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Richard Weiner (1884 1937) wird der tschechische Kafka genannt. Sein Lebensweg ist dem Kafkas ähnlich, auch seine Sicht auf die Welt, das parabel- und manchmal rätselhafte Erzählen. Seine Themen reichen von Kultur und Judentum bis zur Politik. Die meisten Texte des Bandes erscheinen erstmals auf deutsch, einige waren bisher noch nie veröffentlicht.

Produktbeschreibung
Richard Weiner (1884 1937) wird der tschechische Kafka genannt. Sein Lebensweg ist dem Kafkas ähnlich, auch seine Sicht auf die Welt, das parabel- und manchmal rätselhafte Erzählen. Seine Themen reichen von Kultur und Judentum bis zur Politik. Die meisten Texte des Bandes erscheinen erstmals auf deutsch, einige waren bisher noch nie veröffentlicht.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2005

Mit Gegendenkerstirn
Böhmen, von Paris aus gesehen: Richard Weiner in einer Auswahl

Richard Weiner war bisher kein ganz Unbekannter in Deutschland. Franz Peter Künzel brachte schon 1968 einen Band mit Weiners Erzählungen bei Suhrkamp heraus; 1992 folgte ein Band bei Reclam. Auch in tschechischen Anthologien fehlten seine Erzählungen nicht. Fachbohemisten wie Heinrich Kunstmann oder Walter Schamschula haben diesen schwer zugänglichen, oft rätselhaften Autor ausführlich gewürdigt und versucht, seinen Ort in der tschechischen und europäischen Literatur zu bestimmen. Die rasch aufgeklebten Etikette wie "der tschechische Kafka" oder die generelle Zuordnung zum Surrealismus mögen auf einzelne Züge seines Erzählwerkes zutreffen, sind aber als Gesamtcharakteristik verfehlt. So korrigiert die jetzt für die "Tschechische Bibliothek" von Steffi Widera besorgte Auswahl von Erzählungen, Essays, Feuilletons und Briefen Richard Weiners das bisherige Bild des Schriftstellers einmal durch die Vielfalt der gebotenen Texte, zum anderen in den vor die einzelnen Textgruppen gesetzten Kommentaren der Herausgeberin.

Steffi Widera macht gleich zu Anfang deutlich, daß es nicht die annähernde Altersgleichheit oder eine Reihe von biographischen Parallelen ist, die den deutsch schreibenden Juden mit dem tschechischen Namen Kafka und den tschechisch schreibenden Juden mit dem deutschen Namen Weiner vergleichbar machen, sondern ihre literarisch gestaltete Ich-Bezogenheit und Traumverlorenheit. Der künstlerische Weg aber verlief bei beiden ganz unterschiedlich. Kafka schuf aus seinen Träumen und Obsessionen eigengesetzliche Welten, zu geheimnisvoller Rationalität geordnet; Weiner konnte sein als fragwürdig empfundenes Ich aus den traumhaft-absurden Situationen, die er beschwor, niemals herausnehmen.

In dem kurzen Text "Über mich selbst" (1918), Parodie einer autobiographischen Notiz, bekannte er: "Ich wollte dahin gelangen, daß mir das Pronomen ,ich' ganz zuwider ist, definitiv und unter allen Umständen, und ich gebe zu, daß ich noch weit davon entfernt bin." Die Erzählungen "Long is the Way to Tipperary" und "Die Puppendoktoren" lassen sich wie traumverhangene Tarnungen und Entblößungen eines verunsicherten Ichs des "armen Richard" lesen, der, wie Karel Capek in seinem Nekrolog schrieb, nirgends zu Hause war, nicht in Paris, nicht in Böhmen, und der als Schmerzensmann 1937 in Prag verstarb.

Weiners Lebens- und Schaffensphasen werden in dem neuen Band nacheinander dokumentiert. Beharrlich stellte er sich vor und nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie die Frage nach dem eigenen Ort. 1913 hatte er aus Paris geschrieben: "Ich bin weder Jude noch Tscheche, weder Deutscher noch Franzose"; aber Böhmen von Paris aus zu schauen, das schien ihm erstrebenswert. 1918 hingegen heißt es, er sei ein tschechischer Schriftsteller und Jude, doch mochte er sein Judentum weder mit der tschechisch-jüdischen Bewegung noch mit dem Zionismus verbinden. Wie er sich in dem Text "Wo ist mein Platz?" (1918) als jüdischer Tscheche und als tschechischer Jude definiert - das zählt zu den gültigen Identitätsbekundungen, die jüdische Autoren abgelegt haben.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte Weiner auf den serbischen Kriegsschauplatz. Aus Briefen und den Erzählungen des Bandes "Die Furien" (1916) entsteht ein Bild vom sinnlosen Aktionismus, das an die protokollarischen Fixierungen Ludwig Renns erinnert, freilich wiederum gebrochen durch das übersensible, verstörte Ich des Erzählers. Schon im Januar 1915 wurde Weiner nach einem Nervenzusammenbruch aus der Armee entlassen.

Richard Weiner war ein unabhängiger Geist, ein Selbstdenker und Gegendenker. Gewiß, er hat im Oktober 1918 die Volksbegeisterung im Augenblick der tschechoslowakischen Staatsgründung emphatisch mitempfunden, doch fragt er sich sogleich beim Anblick eines deutschen Bekannten, wie dem wohl zumute sein möge: "Er schien mir irgendwie fremd, gleichsam wie ein Gefangener. Und es kam mir in den Sinn, sein Gefühl der Vereinsamung zu lindern." Nach 1919 lebte Weiner als Auslandskorrespondent der "Lidové noviny" wieder in Paris. Das journalistische Tagesgeschäft verdrängte für viele Jahre das belletristische Schaffen. Dabei war Weiner alles andere als ein bequemer Berichterstatter. Nicht wenige seiner politischen Analysen, namentlich seine scharfe Kritik an der französischen Deutschland-Politik und an der Haltung von Edvard Benes, wurden von der Redaktion zurückgewiesen.

Mit drei Briefen, geschrieben im April, Juni und August 1935, die bisher noch nie, auch tschechisch nicht, publiziert wurden, gelangt erstaunliche Konterbande in den vorliegenden Band. Weiner kritisiert, daß die Tschechen über keine eigene Deutschland-Politik verfügten, sondern blindlings die französische Orientierung übernähmen. Er mahnt, daß auch Deutschland das Recht haben müsse zu sagen, "daß es im Vergleich mit anderen und hinsichtlich der politisch-ethischen Gesetze, auf denen die Nachkriegswelt angeblich beruht, nicht saturiert ist". Und er sieht eine "anglo-deutsche Annäherung, sekundiert von den Italienern", voraus, "bis sich Hitler, ohne zu fragen, bedient". Der Schuldige ist für ihn Dr. Edvard Benes: "Durch diese Vergötterung eines eitlen und größenwahnsinnigen Diplomaten gelangen wir - wenn wir nicht in uns gehen - zu einem Weißen Berg", also zu einer Wiederholung der nationalen Katastrophe von 1620. Kurze Zeit darauf wurde Benes zum Staatspräsidenten gewählt. Ob der Lauf der Dinge durch eine Politik im Sinne Weiners hätte geändert werden können, ist heute müßig zu fragen. Doch sah dieser unkonventionelle Betrachter offenbar Spielräume, die unbesehen verworfen wurden.

Nützlich und aufschlußreich ist Weiners Artikelfolge über den Surrealismus aus dem Jahre 1932. Er hatte das Aufkommen der französischen Avantgardeströmung, ihre Herkunft aus dem Dadaismus, ihre Infizierung durch den Kommunismus, schließlich die Aragon-Krise (Louis Aragon hatte nach einer Reise in die Sowjetunion 1930 mit seinem Gedicht "Rotfront" das literarische Lager gespalten) aus unmittelbarer Nähe erlebt und bescheinigte der surrealistischen Revolution nun, daß sie ihr Ziel, die Literatur zu übersteigen, nicht erreicht habe, sondern bis zum Hals in der Literatur, ja im Literatentum wate.

Richard Weiner, mit den verschiedenen Facetten seines Schaffens vorgestellt, zeigt so insgesamt ein anderes Profil, als es allein aus seinen Erzählungen zu gewinnen wäre. Die "Tschechische Bibliothek", eine Initiative der Robert Bosch Stiftung, bringt tschechische Autoren von europäischem Rang vor den deutschen Leser. Daß Richard Weiner mit diesem vielfältigen, überaus interessanten und dazu hübsch gestalteten Band vertreten ist, wirft die Frage auf: Können Stiftungsgelder einem besseren Zweck dienen?

REINHARD LAUER

Richard Weiner: "Kreuzungen des Lebens". Erzählungen, Essays, Feuilletons, Briefe. Aus dem Tschechischen übersetzt von Silke Klein, Susanna Roth, Karl-Heinz Jähn, Franz Peter Künzel und Peter Sacher. Ausgewählt und kommentiert von Steffi Widera. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005. 302 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Das hat Richard Weiner nicht verdient, meint Felix Philipp Ingold, der eine Würdigung des tschechischen Schriftstellers zwar wie die Herausgeberin des Auswahlbandes Steffi Widera für überfällig hält, an ihrer Umsetzung aber einiges zu bemängeln hat. Warum setzt man einen zweifellos "starken" Autor wie Weiner durch den "überanstrengten" Vergleich mit dem zeitgenössischen Genie Kafka "ohne Not" herab, fragt sich der Rezensent. Die Auswahl der Texte, Aufsätze, Essays und Briefe kommt ihm zu "disparat" vor, um sich ein bestmögliches Bild des Literaten zu machen. Zudem bemängelt Ingold die zahlreichen Überschneidungen mit früheren deutschsprachigen Sammelbänden, erratische Kürzungen, fehlende Datierungen und das Nachwort Karel Capeks, das Weiner durch "kumpelhafte Herablassung" beleidige. Wenig Ehre für einen Autor, der so "meisterhafte Phantasiestücke" wie "Die Puppendoktoren" verfasst hat, die den Rezensenten durch ihre "völlig eigenständigen Formulierungen" in den Bann gezogen haben.

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