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Es geht in diesem Buch um Sexualität im Sprachvergleich, genauer: um Sexuelles und Fäkalisches beim groben Sprechen. Wenn wir Deutschen schimpfen, beleidigen, fluchen und überhaupt vulgär werden, verwenden wir normalerweise Ausdrücke, die sich auf Exkrementelles beziehen, während unsere Nachbarsprachen zu diesem Zweck fast immer ins Sexuelle gehen. Gibt es Gründe für diesen deutschen Sonderweg? Anhand einer überwältigenden Fülle an Beispielen aus über einem Dutzend Sprachen widmet sich Hans-Martin Gauger dem Thema mit Witz und Scharfsinn. Der Leser wird gut unterhalten, erfährt viel…mehr

Produktbeschreibung
Es geht in diesem Buch um Sexualität im Sprachvergleich, genauer: um Sexuelles und Fäkalisches beim groben Sprechen. Wenn wir Deutschen schimpfen, beleidigen, fluchen und überhaupt vulgär werden, verwenden wir normalerweise Ausdrücke, die sich auf Exkrementelles beziehen, während unsere Nachbarsprachen zu diesem Zweck fast immer ins Sexuelle gehen. Gibt es Gründe für diesen deutschen Sonderweg? Anhand einer überwältigenden Fülle an Beispielen aus über einem Dutzend Sprachen widmet sich Hans-Martin Gauger dem Thema mit Witz und Scharfsinn. Der Leser wird gut unterhalten, erfährt viel Wissenswertes über Europas Sprachen - und darüber, wie man sprachlich korrekt plurilingual beleidigt und flucht.
Autorenporträt
Hans-Martin Gauger, emeritierter Ordinarius für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität Freiburg, ist einer der renommiertesten deutschen Sprachwissenschaftler.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2012

Wenn hinterfotzige Seckel mit Karacho ins Klo greifen

Beim Fluchen verwenden unsere Nachbarn sexuelle Metaphern. Der Linguist Hans-Martin Gauger geht der Frage nach, warum sich Deutsche demgegenüber an die Sphäre des Fäkalen halten.

Von Wolfgang Krischke

Die 109. Minute im Finale der Fußballweltmeisterschaft 2006 war ein Moment, der lehrbuchartig vorführte, welche Wucht sprachliches Handeln entfalten kann: Marco Materazzi aus der italienischen Mannschaft hatte den französischen Nationalspieler Zinedine Zidane am Hemd gefasst, worauf der ihm ironisch anbot, ihm das Kleidungsstück nach dem Spiel zu überlassen. Materazzis Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: "Ich will lieber deine Schwester, die Nutte!" Kurz darauf lag er am Boden - niedergestreckt von einem Kopfstoß Zidanes. Hans-Martin Gauger nimmt diesen italienisch geführten Kurzdialog mit seinem abrupten Übergang ins Nonverbale als Einstieg für eine erhellende und meistens auch unterhaltsame Expedition durch die Beleidigungs- und Schimpfkulturen Europas.

Das Deutsche - so seine zentrale These - bildet in dieser Hinsicht eine Insel der Besonderheit, was auch an den von Unkenntnis geprägten Reaktionen deutscher Journalisten auf den französisch-italienischen Zusammenstoß deutlich werde: Die meisten sahen die Beleidigung darin, dass Zidanes Schwester als Prostituierte bezeichnet wurde. Doch das, erklärt Gauger, war nur ein Verstärker. Die ehrverletzende Attacke bestand vor allem in der Äußerung des Wunsches, über die Schwester - es hätte beleidigungstechnisch auch die Mutter sein können - sexuell zu verfügen.

Dass das hierzulande nicht gleich erkannt wurde, liegt für Gauger vor allem daran, dass das Sexuelle im Deutschen als Reservoir für Wörter und Wendungen des Herabwürdigens, Schimpfens und Fluchens kaum genutzt wird, während es nicht nur für den Italiener Materazzi, sondern für die Sprecher vieler anderer - nicht nur romanischer - Sprachen zum jederzeit abrufbaren Repertoire gehört. Im deutschen Sprachraum hätte man in dieser Situation hingegen ein "Verpiss dich, du Arschloch!" erwartet, denn um zu pöbeln, machen Deutsche, Österreicher und Deutschschweizer in der Regel einen "Griff ins Klo", wie eine bezeichnende Wendung lautet. Sie bedienen sich dafür fast ausschließlich des Fäkalbereichs, wofür das Wortfeld "Scheiße", von Gauger mit linguistischer Akkuratesse vermessen, nur ein Beispiel ist.

Auch so scheinbar unanstößige Wendungen wie "im Eimer sein", "zu Potte kommen" oder "anschmieren" gehören als Euphemismen in dieses exkrementelle Reservoir. Zwar finden sich fäkalische Fluch-Ausdrücke - von "shit" bis "mierda" - auch in vielen anderen Sprachen, aber sie treten dort doch zurück hinter den größeren Batterien von Kraftwörtern und -wendungen, die sich auf Sexualorgane, den Geschlechtsverkehr oder die Prostitution beziehen. Das Besondere dabei ist natürlich nicht, dass es sich um vulgäre Bezeichnungen des Geschlechtlichen handelt - solche finden sich auch im Deutschen in großer Zahl -, sondern in ihrer Instrumentalisierung für den nichtsexuellen Bereich des Beleidigens, Schimpfens, Meckerns und Verfluchens.

Gauger liefert hierfür eine bunte Vielfalt von Beispielen aus zahlreichen Sprachen. Der Schwerpunkt seiner Auswahl ist durch sein Fach, die Romanistik, bestimmt, doch bezieht er auch andere Sprachen - vom Niederländischen über das Ungarische bis zum Türkischen - ein. Die Gefahr, dass solche Examinierungen unterhalb der Gürtellinie entweder zu einer öden Taxonomie des Degoutanten geraten oder in eine verklemmte Schlüpfrigkeit abrutschen, ist groß, doch Gauger - einer der wenigen Sprachwissenschaftler mit dem Talent zum anspruchsvollen Popularisieren - erliegt ihr nicht: Leicht im Stil und konzentriert in der Sache präsentiert er dem Leser die sprach- und kulturwissenschaftlichen Erträge seiner Untersuchungen. Etwas zu viel des Guten sind freilich seine Exkurse in die Weltliteratur, denn sie führen - so lesenswert sie stellenweise sind - zu weit vom Thema ab und lassen den Gedankengang zerfransen.

Im Sprachvergleich kommt dem Deutschen mit seiner Fokussierung auf das Exkrementelle am nächsten noch das Französische, das neben einem reichhaltigen sexuellen Schimpfvokabular auch eine ganze Reihe von Fäkalflüchen zu bieten hat. Den Grund dafür, dass sich hier das "Schmutzige" und das "Feuchte" treffen, sieht Gauger im sprachlichen Einfluss der herrschenden Germanen, genauer gesagt der Franken des frühen Mittelalters, auf die galloromanische Sprache der Einwohner. Diese These entspricht zwar dem altphilologischen Bonmot, dass Französisch nur ein durch die germanische Zunge verdorbenes Latein sei. Was aber nicht ins Bild passt, sind die anderen germanischen Sprachen, die, wie Gauger selbst zeigt, nicht dem deutschen Muster folgen. Deren vulgäre Flüche sind, wie im Schwedischen, vornehmlich religiös grundiert, oder sie gehören, wie im Niederländischen oder Englischen, eher ins "romanische Lager", haben also eine starke sexuelle Komponente, wie das sich endemisch ausbreitende "fuck" zeigt.

Gaugers Vermutung, die Seefahrt habe die Niederlande und Großbritannien mit Kraftausdrücken aus anderen Kulturen versorgt und deshalb im Gegensatz zum eher meerfernen deutschsprachigen Raum auf einen anderen Kurs gebracht, steht auf schwachen Füßen. Der Autor unterschätzt - vielleicht aus seiner badischen Perspektive - die Bedeutung des Seehandels für die gesamte Nordhälfte des deutschsprachigen Raums. Die Hanse und mit ihr das Niederdeutsche als überregionale Handelssprache strahlten bis weit in die Mitte Deutschlands aus und boten somit ein großes potentielles Einfallstor für sexuelle Schimpfmetaphern anderer Sprachen. Wurde es vielleicht sogar genutzt?

Gibt es möglicherweise vulgärsprachliche Unterschiede zwischen den niederdeutschen und den hochdeutschen Dialekten sowie dem Standarddeutschen? Gaugers Untersuchung, die sich wesentlich auf Wörterbuchrecherchen und eigene Belegsammlungen stützt, stößt hier an ihre Grenzen. Immerhin zeigt er für Süddeutschland, dass es abseits des überregionalen Vulgärdeutschen landschaftliche Abweichungen vom Exkrementellen gibt: Der alemannische "Seckel" und das - wahrscheinlich aus dem Bairischen stammende - "hinterfotzig" sind Beispiele für eine sexuell motivierte Vulgärsprache neben den dort ebenfalls stark vertretenen Fäkal-Schimpfwörtern. Gaugers Beispiele für importierte Fremd-Vulgarismen demonstrieren wiederum, dass diese nach ihrer Ankunft im Deutschen oft ihren sexuellen Hintergrund verloren haben. So erging es dem spanischen "carajo", das - mit der Ursprungsbedeutung ,männliches Glied' - eigentlich ein derber Fluch ist, der aber im Deutschen mit Karacho zur harmlosen Bezeichnung für hohe Geschwindigkeiten wurde, begünstigt möglicherweise durch die lautliche Nähe zu "Krach". Und der "digitus impudicus" des Römischen Reiches, der in Südeuropa sexuell besetzt ist, wandelte sich in Deutschland bezeichnenderweise in den "Stinkefinger". Gab es in der indogermanischen Sprachgeschichte möglicherweise eine Epoche, in der die beiden Welten des Vulgären stärker verschmolzen waren als heute? Das lateinische "obscenus" und seine Ableitungen jedenfalls können sich sowohl auf Geschlechtsteile als auch auf Kot beziehen.

Woher rührt nun der Sonderweg - oder soll man sagen: die Sondergosse - der deutschen Sprache? Gauger verzichtet dankenswerterweise auf psychoanalytische Spekulationen über eine "Analfixierung der Deutschen". Dergleichen verbietet sich für die Ursachenforschung schon deshalb, weil sich die länderübergreifende deutsche Sprache keinem "Nationalcharakter" zuordnen lässt. Warum irgendwann in der Sprachgeschichte des Deutschen die Weichen so gestellt wurden, dass sich die Entwicklung der Kraftausdrücke vornehmlich in den metaphorischen Bahnen des "Schmutzigen" und kaum in denen des "Feuchten" vollzog - diese Frage bleibt weitgehend unbeantwortet. Aber nicht ganz: Dass die Deutschen ihre eigene Sprache als ein Idiom ungeschminkter Ehrlichkeit ansahen, und diese Ehrlichkeit oft genug mit Grobheit gleichsetzten - dafür gibt es genügend Beispiele in der Sprach- und Literaturgeschichte. "Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob du bist?", fragt Mephisto den Studenten im zweiten Teil des "Faust". Und bekommt zur Antwort: "Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist." Hierher könnte auch gehören - worauf Gauger allerdings nicht eingeht - dass "deutsch" ursprünglich "in der Sprache des Volkes" bedeutete und bis in die Neuzeit hinein die Nebenbedeutung "deutlich" hatte. Und deutlich, nämlich eindeutig ist der exkrementelle Fluchwortschatz, denn er benutzt unbestreitbar Negatives, um damit ebenfalls Negatives auszudrücken. Anders dagegen die sexuell gegründete Vulgarität, die etwas doch eigentlich Positives, die Liebe, den Eros, herabwürdigt, um es - oft genug mit frauenfeindlichen Untertönen - fürs verbale Prügeln zu missbrauchen.

So kann man mit Gauger dem deutschen Sonderweg des stinkenden Stänkerns sogar noch freundliche Züge abgewinnen. Allerdings könnte dieser Weg ohnehin in absehbarer Zeit an sein Ende kommen, denn in die Jugendsprache hat das sexualvulgäre Fluchen in Gestalt des "abgefuckten Wichsers" und ähnlich beleumundeter Wort-Freunde längst schon Einzug gehalten - hier wenigstens kommt Europa zusammen.

Hans-Martin Gauger: "Das Feuchte und das Schmutzige". Kleine Linguistik der vulgären Sprache.

Verlag C. H. Beck, München 2012. 283 S., br., 16,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Lobend hat Mark-Georg Dehrmann diese Untersuchung der vulgären Sprache des renommierten Linguisten Hans-Martin Gauger aufgenommen. Er findet in dem Buch eine Fülle von Material aus den verschiedensten Sprachen zum Thema Beleidigungen, Kraftausdrücke und Flüche. Aufschlussreich scheint ihm die von Gauger herausgearbeitete Differenz zwischen dem Deutschen einerseits und dem Englischen und den romanischen Sprachen andererseits im Blick auf das Beschimpfen und Beleidigen: im Deutschen dominieren Fäkalausdrücke, in den anderen genannten Sprachen sexuelle Termini. Dehrmann attestiert dem Autor, diese Beobachtung durch zahlreiche Belege, literarische Zitate und Anekdoten zu veranschaulichen und dann im weiteren Verlauf der Untersuchung wieder ein Stück weit zu relativieren. Dass Gauger eine Reihe von Erklärungsversuchen für dieses Phänomen diskutiert, aber am Ende darauf verzichtet, eine Erklärung für den deutschen Sonderweg beim Fluchen zu geben, mag enttäuschend wirken, spricht nach Ansicht des Rezensenten aber letztlich für die "vorbildliche" wissenschaftliche Haltung des Autors.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.10.2012

Der Fluch des Pharao
Andere Länder, andere Kraftausdrücke: Der Linguist Hans-Martin Gauger untersucht die vulgäre Sprache
Das kennen wir wohl alle: Jemand kommt uns auf unzulässige Weise „dumm“ – und schon brandet innerlich die Wut gegen den Damm zivilisierter Zurückhaltung. Zwischen verschiedenen Schichten unseres Bewusstseins wird im Bruchteil einer Sekunde gleichsam ausgehandelt, wie viel Energie in welcher Form überschwappen darf. Meist stößt man dann glücklicherweise eine verbale Beleidigung heraus, anstatt mit der Faust zu „sprechen“.
  Erstaunlich an solchen Vorgängen ist, dass sie sich einerseits blitzschnell vollziehen, aber doch oft mit großer Bewusstheit, obwohl das Bewusstsein hier meist kaum noch steuern kann. Man muss sich gleichsam auf die zivilisatorische Grundausstattung verlassen, die man vorher jahrzehntelang mühevoll habitualisiert hat. Und dann kann man, obwohl in Rage, fast zuschauen, wie sich alles austariert: Furcht vor den Folgen justiziabler Tatbestände wie Körperverletzung und Beleidigung etwa gegen die mächtig wogende Lust, den Gegner doch irgendwie zu treffen; das schamvolle Bewusstsein einer Abweichung von würdevoller Kommunikation und philosophisch-religiösen Weisheitslehren gegen die bohrende Empfindung, dass der andere uns doch wohl Unrecht getan und damit eine Strafe verdient hat.
  Wo brandender Affekt und kulturelles Tabu aufeinandertreffen, kann man viel lernen: über sprachliche oder kulturelle Prägungen, über Werte und Unwerte einer Gesellschaft, darüber, wie man sich gegenseitig erniedrigt und was dementsprechend als niedrig angesehen wird. Wo man beleidigt oder ausfällig wird, entlädt sich eine angestaute Energie. Sie kristallisiert sich bezeichnenderweise oft in uneigentlichen Formen der Sprache. Im Vulgären regieren Metapher und Metonymie, sei es, dass Menschen mit Tiernamen angeredet werden, sei es, dass einzelne Körperteile wie Geschlecht oder Ausscheidungsorgane herangezogen werden, sei es auch, dass der Geschlechtsakt zum Einsatz kommt.
  Insofern sind Beleidigungen höchst interessante Gegenstände für den Sprachforscher. Es ist also nichts Anrüchiges dabei, wenn der emeritierte und hochdekorierte Linguist Hans-Martin Gauger ihnen und anderen Fällen von vulgärer Sprache sein neues Buch widmet. Er steht damit in einer ehrwürdigen Tradition. Denn schon die Brüder Grimm nahmen die „Anstöszigen Wörter“ mit Entschiedenheit in ihr „Deutsches Wörterbuch“ auf: „Es gibt kein wort in der sprache, das nicht irgendwo das beste wäre und an seiner rechten stelle“.
  Gaugers Exploration des Vulgären in unterschiedlichen Sprachen geht dabei von einer aufschlussreichen Beobachtung aus: Das Deutsche wird anders ausfällig als andere Sprachen. In ihm überwiegen Wörter und Wendungen, die sich auf den Fäkalbereich beziehen. Der skatologische Lieblingsfluch der Deutschen muss hier nicht zitiert werden, auch nicht die zahlreichen Komposita, die sich mit ihm bilden lassen, oder die adverbiale Fügung, mit der sich das Missfallen an fast jedem Gegenstand ausdrücken lässt. Und auch die beliebte Beleidigung, mit der man jemanden zum Zentrum des Hinterteils erklärt, dürfte jedem bekannt sein. Vor allem die romanischen Sprachen, aber auch das Englische und erstaunlicherweise das Niederländische benutzen an solchen Stellen dagegen mit Vorliebe sexuelle Termini. Sinnfällig führt Gauger diese kulturelle Differenz ein, indem er an den aufsehenerregenden Schlagabtausch von Materazzi und Zidane erinnert. Der erste Zug des Italieners war hier bekanntlich die Wendung, er wolle die Schwester seines Kollegen sexuell missbrauchen. Das ist sicher harsch, gehört aber fest zum topischen Beleidigungsarsenal der romanischen Sprachen.
  Auch wer Französisch, Italienisch, aber auch Spanisch oder Portugiesisch spricht, kann bei Gauger viel darüber lernen, was hier alles – zurückhaltend übersetzt – „gevögelt“ werden oder „gevögelt“ sein kann. Ist beispielsweise im Deutschen etwas „Mist“ (oder so ähnlich), so ist es dort „gevögelt“; wird man im Deutschen „angeschmiert“ (oder so ähnlich), so wird man dort „gevögelt“. Analog verhält es sich bekanntlich mit dem Englischen. Und auch im Altägyptischen ist offenbar eine Verwünschung belegt, die sich übersetzen lässt mit: „Ein Esel soll dich vögeln!“
  Dies sind nur einige Beispiele für die Fülle von Belegen, literarischen Zitaten, Anekdoten und Analysen, mit denen Gauger seine Beobachtung erhärtet. Er beschränkt sich dabei nicht auf die genannten Sprachen, sondern unternimmt auch Streifzüge durchs Türkische, Schwedische, Ungarische, Rumänische, Russische und andere Sprachen. Die Menge des Materials bringt es dabei mit sich, dass Gauger seine Beobachtung einerseits bestärkt, andererseits aber auch relativiert. Denn das Französische steht wohl doch auf zwei Beinen, einerseits dem sexuellen, andererseits dem exkrementellen. Und auch das Englische: Jedem dürfte der neuere „shitstorm“ bekannt sein, der freilich auf einer alten, breiten Tradition beruht. Und schließlich gibt es im Deutschen nicht erst durch den verstärkten Einfluss des Englischen in den letzten Jahrzehnten auch sexuelle Kraftwörter. Vor allem in Südwestdeutschland und in der deutschsprachigen Schweiz sind Wendungen beliebt, die von „Seckel“ ausgehen.
  Wenn Gauger seine These vom „deutschen Sonderweg“ ein Stück weit wieder unterläuft, dann darf das bei einem Wissenschaftler wohl als Tugend gelten. Er verschweigt nicht, was seiner Beobachtung zu widersprechen scheint. Merkwürdig ist jedoch, dass ihm eine deutliche Analogie nicht zu Bewusstsein kommt, die zwischen deutschen Fäkal- und anderweitigen Sexualwendungen herrscht. Offensichtlich ist es mit einer ähnlichen Kränkung verbunden, wenn man es in der deutschen Sprache mit den Fäkalien einer anderen Person zu tun bekommt, in der anderen Sprache aber imaginär sexuell missbraucht wird. Auf jemanden zu „scheißen“, „angeschissen“ oder „beschissen“ zu werden, erniedrigt oder bringt erlittene Erniedrigung zum Ausdruck; entsprechend verhält es sich, wenn man ankündigt, die Schwester seines Kontrahenten zu vögeln oder aber beklagt, von jemandem fertiggemacht oder betrogen – also „gevögelt“ – worden zu sein. Alles dies sind, wenig erstaunlich, auch Verhandlungen von Macht. Die Form, die sie sprachlich annimmt, benennt Gauger dann wieder sehr deutlich: Die meisten sexuellen, aber auch fäkalen Ausdrücke zeugen von über Jahrhunderte und Jahrtausende gefestigten Männerwelten – wobei sich an den Ausdrücken interessanterweise nicht unbedingt etwas ändert, wenn auch Frauen zu ihr Zugang bekommen.
  Andere Sprachforscher vor Gauger haben aus der kulturellen Eigenheit der deutschen Sprache rasch auf die „anale“ Verfasstheit des deutschen Geistes geschlossen. So mancher konnte sich nicht verkneifen, von hier auch Linien zum Nationalsozialismus zu ziehen. Es ist Gauger hoch anzurechnen, dass er solche wohlfeilen Psychoanalysen der deutschen Volksseele diskutiert, sie aber aus guten Gründen ablehnt. Genauso fragwürdig wäre die – ebenfalls denkbare – Folgerung, dass die deutsche Kultur keinen Machismus kenne, weil in der fäkalen Vulgärsprache nur selten Gegner mit negativ besetzten weiblichen Eigenschaften erniedrigt würden.
  Ganz befriedigend ist es jedoch auch nicht, dass Gauger am Ende fast vollständig darauf verzichtet, Erklärungen für seinen Befund des so abweichenden deutschsprachigen Fluchens zu liefern. Er schließt sein Buch mit der Bemerkung: „Ich stelle nur Fragen“. Als Kronzeugen führt er Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ an, dessen erstes Kapitel überschrieben ist: „Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht“. Damit aber läuft auch der Spannungsbogen ins Leere, den das Buch von seiner ersten Seite an aufzubauen schien. Aber diese Enttäuschung spricht auf der anderen Seite doch auch für eine vorbildliche Haltung des Linguisten Gauger. Die Zurückhaltung, die er am Ende übt, stünde so manchem anderen Sachbuch, das für nichtakademische Leser geschrieben ist, ebenfalls gut zu Gesicht.
MARK-GEORG DEHRMANN
  
Hans-Martin Gauger: Das Feuchte und das Schmutzige. Kleine Linguistik der vulgären Sprache. Verlag C.H. Beck, München 2012. 283 S., 16,95 Euro.
Als Materazzi Zidane beleidigte,
bediente er sich des topischen
Arsenals romanischer Sprachen
Zeugt die deutsche Vorliebe
für Fäkalvergleiche von analer
Verfasstheit des Geistes?
Wut ist international, aber ausgedrückt
wird sie überall anders.
ABBILDUNG: SZ

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