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Deutsche Jugendliteraturpreis 2008, Kategorie Sachbuch
Das Opfer. Die Täter. Das Dorf. Unser Land.
Marinus Schöberl war 16 Jahre alt, als er von drei Kumpels gefoltert und durch einen "Bordsteinkick" zu Tode getreten wurde. Nachbarn hatten die Misshandlungen mit angesehen und über Monate geschwiegen. Dieser grausame Mord und seine furchtbaren Begleiterscheinungen rückten das uckermärkische Dorf Potzlow in die Schlagzeilen der internationalen Presse. In den Medien stand er sinnbildlich für rechtsradikale Gewalt und eine verrohte Gesellschaft in den fünf neuen Bundesländern.
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Produktbeschreibung
Deutsche Jugendliteraturpreis 2008, Kategorie Sachbuch

Das Opfer. Die Täter. Das Dorf. Unser Land.

Marinus Schöberl war 16 Jahre alt, als er von drei Kumpels gefoltert und durch einen "Bordsteinkick" zu Tode getreten wurde. Nachbarn hatten die Misshandlungen mit angesehen und über Monate geschwiegen. Dieser grausame Mord und seine furchtbaren Begleiterscheinungen rückten das uckermärkische Dorf Potzlow in die Schlagzeilen der internationalen Presse. In den Medien stand er sinnbildlich für rechtsradikale Gewalt und eine verrohte Gesellschaft in den fünf neuen Bundesländern.

Der Regisseur und Psychologe Andres Veiel wollte sich mit einfachen, raschen Antworten nicht begnügen. Viele Monate hat er in Potzlow und Umgebung recherchiert, hat Interviews mit den Tätern geführt, mit ihren Angehörigen und Bekannten gesprochen. Er zeichnet ein komplexes Bild von weit zurückreichenden Traumata und Gewalt, die bis heute unter einer dünnen Schicht von Bürgerlichkeit und Zivilisation in unserem Land virulent sind.

"Mein Bruder fing dann an zu schreien: - Scheiße, wir haben einen umgebracht. - Er sprach auch davon, dass wir ihn verbuddeln müssen. Am Ausgang in Richtung Jauchegrube rechts stand ein Schaufelblatt ohne Stiel." MARCEL SCHÖNFELD, WEGEN MORDES VERURTEILT

"Bedrückt war er, aber wir wussten nicht, woran das liegt. Wir sind zur Schule hin, haben gesagt, hier stimmt irgendwas nicht, und die haben immer gesagt, es ist alles in Ordnung. Wir haben ihn gefragt, was ist denn los? Er hat sich nicht geäußert, nie. Das war wie 'ne Wand." JUTTA SCHÖNFELD, MUTTER DES TÄTERS

"Einmal Mörder, immer Mörder. Ich habe Hass, Wut und Verachtung für diese Bestien. Die verdienen kein anderes Wort. Die haben genau gewusst, was sie taten in ihrer Kaltblütigkeit." BIRGIT SCHÖBERL , MUTTER DES OPFERS

- Eine beklemmende Fallstudie über eine entwurzelte Jugend, Rechtsradikalismus, deutsche Traumata und Gewalttraditionen

- Das Buch geht in seiner Recherche und Analyse weit hinaus über das erfolgreiche Theaterstück und den von der Presse gefeierten Film

- Inszenierungen an Theatern u.a. in Berlin, Bochum, Dresden, Hamburg, Köln, Leipzig, Moers, München und Oberhausen

"Dieses 'Lehrstück über Gewalt' könnte ein Klassiker werden: als Geschichtsbuch über die Gegenwart ebenso wie als Modellanalyse eines Gewaltverbrechens." Süddeutsche Zeitung

"Ein kluges, nüchternes, auf beklemmende Weise hellsichtiges Buch" Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Was, wenn es außerhalb dieser großartigen Aufarbeitung des Deutschlandkomplexes keine richtigen Antworten gibt? Der Kick ist wie ein Kreislaufkollaps, schwindelerregend und heilsam. Es muss einem erst schwarz vor Augen werden, bevor man die Welt wieder scharf sehen kann." Frankfurter Rundschau über den Film von Andres Veil
Autorenporträt
Andres Veiel, geb. 1959 in Stuttgart, studierte Psychologie und machte parallel eine Regie- und Dramaturgieausbildung unter Leitung des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieslowski. Er ist derzeit der bedeutendste deutsche Dokumentarfilmer. Seine Filme 'Balagan', 'Die Überlebenden', 'Black Box BRD' und 'Die Spielwütigen' waren Publikums- und Presseerfolge und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.03.2007

Die Sprache der Mörder
Lehrstück über Gewalt: Andres Veiels hervorragende Recherche

Chronik eines angekündigten Todes: Vor fünf Jahren wurde in dem ostdeutschen Dorf Potzlow der sechzehnjährige Marinus Schöberl brutal ermordet. Hätte es, wie die Einwohner sagen, wirklich jeden treffen können?

In einer Julinacht vor fast fünf Jahren wurde der sechzehnjährige Marinus Schöberl in einem uckermärkischen Dorf nach stundenlangem Martyrium brutal ermordet. Die Grausamkeit dieser Tat, verübt von zwei Brüdern und ihrem Freund, und die Umstände - es gab viele Zeugen, die bis heute schweigen - scheinen so ungeheuerlich, dass sich Versuche, dies zu erklären, fast verbieten. Aber erzählen kann man, ohne eine Lösung anbieten zu wollen, und zur Tat die anderen Puzzleteile fügen, die ein Gesamtbild ergeben, das man zwar auch nicht versteht, aber das zur singulären Untat einen Hintergrund fügt.

Der Dokumentarfilmer und Sachbuchautor Andres Veiel ("Black Box BRD") hat Potzlow zwei Jahre nach dem Mord aufgesucht, als die Medienwelle, die dieser Fall bundesweit auslöste, wieder verebbt war. Schlechte Bedingungen für einen, der es genauer wissen will, der nicht an griffigen Bildern und Stereotypen interessiert ist und weder "die Verhältnisse" ursächlich mit der Tat verbinden will noch die entlastenden Vermutungen, Marinus sei hier zufällig das Opfer betrunkener Nazi-Schläger geworden. Denn Potzlow war einmal zum schönsten Dorf Deutschlands gewählt worden. Aber Potzlow war auch ein Dorf, durch das nachts manche Zwölfjährige alkoholisiert liefen, wo Neid und Missgunst die stärksten Gefühle auszulösen vermochten und viele wohl immer noch glauben, man hätte ihnen, den Dorfbewohnern, nicht aber dem Jungen Marinus etwas angetan.

Es hätte jeden treffen können, versicherte der Bürgermeister immer wieder, Marinus sei einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Diese Behauptung widerlegt Veiel mit seiner Recherche. Täter wie Opfer sind Außenseiter, geprügelte Jugendliche, erfolglos dazu, sie haben Sprachschwierigkeiten, hilflose Eltern, ratlose Lehrer, sie trinken zuviel. In dieser Hinsicht sind sie sich zumindest ähnlich. Und Veiel kommt zu dem Schluss, dass die Tat ohne diese Nähe nicht geschehen wäre. Die Mörder haben sich ihr Opfer bewusst ausgesucht.

Ihre Sprache, jenseits der leichten Behinderung, ist so rudimentär wie die vieler anderer Landbewohner. Beim Lesen der Interviews, der Verhörprotokolle und der vielen Gespräche, die Andres Veiel mit den Eltern, den Nachbarn, Freunden, den alkoholkranken Gescheiterten führt, enthüllen sich Spracharmut und zivilisatorische Defizite in einem Ausmaß, das erschüttert. Andres Veiel gelingt es, das Vertrauen der Brüder, die die Tat begingen, und das ihrer Eltern zu gewinnen; langsam, behutsam bringt er sie zum Sprechen, und wir erfahren nicht nur, wie es zu diesem Gewaltrausch kam, sondern auch die Lebensgeschichten jenseits der Tat.

Die Brüder Marco und Marcel wachsen in, wenn man so will, geordneten Verhältnissen auf. Der Vater arbeitete zu DDR-Zeiten viel, verdiente überdurchschnittlich, vor allem mit Schwarzarbeit in einem Mangelland, das soziales Ansehen auch danach bemaß. Es sind Fähigkeiten, die nach der Wende überflüssig werden, obwohl der Vater noch lange Arbeit hat, aber nicht mehr diesen Status. Er macht nicht den Eindruck, als habe er diesen Prestigeverlust verkraftet. Die Eltern geben sich Mühe, aber ihre Vorstellungen von Erziehung sind wohl zu rudimentär, als dass sie dem Scheitern, vor allem des älteren Sohnes, entgegenwirken könnten. Schuld daran sind die anderen, die neuen Verhältnisse, die Lehrer, die Ausländer, um die sich viel zu viel gekümmert werde. Rechtsradikale sind sie darum nicht, aber Veiel beschreibt einen Alltag, der diesen dumpfen Ideen auch so gut wie nichts entgegenzusetzen vermag.

Marinus, das Opfer, ist das jüngste, von älteren Schwestern verwöhnte, geliebte Kind in einer großen Familie, die man im Dorf abfällig "Kelly Family" nennt. Er ist ein Hip-Hopper, was die anderen, die Springerstiefel und Glatze bevorzugen und die dazugehörige rabiate Musik, provoziert. Trotzdem soll sein Mörder Marcel viel Zeit mit ihm verbracht haben, solange der ältere Bruder Marco, den er bewundert und fürchtet und den man als Intensivtäter beschreiben muss, im Gefängnis war. Marinus klaut zwar mal ein Moped, aber er wird als sanft, arg- und vor allem wehrlos beschrieben. Auch das, so Veiel, habe die Täter provoziert. Er hatte kein Handlungsmuster, dass seine Quäler akzeptiert hätten. Ein Freund von Marinus glaubt zudem, dass das brutale Trio ihn, dessen Vater im Dorf viel Ansehen genießt, niemals derart misshandelt hätte. "Die hätten genau gewusst: Wenn sie mich anfassen, dann ist die Straße voll, das überleben sie nicht."

Bei Marinus, den sie im Morgengrauen, schon halbtot geschlagen, mit dem Fahrrad durch den Ort fahren, hin zum Schweinestall, wo er erschlagen und später verbuddelt wird, steht niemand auf. Die Familie des Opfers sind verachtete "Zugezogene". Die Zeugen greifen bei den Quälereien nicht ein, und sie behalten sogar die Sachen des Opfers, das sich von seiner Mutter am Tag zuvor zu einem kleinen Ausflug verabschiedet hatte. Sie behalten sie auch, als die Polizei nach Marinus zu suchen beginnt. Und sie schweigen. Bei einigen mag Scham dazu geführt haben, bei anderen eine Rohheit und Leere, durch die nichts mehr dringt, vor allem kein Mitgefühl.

Veiel hat seinen Film, ein Theaterstück und nun auch dieses Buch, das alles andere ist als ein Begleitbuch, "Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt" genannt; ein Lehrstück, weil es keine Monster vorführt und schnurgerade Wege ins Verderben, sondern Konflikte, die sich langsam aufbauten bis zur Eskalation, ohne dass jemand oder etwas, das stark genug gewesen wäre, rechtzeitig eingegriffen hätte. Der "Bordsteinkick" ist der Todesstoß, den einer der Brüder dem Opfer versetzt, als sich ihre Lust auf Gewalt und das Gefühl, uneingeschränkte Macht über einen am Boden liegenden Menschen zu haben, verselbständigt hat und einer der Brüder meint, jetzt könne man Marinus keinem Arzt mehr vorführen. Sie befehlen Marinus, in den steinernen Trog zu beißen, dann springt Marcel mit voller Wucht auf seinen Hinterkopf. Der "Kick" hat sein Vorbild, sie spielen hier das Finale von "American History X" nach, ein Anti-Gewalt-Film, ginge es nach dem Filmemacher Für Veiel ein Musterbeispiel für die immer wieder verkannte Wirkung von Gewaltszenen: Nicht die löbliche Botschaft wird übernommen, sondern die ästhetische Überhöhung eines Gewalttäters.

Was dieses Buch aus allen anderen Veröffentlichungen zu diesem Mord heraushebt, ist die das ganze Dorf und seine Bewohner umfassende Geschichte, die Andres Veiel recherchiert. Schicht um Schicht hebt er auf, kehrt bis ins Kriegsjahr 1944 zurück, als im Dorf polnische Zwangsarbeiter drangsaliert wurden. Er entsiegelt das verborgene Gedächtnis dieses Ortes, in dem der brutale Gutsvorsteher, der die Polen misshandelte und vor dem viele Angst hatten, nach dem Krieg in die SED geht und in deren Namen die Vergangenheit wegbügelt. Sein nicht minder brutaler Aufseher wird gar LPG-Vorsitzender. Die Leiden und die Verbrechen, über alles breitet sich der Mythos vom antifaschistischen Staat, der sich nicht nur den konsequenten Elitenwechsel ersparte, sondern jeden umarmte, die Täter wie die Opfer, und alles, was da an antidemokratischem Potential übrigblieb, ignorierte.

Das Gefühl der "Überfremdung", die abwertenden Begriffe für die Polen, die ihnen zu DDR-Zeiten alles weggekauft hätten, die unreflektierten Lehrstunden zum Faschismus, dessen Täter immer anderswo waren, und die verinnerlichten Klischees von der solidarischen DDR-Gemeinschaft, die angeblich jedem half - all das gehört zum Sittenbild Potzlow.

Andres Veiel ist kein Ankläger, eher ein Chronist, der zur Verfügung stellt, was der Leser braucht, um sich ein Urteil bilden zu können. "Der Kick" ist ein hervorragendes Sachbuch zu einem schwierigen Thema, das nicht nur besticht, weil es ein entsetzliches Ereignis so genau und differenziert untersucht. Es kommt fast ohne Kommentare aus, doch entdeckt es dem Leser jene Leerstellen der Zivilität, die eine Katastrophe wie diese geschehen ließen.

REGINA MÖNCH

Andres Veiel: "Der Kick". Ein Lehrstück über Gewalt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007. 270 S., br., 14,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2007

Wer Schwäche zeigt, der fällt
Wie begreift man Gewaltverbrechen? Andres Veiels erschütternd lehrreiches Buch über den Mord an Marinus Schöberl Von Jens Bisky
Der siebzehnjährige Sebastian Fink galt als „Schisser”, nur in der Gruppe stark. Aber er hatte die Demütigung des Opfers entschlossen vorangetrieben, ihn am brutalsten attackiert, dem blonden Sechzehnjährigen Faustschläge versetzt, bis dieser mit dem Stuhl nach hinten kippte. Sebastian schleppte ihn vor die Tür, öffnete den Hosenstall und urinierte auf Marinus Schöberl, als wollte er jede Erinnerung daran auslöschen, dass vor ihm ein Mensch lag, ein Saufkumpan.
Den Mord wenig später vollzogen die Brüder, Marco und Marcel Schönfeld, mit denen gemeinsam er über Marinus hergefallen war. So kam er, als die Tat 2003 vor Gericht verhandelt wurde, mit einer Jugendstrafe von zwei Jahren davon, und da er fast ein Jahr in Untersuchungshaft gesessen hatte, entließ man ihn in die Freiheit. Seine Freundin, die Mutter seines Kindes, wollte nichts mehr von ihm wissen.
Einmal traf ihn deren Schwester, bei der das junge Paar einst wohnte, im Supermarkt in Templin. Wie es in kleinen Orten so geht, kannte sie die Kassiererin, bat, etwas durchsagen zu dürfen und sprach ins Mikrofon: „Liebe Kunden, in dieser Filiale kauft gerade ein Mörder ein.” Sebastian stellte sich in die Schlange, als habe er nichts gehört. Da rief sie, als sei er auch nach verbüßter Strafe mehr Mörder als Mensch, einer, dem nie verziehen werden könne: „Der ist es, genau der.” Viele starrten ihn an, er zahlte und lief aus der Filiale.
Der Mord an Marinus Schöberl, der in der Nacht zum 13. Juli 2002 in einem Schweinestall in Potzlow, Uckermark, „tot gemacht” wurde, gehört zu den bekanntesten Gewaltverbrechen der jüngeren Geschichte. Jeder Zeitungsleser weiß, dass damals großes Kino nachgespielt wurde, dass sie Marinus zwangen, in die Kante eines Trogs zu beißen, dass der jüngere der Schönfeld-Brüder, Marcel, mit voller Wucht auf seinen Hinterkopf sprang – so wie er es in „American History X” gesehen hatte. Danach befanden die Täter, man könne Marinus keinem Arzt mehr vorstellen, suchten etwas Passendes, fanden einen Gasbetonstein, erschlugen den Röchelnden, dann vergruben sie ihn und verwischten ungeschickt die Spuren.
Es hat lange gedauert, bis die Leiche gefunden wurde, obwohl die Mörder plauderten und prahlten. Zeugen der Misshandlungen hatten geschwiegen, auch war nur obenhin gesucht worden, als die Mutter ihren Sohn, das siebte von sieben Kindern, vermisst meldete. Umso heftiger reagierte die Öffentlichkeit nach dem Fund. Journalisten stürmten das Dorf. Antifa-Gruppen demonstrierten „Potzlow ist überall”. Die Eltern der Mörder-brüder Schönfeld erhielten Morddrohungen. Ein Fernsehsender soll Jugendlichen Geld geboten haben, damit sie noch einmal, zum Schein und fürs Abendprogramm, nach der Leiche gruben. Rasch wurden Einzelheiten der Misshandlungen bekannt – so wie es inzwischen üblich geworden ist, wenn es um Gewaltverbrechen geht.
Es scheint, als hätten wir Anspruch auf die grausigen Einzelheiten, als reiche das einfache „gedemütigt, geschlagen, ermordet” nicht aus. Diese „Informationen”, denen zuliebe die Würde der Opfer wie der Täter missachtet wird, befriedigen nicht nur voyeuristische Lust. Sie munitionieren Feindbilder, bestätigen Vorurteile. Während der Einbruch von Gewalt in unser beispiellos friedliches Mittelstandsleben eigentlich den Boden unter den Füßen wegzieht, das Selbstverständliche erschüttert, enthält die die mal hysterische, mal alarmistische oder staatstragend besorgte Berichterstattung eine beruhigende Botschaft: Welt und Menschen erscheinen in etwa so, wie wir es uns immer schon gedacht haben: Ostdeutsche trinken, Alkohol enthemmt, Arbeitslose haben keine Hoffnung, Migranten sind testosterongesteuert und gewalttätig, Skins prügeln, Pädophile morden, Killerspiele machen aggressiv.
Je blutiger, grausamer die Details, desto mehr wird unser Weltvertrauen bestätigt. Die Täter erscheinen als Monster. Da scheint es nur folgerichtig, sie auf Nimmerwiedersehen wegzusperren. Mit dem Ruf nach dem Polizeistaat ist der Fall meist erledigt. Der Mechanismus ist paradox: gerade weil so ausführlich berichtet wird, bleiben Tat und Gewalt unverstanden, kann man sich das nähere Hinsehen ersparen. Die Details illustrieren Schemen. Wer im Fernsehen die Folge einer beliebigen Krimiserie anschaut, weiß in etwa, was ihn erwartet, er kennt längst alle möglichen Wendungen und Verwicklungen. Die Neugier richtet sich darauf, wie diesmal die Gesetze des Genres erfüllt werden. Das Individuelle und Besondere ist Beispiel, Anlass, Material, eine Geschichte zu erzählen. Es bedeutet an sich nichts. So ähnlich reden wir meist über Gewaltverbrechen.
Zwei Jahre nach dem Mord an Marinus Schöberl ist der Filmemacher Andres Veiel nach Potzlow gefahren. Er hat mit den Menschen im Dorf, mit Freunden, Bekannten, Verwandten des Opfers und der Täter gesprochen. Danach hat er aus 1500 Seiten Interviews ein Stück verfertigt, knapp vierzig Seiten, eine Montage verschiedener Stimmen. „Der Kick”, später auch verfilmt, war ungeheuer eindrucksvoll und unbefriedigend. Mit den Mitteln der Dokumentarliteratur hatte Veiel den Schrecken vor der Tat zurückgewonnen und jene Behutsamkeit gegenüber der Wirklichkeit, die sich entzieht, wenn man mit all zu einleuchtenden Thesen auf sie losgeht. Aber verstanden waren Fall und Umwelt noch nicht. Der Freiraum für weitere Untersuchung war erobert.
Einer der Freunde von Marinus quälte sich lange mit dem Gedanken, dass er die Tat hätte verhindern können, wenn er damals mitgegangen wäre, mitgetrunken hätte. Warum tat er es nicht? „Warum, warum, warum. Immer diese schwulen Fragen. Das tut weh.” Andres Veiel hat weiter recherchiert und die Geschichte der Tat in einem Buch aufgeschrieben – so nüchtern, aufwühlend und erhellend, wie lange keines mehr erschienen ist. Er stellt die Frage „Warum?”, weiß von Anbeginn, dass er sie nicht einfach, nicht in zwei Sätzen und nicht auf vierzig Seiten beantworten kann, und fragt dennoch weiter. Dieses „Lehrstück über Gewalt” könnte ein Klassiker werden: als Geschichtsbuch über die Gegenwart ebenso wie als Modellanalyse eines Gewaltverbrechens.
Warum aber sollte das interessieren? Der „Bordsteinkick” in Potzlow war ein außergewöhnlicher, seltener Fall unter den ohnehin seltenen Gewaltverbrechen in einem Land, dessen Alltag historisch beispiellos friedlich ist. Die Gefahr während eines Familienausflugs am Sonntag zu Schaden zu kommen, ist allemal größer, als das Risiko, Opfer einer Gewalttat zu werden. Gewalttaten machen nur drei Prozent der statistisch erfassten Delikte aus. 2004 wurden in Deutschland 647 Menschen wegen Mordes oder Totschlags rechtskräftig verurteilt. Auch die Zahl der von Jugendlichen verübten Gewaltdelikte ist in den vergangenen acht Jahren um ein Viertel zurückgegangen.
In unserem Vorstellungshaushalt nehmen Schläger, Mörder, Amokläufer, Kinderschänder einen viel größeren Raum ein, als ihrer Bedeutung in der Wirklichkeit angemessen wäre. Stimmt also der Vorwurf, es handele sich um eine hysterische Reaktion, von sensationslüsternen Journalisten angeheizt? Reagieren wir deshalb so heftig, weil Gewalt so selten geworden ist? Oder ist die statistisch unbegründete Obsession für Gewaltverbrechen, von der die deutsche Öffentlichkeit ergriffen scheint, ein Symptom für Veränderungen?
Einiges scheint immerhin neu oder überraschend wiedergekehrt. Da ist zum einen der freiheitsfeindliche Ruf nach dem starken Staat, der ein für allemal aufräumen und absolute Sicherheit garantieren soll. Kein Fall von Kinderschändung, nach dem nicht diktatorische Maßnahmen gefordert werden. Was dem einen der Vergewaltiger ist dem anderen der rechtsextreme Skinhead oder der prügelnde Russe, Kurde, Türke: ein nicht unwillkommener Anlass, die Hemmungen fallen zu lassen und nach einer Lösung à la Guantanamo zu rufen. Dabei wird über die Täter gesprochen, als gäbe es „geborene Verbrecher”. Nachdem kurze Zeit Schuld und Verantwortung auf „gesellschaftliche Verhältnisse” abgewälzt wurden, triumphiert nun das andere, nicht weniger dumme Extrem.
Zum anderen verstören die Nachrichten von Verbrechen, in denen es um nichts geht als um das Ausleben von Gewalt. Sie scheint autonom geworden, zweckfrei. Man lässt dem Opfer die Brieftasche, aber tritt es, bis es nicht mehr zuckt. Prügeleien wegen Nichts waren ein fester Bestandteil unserer Alltagskultur. Kneipenbesuch und Kirmes endeten regelmäßig mit Schlägereien. Dabei galten allerdings ungeschriebene Gesetze, etwa die, dass man Schwächere nicht schlägt, dass „zwei auf Einen” feige ist, dass man aufhört, wenn einer am Boden liegt. Einst war, wer sie nicht befolgte, kein Mann. Heute bestätigen manche ihre Männlichkeit im Fertigmachen von Wehrlosen. Die Verletzung des anderen wird zur Feier der eigenen Unempfindlichkeit.
„Marinus – warum hat dir keiner geholfen? Fluch den Bestien.” Birgit Schöberl, Mutter
Fortsetzung auf Seite 2
Kain erschlägt Abel, Ausschnitt aus einer Federzeichnung von Rembrandt (um 1650) Abb: Archiv
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Als "eindrucksvolles Protokoll einer sozialen Aufmerksamkeit" würdigt Harry Nutt dieses Buch des Filmemachers Andres Veiel über den grausamen Mord von Potzlow. Er lobt die genauen Recherchen des Autors, die intensive Gespräche mit den Tätern und ihren Angehörigen, aber auch mit den Hinterbliebenen des Opfers, einschließen. Die Rekonstruktion des Tathergangs enthüllt für Nutt ein "Horrorszenario" aus sozialer Deformation, Hilflosigkeit und Alkoholismus. Dabei hebt er hervor, dass Veiels Darstellung frei von "eindimensionalen" Schlüssen ist. Mit psychologischen Spekulationen halte sich der Autor weitgehend zurück, um stattdessen Schicht für Schicht in einer dichten Beschreibung die "Scherben eines sozialen Desasters" zusammenzutragen. Nutt unterstreicht zudem Veiels Ausleuchtung des gesellschaftlichen Hintergrunds, vor dem sich die Tat abspielte: die verdrängte, unbewältigte ins Kriegsjahr 1944 zurückgehende Gewaltgeschichte des Ortes.

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