Beziehungen zueinander. Familiengeschichten, die von Leere und Verlust handeln. Großartig erfunden, wunderbar geschrieben. Wie ein Schleier legt sich das Erzählen um das Erzählte, durch die Sprache hindurch blicken wir auf die Figuren, ihr Umfeld und ihre Handlungen. Tóibín erzählt von dem, was nicht da ist, und stellt sich vor, was da, wo nichts ist, geschehen könnte.
Tóibíns Söhne sind Diebe, Priester, Bauern, die Mütter Folksängerinnen, Alkoholikerinnen oder Geschäftsfrauen - sie sind tot oder nicht da, aber sie unterhalten hochkomplizierte Beziehungen zueinander. Familiengeschichten, die von Leere und Verlust handeln. Großartig erfunden, wunderbar geschrieben. Wie ein Schleier legt sich das Erzählen um das Erzählte, durch die Sprache hindurch blicken wir auf die Figuren, ihr Umfeld und ihre Handlungen. Tóibín erzählt von dem, was nicht da ist, und stellt sich vor, was da, wo nichts ist, geschehen könnte.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2011NEUE TASCHENBÜCHER
Zwischen Muttern und
Söhnen lauter Abgründe
„Es tut mir leid“, sagte die Mutter, „je einen von euch kennengelernt zu haben“, sie meinte damit die Söhne und den Mann. In Colm Toíbíns „Ein langer Winter“ ist die trinkende Mutter das Opfer der Familie, doch wie sehr sie es immer schon gewesen sein muss, ermisst man erst, als sich ihre Spur im Schnee verliert. Genauso wie der Schnee ihren erfrorenen Körper bedeckt, schließt sich die Lücke, die sie hinterlässt, als wäre sie der häuslichen Männer-Symbiose immer schon im Wege gewesen. Schnee ist nur ein anderes Wort für die „leuchtende“ Leere, nach der sich die Söhne in Toíbíns Band „Mütter und Söhne“ sehnen, weil sie eine bedrohliche Fülle neutralisiert, das Gefühl, „dass hinter allem etwas anderes lag, ein verborgenes Motiv vielleicht oder etwas Unvorstellbares und Finsteres“.
Toíbín deckt die verborgenen Schichten zwischen Müttern und Söhnen auf, qualvolle Sehnsucht nach Verschmelzung und zugleich Erstickungsnot: Da findet ein Sohn erst am Tag, als die Mutter beerdigt wird, den Mut zu sich selbst und erlebt sein Coming-out, während ein anderer den Muttermord nur in effigie vollzieht. Von Verlust, Verkennung und Ungleichzeitigkeit sind auch die Gefühle der Mütter geprägt. Eine muss damit zurechtkommen, dass ihr Sohn, ein Priester, jahrelang Kinder missbraucht hat, die andere sieht angesichts eines psychisch kranken Sohnes und eines durch Schlaganfall gelähmten Mannes einer Zukunft entgegen, in der sie „jedes Gramm Selbstsucht, das sie besaß“ aufbieten muss. In der stärksten Erzählung zieht sich Nancy am eigenen Schopf aus dem Schuldensumpf, den ihr der verstorbene Mann neben drei Kindern hinterlassen hat. Indem sie mit dem Geld, das sie auf einmal verdient, endlich die Kleinstadt verlassen will, fordert sie zugleich ihren Sohn heraus.
Der Ire Colm Toíbín ist ein unbarmherzig empfindsamer Dämonologe, der die Abgründe zwischen Müttern und Söhnen auslotet. Fröstelnd stochert er im Torffeuer der Liebe und lauscht schaudernd den Geistern, die im Kamin heulen. Christopher Schmidt
Colm Toíbín:
Mütter und Söhne. Erzählungen. Aus dem Englischen von G. u. D. Bandini. dtv, 2010.
288 Seiten,
9,90 Euro.
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Zwischen Muttern und
Söhnen lauter Abgründe
„Es tut mir leid“, sagte die Mutter, „je einen von euch kennengelernt zu haben“, sie meinte damit die Söhne und den Mann. In Colm Toíbíns „Ein langer Winter“ ist die trinkende Mutter das Opfer der Familie, doch wie sehr sie es immer schon gewesen sein muss, ermisst man erst, als sich ihre Spur im Schnee verliert. Genauso wie der Schnee ihren erfrorenen Körper bedeckt, schließt sich die Lücke, die sie hinterlässt, als wäre sie der häuslichen Männer-Symbiose immer schon im Wege gewesen. Schnee ist nur ein anderes Wort für die „leuchtende“ Leere, nach der sich die Söhne in Toíbíns Band „Mütter und Söhne“ sehnen, weil sie eine bedrohliche Fülle neutralisiert, das Gefühl, „dass hinter allem etwas anderes lag, ein verborgenes Motiv vielleicht oder etwas Unvorstellbares und Finsteres“.
Toíbín deckt die verborgenen Schichten zwischen Müttern und Söhnen auf, qualvolle Sehnsucht nach Verschmelzung und zugleich Erstickungsnot: Da findet ein Sohn erst am Tag, als die Mutter beerdigt wird, den Mut zu sich selbst und erlebt sein Coming-out, während ein anderer den Muttermord nur in effigie vollzieht. Von Verlust, Verkennung und Ungleichzeitigkeit sind auch die Gefühle der Mütter geprägt. Eine muss damit zurechtkommen, dass ihr Sohn, ein Priester, jahrelang Kinder missbraucht hat, die andere sieht angesichts eines psychisch kranken Sohnes und eines durch Schlaganfall gelähmten Mannes einer Zukunft entgegen, in der sie „jedes Gramm Selbstsucht, das sie besaß“ aufbieten muss. In der stärksten Erzählung zieht sich Nancy am eigenen Schopf aus dem Schuldensumpf, den ihr der verstorbene Mann neben drei Kindern hinterlassen hat. Indem sie mit dem Geld, das sie auf einmal verdient, endlich die Kleinstadt verlassen will, fordert sie zugleich ihren Sohn heraus.
Der Ire Colm Toíbín ist ein unbarmherzig empfindsamer Dämonologe, der die Abgründe zwischen Müttern und Söhnen auslotet. Fröstelnd stochert er im Torffeuer der Liebe und lauscht schaudernd den Geistern, die im Kamin heulen. Christopher Schmidt
Colm Toíbín:
Mütter und Söhne. Erzählungen. Aus dem Englischen von G. u. D. Bandini. dtv, 2010.
288 Seiten,
9,90 Euro.
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"Kurzgeschichten aus Irland, die unter die Haut gehen."
CR - Cruiser Edition, Zürich, Schweiz 26.11.2010
CR - Cruiser Edition, Zürich, Schweiz 26.11.2010