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Unweit von Warschau, im nicht sehr aufregenden Falenica, spielt sich die Jugend vom Ich-Erzähler und seinen Freunden Poldek, Ziantek, Borwa und Szpuntab, zwischen dem Kino "Star" und der Schule, den Stränden an der Weichsel und dem Bahnhof, in den rigiden 60er Jahren der Gomulka-Ära. Der Erzähler hält Rückschau, und er wäre nicht der Erzähler eines Romans von Marek Lawrynowicz, wenn diese Rückschau nicht überwiegend komisch und grotesk ausfiele, auch wenn sich ein melancholischer Unterton hineinmischt. Aber was die "halbstarken" Freunde im Kampf gegen die Schule, den sadistischen Direktor,…mehr

Produktbeschreibung
Unweit von Warschau, im nicht sehr aufregenden Falenica, spielt sich die Jugend vom Ich-Erzähler und seinen Freunden Poldek, Ziantek, Borwa und Szpuntab, zwischen dem Kino "Star" und der Schule, den Stränden an der Weichsel und dem Bahnhof, in den rigiden 60er Jahren der Gomulka-Ära. Der Erzähler hält Rückschau, und er wäre nicht der Erzähler eines Romans von Marek Lawrynowicz, wenn diese Rückschau nicht überwiegend komisch und grotesk ausfiele, auch wenn sich ein melancholischer Unterton hineinmischt. Aber was die "halbstarken" Freunde im Kampf gegen die Schule, den sadistischen Direktor, schlechte Filme und die Kleinstadtlangeweile durchfechten, durchgerüttelt von den Anforderungen der Erotik und den ersten Liebesabenteuern, ist hinreißend erzählt, mit kluger Bosheit und Menschlichkeit, voll unvergeßlicher Gestalten und burlesker Situationen, ob es sich um ein aus dem Ruder laufendes Fußballspiel, den Lehrer "Hierham" und die schönen Knie der sechzehnjährigen Kasia Wiecek oder den Schulköter handelt, der nach ausdauerndem Training auf Gomulkas Spitznamen hört. Marek Lawrynowicz ist ein "mitreissender Erzähler" (NZZ), der weiß, daß Unbekümmertheit und Humor Strategien des Überlebens sind und daß die Lage zwar hoffnungslos, aber nicht ernst ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Durch die Größe schimmert der Zwerg
Darauf ein Glas Jabol: Marek Lawrynowicz bannt die Gefahr der Ostalgie / Von Stefanie Peter

Wer vom Warschauer Ostbahnhof den Vorortzug Richtung Otwock nimmt, kommt bald durch ein Waldgebiet voller Dörfer und kleinerer Ortschaften. An dieser Bahnstrecke liegt auch das etwas verschlafene Städtchen Falenica, mit einem Marktplatz, niedrigen Wohnblocks, luxuriösen Villen und vielen kleinen Holzhäusern aus der Vorkriegszeit. In den sechziger Jahren muß Falenica - glaubt man dem Ich-Erzähler aus Marek Lawrynowiczs neuem Roman "Lehrjahre des Gammelns" - noch verschlafener gewesen sein. Kaum zwanzig Kilometer Luftlinie lag es von der Hauptstadt entfernt; und doch bewegten sich seine Bewohner in einem Kleinstadtkosmos, dessen äußerste Grenze das östliche Weichselufer markierte. Natürlich, sie fuhren ab und zu auf den Basar neben dem Ostbahnhof, und "auch der Hafen von Praga war ihnen nicht fremd, sie machten exotische Ausflüge nach Rembertow oder Tluszcz, aber den im Zentrum gelegenen Kulturpalast bewunderten sie nur von weitem. Der Wolkenkratzer lag auf der anderen Seite des Flusses, also jenseits der Grenze.

Nur Wisnia, einem der jugendlichen Protagonisten, gelang es, abzuhauen. Er war Fußballtorwart und ging in seiner Freizeit einer Beschäftigung nach, die man heute S-Bahn-Surfen nennen würde. Bei einer entscheidenden Begegnung mit dem Fußballclub des Nachbarorts stürzte Wisnia seine Mannschaft durch ein Eigentor ins Verderben. Er verschwand zunächst ohne jede Spur, wurde aber Wochen später, immer noch im Torwarttrikot, an einen Bahnhof bei Paris von der Polizei geschnappt. Zurück in Falenica, berichtete er vor Schülern und neidischen kommunistischen Lehrern des Lyzeums von seinen Reiseabenteuern.

Lawrynowiczs Erzähltalent entdeckte man hierzulande vor zwei Jahren, als sein Schelmenroman "Der Teufel auf dem Kirchturm" auf deutsch erschien. In seinem neuen Buch unternimmt der 1954 geborene polnische Autor nun eine nicht unsentimentale Zeitreise in die eigene Jugend, die zufällig ins Polen der Ära Gomulka fällt, und blickt auf Leben und Alltag im Sozialismus zurück. Schon vor ihm taten das Andrzej Stasiuk, Antoni Libera oder Piotr Siemion. Wo ein System und mit ihm eine Kultur und Lebenswelt von der Bildfläche verschwand, betätigen sich Schriftsteller nun als Hüter kollektiver Erinnerungen. Sosehr die meisten Polen bis heute den Sozialismus verabscheuen: Das in jenen Jahren gelebte Leben ist ihnen deshalb nicht weniger kostbar. Erzählen dient der Selbstvergewisserung darüber, was der Nerv jener Jahre war. Bei Lawrynowicz geschieht das genauso prägnant wie beiläufig, denn die Geschichte arbeitet sich durch ein großes Thema, die Suche nach der verlorenen Zeit.

Die Gefahr der Ostalgie besteht bei Marek Lawrynowicz allerdings nicht. Die kleinen Freuden des Sozialismus, von bestimmten Limonaden bis zu Büchern aus dem Untergrund, spielen bei ihm keine große Rolle. Ausgenommen der Alkohol. In diesem Falle Jabol, der ständige Begleiter bei Kinobesuchen, auf Zugfahrten und Parties, ein billiger Obstwein, auch "Zauber der LPG" genannt und bis heute bei allen beliebt, die sich keinen Wodka leisten können. Gegen fünf Pfandflaschen bekommt man eine volle - Jabol ist das legendäre Getränk der polnischen Arbeiterklasse.

Das System in Gestalt staatlicher Repression und Erziehung tritt kaum in Erscheinung, und wenn doch, dann allenfalls als Karikatur. So wird berichtet, wie Schüler ihren autoritären Sportlehrer, offensichtlich einen Parteifunktionär, an den Rand des Nervenzusammenbruchs bringen, indem sie den Schulköter mittels Mettwürsten so abrichten, daß er eines Tages wie Parteichef Gomulka auf den Namen Wieslaw hört. Ansonsten geben sie vor, fleißig im "Jungen Techniker" zu lesen und fordern von ihren Lehrern, daß Mathematikstunden, wegen der begrenzten Konzentrationsfähigkeit beim Menschen, zwanzig Minuten nicht überschreiten. Die Lehrer ließen sich zwar nicht provozieren, bewiesen aber dennoch in ihrer Reaktion keinerlei Größe: "Sie verloren den Faden, vergaloppierten sich, blickten beschämt auf den Tisch und begannen, ohne Sinn und Verstand, mit monotoner Stimme die Anwesenheitsliste zu verlesen. Alles Edle wurde unglaubwürdig, die Ideen wurden zweifelhaft, durch die Größe schimmerte der Zwerg."

Auch die Ordnungsmacht war in Falenica alles andere als furcht- und respekteinflößend. Der einzige Milizionär dort "war klein und hager und hinkte leicht mit einem Bein", liebte Alkohol, Fußball und die Bücher von Karl May und hatte den einen großen Wunsch, Old Shatterhand zu werden. Sein Ende ist so traurig wie banal: Jemand verkleidet sich als Indianer und schleicht nachts in Richtung Bahndamm. Der Milizionär sucht die dunkle Gestalt auf den Gleisen zu stellen und wird vom Eilzug aus Lublin überrollt.

Lawrynowicz bedient sich nicht eines schnoddrigen Jargons der Eingeweihten, um solche Situationen zu schildern. Er spricht nicht die Sprache der Straße wie manch polnischer Dichterkollege. Er ist ein klassischer Erzähler mit einem verschmitzten, satirischen Humor und einem Blick fürs Groteske. Detailliert beobachtet er die Absurdität im normalen menschlichen Verhalten. Die Charaktere gewinnen so Präzision und Tiefe. Nach und nach werden einzelne Bewohner seines Städtchens vorgestellt: Die "halbstarken" Kumpel von der Schule, die verschrobenen Eltern, harmlose Schlägertypen und schließlich Frauen. Sie bringen die Welt der Jungs mit einemmal völlig durcheinander. Kasia tut das mit ihren schönen Knien, Zbójna Góra, die "Königin der Otwocker Strecke", indem sie auf einer Party einen Striptease hinlegt. Und Ewa. Mit ihr hat der Ich-Erzähler seinen ersten Sex; in einer fensterlosen Dachkammer, auf einer altersschwachen Couch.

Im Kino "Star" liefen damals alle Fäden von Falenica zusammen, es war ein Treffpunkt, hier kreuzten sich die Schicksale des Ich-Erzählers und seiner "halbstarken" Kumpel. Als er den Ort nach Jahrzehnten mit seinem Freund, dem Dichter Józef, aufsucht, finden sie nichts als Trümmer vor, überwuchert von Brennesseln und schäbigen Grasbüscheln: "Wir fahren mit einem alten Auto umher und suchen Schnee von gestern", heißt es da. Doch "es gibt keine sentimentalen Reisen, es gibt nur Aufbrüche ins Nirgendwo".

Marek Lawrynowicz: "Lehrjahre des Gammelns". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. C.H. Beck Verlag, München 2002. 154 S., geb., 18,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

"Einen Blick zurück nicht ohne Melancholie, aber auch ohne Bedauern", stellt der polnische Autor Marek Lawrynowicz in seinem neuen Roman an, den er diesmal in der polnischen Kleinstadt Falencia angesiedelt hat, berichtet Dorothea Trottenberg. Zwei Freunde erinnern sich an ihre Jugend in den sechziger Jahren, an die "kleinen Dramen des Erwachsenwerdens". Diesen Rückblick, den Lawrynowiczs Protagonisten in "losen Episoden" durchlaufen, findet die Rezensentin "grotesk, liebevoll ironisch oder einfach komisch". Der Jugend von damals jedenfalls war der Beatles-Film "Help" wichtiger als die politischen Verhältnisse, in denen sie aufwachsen musste, stellt Trottenberg fest.

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