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Wie das Buch von Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders gezeigt hat, ist Erinnerung nicht länger ausschließlich an das Täter-Opfer Muster gebunden. Thomas Medicus erinnert sich an seinen Großvater und gleichzeitig ist ihm ein eindringliches Generationenporträt gelungen, das sich vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute spannt.
Wilhelm Crisolli war Generalmajor der Wehrmacht und wurde 1944 von Partisanen in der Toskana erschossen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schwieg seine Familie über seine Person und die Gründe für die Erschiessung blieben im Dunkeln, weil keiner aus der Familie an
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Produktbeschreibung
Wie das Buch von Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders gezeigt hat, ist Erinnerung nicht länger ausschließlich an das Täter-Opfer Muster gebunden. Thomas Medicus erinnert sich an seinen Großvater und gleichzeitig ist ihm ein eindringliches Generationenporträt gelungen, das sich vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute spannt.
Wilhelm Crisolli war Generalmajor der Wehrmacht und wurde 1944 von Partisanen in der Toskana erschossen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schwieg seine Familie über seine Person und die Gründe für die Erschiessung blieben im Dunkeln, weil keiner aus der Familie an dieser Geschichte rühren wollte.
Nach 1945 floh die Familie aus Hinterpommern in den Westen. Erst Crisollis Enkel, Thomas Medicus, wagt die Annäherung an den Großvater und macht schmerzliche, überraschende Entdeckungen. Er unternimmt eine Fülle von Reisen, spricht mit letzten Überlebenden, nimmt die Spur von Crisolli in Archiven auf und gerät ein ums andere Mal in die Fänge einer Vergangenheit, die scheinbar jede klare Auskunft verweigert. Ein faszinierender Aufbruch in eine fremde Zeit, ein Bericht über die Gegenwärtigkeit des Vergangenen, der neue Dimensionen im Umgang mit Geschichte erschließt.
Autorenporträt
Thomas Medicus, geboren 1953 in Gunzenhausen, studierte Germanistik, Politikwissenschaften und Kunstgeschichte. Nach seiner Promotion schrieb er u. a. für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", war Feuilletonredakteur des Berliner "Tagesspiegel" sowie stellvertretender Feuilletonchef der "Frankfurter Rundschau". Thomas Medicus lebt als freier Publizist in Berlin und in Dolgie/Polen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.03.2004

Tod in der Toskana
Auf Großvaterjagd: Thomas Medicus’ kluge Recherche nach dem in Italien erschossenen Wehrmachtsgeneral Crisolli
Wer an ein Buch, das „Erinnerungen an den Großvater als Vergangenheitsaufarbeitung ohne Schuldzuweisung” verheißt, nicht mit Skepsis herangeht, muss naiv sein und nichts von der Schwemme der Vater- und Großvatersuchbewegungen landauf landab mitbekommen haben. Beim Betrachten des Fotos auf dem Schutzumschlag wird die Skepsis nicht geringer. Es handelt sich um ein Soldatenbild der Kindersehnsucht; der da aus dem Eisenbahnfenster herausguckt, ist weder der Großvater, ein General in altpreußischer Militärtradition, noch der Autor, akribischer Dokumentarist, empathischer Ermittler und „Archäologe einer verschütteten Kultur” in einem. Das Foto zielt auf Leser, die sich auf große Fahrt in eine vielleicht doch ganz aufregende und nicht nur finstere Vergangenheit begeben wollen und nicht auf diesen elenden Abstieg in die Vergangenheit, auf den der Autor sich einlässt – bewaffnet nur mit einer „Zeitkapsel”, einer Schatulle des Toten mit Wehrpass, einem Notizbuch mit militärtechnischen Vermerken und Adressen, einem Brief an seine Frau und Fotografien, die dem Enkel als Kompass dienen werden. Doch im Lauf der Lektüre verflüchtigt sich alle Skepsis, so beeindruckend ist, wie Medicus es schafft, einsehbar und einsichtig zu machen, dass es die entlastende und aufbauende Objektivität der Vergangenheit, die er angestrebt hatte, nicht gibt.
Sein Großvater Wilhelm Crisolli, „Offizier in drei Armeen”, der Preußischen Armee, der Reichswehr und der Wehrmacht, machte eine vertrackt langsame Karriere in diesen drei Armeen, vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zum Ende des NS-Staates. Er wurde als einziger deutscher General während des Zweiten Weltkriegs in Italien von Partisanen erschossen. Warum? Ist diese unaufgeklärte Tatsache nun entlastend für die Verwandten, insbesondere Frau und Kinder oder eher eine furchtbare Belastung, weil man nicht weiß, was geschehen ist? Großmutter und Mutter glaubten, „der Tod des Generalmajors berge ein furchtbares Geheimnis . . . In der Partitur des allmählichen Verstummens waren Marzabotto, Kesselring, Modena nie gänzlich verhallende Alarmtöne.” Angesichts dieser Ungewissheit schweigt sich eine ganze Familie darüber aus, und ein Enkel fragt, warum und begibt sich auf die Suche. Überall, wo er hinkommt, vor allem in Italien, an den Stätten, an denen der letzte Lebenssommer des Generals stattgefunden hat, begegnet ihm eine Mythenbildung, eine belastende und eine entlastende, die sich mit kollektiven Mythenbildungen verwebt.
Seine Vermutung ist, dass gegen seinen Großvater ein Revancheschlag verübt wurde, weil er drei Personen, einen Pater und zwei Frauen, erschießen ließ, die er aus 130 Gefangenen ausgesucht hatte, denn er hatte sich entschieden, „dass diese drei es seien, die für ihn das Magisch-Gefährliche des Südens personifizierten. Militärisch wertlos, war ihr Tod die reine Vergeltung. Der Priester und die beiden Frauen waren lang gehegte innere Feinde in äußerer Gestalt.” Die große Angst des Enkels ist allerdings, dass noch Schlimmeres herauskommen und sich hinter den familiären „Alarmtönen Marzabotto, Kesselring, Modena” Fakten verbergen könnten. Davon ist Crisolli jedoch freizusprechen. Mehr noch, schon drängt sich eine idealisierende Legende vor: der schwer Verwundete soll gesagt haben, man möge seinen Tod nicht mit dem Leben Unschuldiger vergelten. Mythenbildungen, Gegenmythenbildungen – was da nun stimmt oder nicht stimmt, nie ist es herauszukriegen.
Nicht nur den Enkel verwirren seine Suchbewegungen, auch der Großvater, ein „den pommerschen Kiefernwäldern entstammende Junker-Offizier”, war einst total verwirrt, denn plötzlich befand er sich in einem Paradiesesgarten, dem Land der uralten deutschen Sehnsucht, aber nun abkommandiert zur letzten Schlacht. Einerseits war er in der „Toskana zugleich auch in Hinterpommern”. Stand, Höflichkeitsformen, Lebensstil waren hie wie dort „molto Junker”. Andererseits begann die „den Italienern zugeschriebene Unmännlichkeit” ihn selbst seiner männlichen Form zu berauben. War der Großvater vom Zauber Italiens verhext worden, so der Enkel vom „Land der großen Mütter”, der „zwischen Berlin und Sankt Petersburg liegenden Provinz der Guts-und Herrenhäuser, aus der die Effi Briests des 20. Jahrhunderts vertrieben worden waren.”Schließlich aber wäre auch Crisolli lieber an der Ostfront statt in Italien gewesen. Er war „es überdrüssig, zwischen Banden und Bevölkerung einen Unterschied zu machen. Für einen erfolgreichen Krieg brauchte er ein ruhiges Hinterland, alles andere machte ihn nervös.” Der Analysand auf der Couch hat den Vorteil, nicht mit Reporterrecherchen belastet zu sein, die Empathie kann sich ausschließlich im Verhältnis Analytiker-Analysand austoben. Aber hier geht es um Empathien mit „Realien”, und alles was da mitspielt, Angst, Bildungs-und Standesdünkel, Snobismus, mystische Verschmelzungssehnsüchte, Erlösungssucht und apokalyptische Gelüste, wird erst identifikatorisch in Anspruch genommen, dann jedoch entschlossen offen gelegt. Dass er sich selbst als „archäologisches Grabungsfeld” letztlich, anders als er annimmt, doch bis zum Schluss ausspart, kommt der Geschlossenheit seiner Erzählung zugute.
Die verbrannten Briefe
Ein weiterer Gewinn ist, dass das Buch zu einer hochinteressanten Quelle über den Mittelstand der östlichen Weimarer Republik und ihrer Folgen geworden ist. Der Übergang vom Kaiserreich, das um der Lebensformen willen als Korsett weitergehen wird, obschon es eine einzige Farce geworden ist, zu wiederum einem Korsett, nämlich der NS-Zeit, das zu gleicher Zeit ein menschenmörderisches Korsett ist für den hochgekommenen Mittelstand, der die Honoratiorengeschlechter der kleinen ostelbischen Städte stellt, das ist ein Thema, das in dieser Akribie noch nie entfaltet wurde. Wo ist gerade in der ins Unermessliche geschossenen Memoirenliteratur dieser Zusammenhang wirklich erfasst? Denn wer erinnert sich? Eine Gräfin Dönhoff erinnert sich und völlig wurzellos Umhergetriebene erinnern sich. Diejenigen, die sich ans Standesbewusstsein gekrallt haben, das desto stärker wird, je weniger es ein Fundamentum in re hat, wollen sich nicht erinnern. Eine von Medicus ganz nüchtern ausgesprochene Einsicht lautet, dass das Bereden und das Beschweigen gleichermaßen Vertuschungs- und Umbildungsinstrumente sein können.
Auch die Skizzen aus dem reichsdeutschen Nachleben in der Bundesrepublik sind sehr gelungen. Durch diese Nachinszenierungen wird es viel realer, als wenn die Akteure davon redeten, wie der Autor völlig richtig beobachtet. Hinterpommern ist überall, zunächst in Hinterpommern, dann in der Toskana, dann in Wiesbaden, wo die Großmutter nach kurzer Nachkriegs-Schrecksekunde dank Witwenrente und Entschädigung wieder zur Frau Generalin wird, und schließlich richtet sich die Mutter ihr Hinterpommern in Gunzenhausen ein; für die Landarztfamilie ist die Zugehörigkeit zur Kleinstadt-Hautevolee unstrittig.
Bis zuletzt scheint der Titel am Buch vorbeizulaufen. Auf der letzten Seite klärt er sich und kann das Programm für das Ganze abgeben: „Sich tagtäglich, jahraus, jahrein in den Augen seines Großvaters zu spiegeln, schien mir nicht der empfehlenswerte Weg zu sein, aus dem Labyrinth der damnatio memoriae, der Tilgung des Andenkens, herauszufinden.” Zu dieser Erkenntnis kommt der Autor, nachdem die Einmaligkeit einer solchen Recherche narzisstische Kränkungen erlitten hat. Am Ende stellt sich nämlich heraus: andere haben noch viel mehr recherchiert! In Pistoia soll es einen geben, der seinen Großvater schon auf 1000 Seiten verfolgt hat. Soll er den besuchen? Nein! „Man musste sich erinnern, aber auch vergessen.”
Ein Sprachzauberer ist Medicus nicht, aber der Autor eines überzeugend klugen und aufwändigen Buches. So wie in Bulgakovs Roman „Der Meister und Margerita” der Roman im Roman über Pontius Pilatus das verbrannte Buch ist, das erscheinen soll, so steht der Autor unter dem Zwang, das Verbrannte – seine Mutter hatte die Briefe des Großvaters verbrannt – zu rekonstruieren. Es kann realiter nicht wieder zum Erscheinen gebracht werden, aber dank seinem realanalytischen Vorgehen und selbstanalytischen Prozess kann er in der Imagination etwas konstruieren, das die Vergangenheit im doppelten Sinn des Wortes aufhebt.
CAROLINE NEUBAUR
THOMAS MEDICUS: In den Augen meines Großvaters. Deutsche Verlagsanstalt, München 2004. 262 S., 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Von der Fülle der Memoirenschrifttums und literarischen (Groß-)Vätersuchbilder hebt sich Thomas Medicus' Recherche in Caroline Neubaurs Augen durchaus ab. Der Autor, Enkel eines "Offiziers in drei Armeen" - der Preußischen, der Reichswehr und der Wehrmacht -, der von seiner schweigenden Familie in die labyrinthische Aufarbeitung der Vergangenheit getrieben wurde, zeige nicht nur einsehbar, "das es die entlastende und aufbauende Objektivität der Vergangenheit, die er angestrebt hatte, nicht gibt"; er hat mit seinem Buch auch eine "hochinteressante Quelle über den Mittelstand der Weimarer Republik" und seinen Übergang vom "Korsett" des Kaiserreichs ins "Korsett der NS-Zeit" geschaffen, lobt die Rezensentin etwas angestrengt die Vorzüge von Medicus' Buch. Die Stärke des Buches liegen ihrer Meinung nach nicht unbedingt in der Sprache, sondern in der "klugen" und "aufwendigen" Recherche, die sich nicht zuletzt auch selbst relativiert, indem der Autor erkennt, dass andere "noch viel mehr recherchiert" haben.

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