Produktdetails
  • Verlag: Beck
  • Seitenzahl: 220
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 366g
  • ISBN-13: 9783406466069
  • ISBN-10: 3406466060
  • Artikelnr.: 08903521
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000

Ein verlorenes Paradies
In Gabriele Weingartners zweitem Roman hat das Titelwort „bleiweiß” eine ominöse Bedeutung
Wer schon als Kind – wie ich selbst als Sohn einer Maler-und Anstreicherdynastie von Urgroßvaters Zeiten an – mit Bleiweiß in Berührung gekommen ist, vergisst sein Lebtag nicht die abschreckenden Warnungen vor dieser Farbe. Bleiweiß, eine besonders haltbare, gut deckende Malerfarbe, ist ein hochgiftiges basisches Bleikarbonat, in der Luft nicht beständig, bleicht nach, wird graugelb und lässt den Anstrich bald schäbig aussehen. Sturm- und Drang-Dichter Klinger spricht vom Bleiweiß einer weiblichen Nasenspitze, und der Maler Müller schrieb, ein Gaudieb habe seinen blauen Bart mit Rötel und Bleiweiß eingerieben. Wer mit Bleiweiß anstreiche, dürfe dabei keinen Bissen essen und keinen Lungenzug aus der Zigarette tun, sonst riskiere er, das tödliche Gift einzuatmen.
In dem Roman Bleiweiß von Gabriele Weingartner ist es Tante Lissy, die in einer Malwerkstatt gearbeitet und jahrelang die giftigen Ausdünstungen dieser Farbe eingeatmet und damit dem Wort innerhalb des familiären Gebrauchs eine ominöse Bedeutung verschafft hat: Alle Eigenschaften der Farbe werden zu Attributen von Sachen und selbst Menschen dieses Romans. Zum „bleiweißen Terrain” wurde der Salon erklärt, in dem die eingeheiratete Tante Dora mit ihren Genossen den richtigen Weg zum Sozialismus diskutierte, „bleiweiß” war eine verborgene Kiste mit einem gefährlichen, unauffindbaren Schatz, „bleiweiß” im höchsten Grade nennt die Erzählerin das, was die Mutter des Romanhelden verbotenerweise mit einem lange unbekannt gebliebenen Liebhaber anstellt. Von verdrießlich bis geheimnisvoll, von widerwärtig bis unfassbar reicht die übertragene Bedeutung des Wortes, das als treffendes Charakteristikum über alle Einzelheiten hinaus die gesamte Romanatmosphäre beschreibt. Sogar das Mädchenkleid auf dem Buchumschlag, gestaltet von Leander Eisenmann, ist vergilbt und öffnet dem aufmerksamen Leser sein Entree in diesen Nachkriegs- und Wenderoman.
Trotz aufregender Ereignisse bei Familienzusammenkünften durch gegenseitige Besuche von West nach Ost im geteilten Nachkriegsdeutschland: Dem kleinen Helden Folke, 1945 im Westen geboren, nach der Wende am Kauf der großelterlichen Villa Leewenstein in Sachsen interessiert, klingt das Wort „bleiweiß” wie Musik in den Ohren. Es weckt in ihm angenehme Gefühle wie in jedem, dem Kindheitserinnerungen an Ferien auf dem Lande mit Eskapaden und Abenteuern verbunden sind –, Ereignisse, in denen es häufig „giftig” zugegangen ist. Musik im alten, mit großen Blumen tapezierten Salon, Großmutter am Flügel, Chopins Nocturnes spielend: Ein schöner Romananfang à la Buddenbrooks, könnte man beim flüchtigen Lesen denken, wenn nicht schon am Anfang der Geschichte die vom apokalyptischen Kriegsende herrührende fatale Gebrochenheit aller Verhältnisse zu spüren wäre – mit genüsslicher Morbidezza in kaum merklicher ironischer Distanz von Gabriele Weingartner erzählt.
Die zerbrechende Familie
Da gibt es kein stabiles, gut situiertes Großelternhaus mehr: Großmutters entnervende Auswüchse am Flügel und Großvaters Gebrechlichkeit nach einem Schlaganfall suggerieren den Zerfall im Seelischen und Körperlichen. Mit äußerstem Feingefühl begibt sich die Erzählerin in das Leben einer zerbrechenden Familie und fördert am Beispiel Folkes nach und nach ihr Innenleben zu Tage. Dabei treten die haargenau typisierten Zeitzeugen auf, gelernte Bundesrepublikaner und herangezogene DDRler, Alt- und Neonazis, überzeugte Geteilt- und Gesamtdeutsche. Da gibt es Folkes Vetter Jochen, aus dem ein gewiefter, ruppiger Geschäftsmann geworden ist, und einen anderen Vetter, der „rübergemacht ist” in den Westen, was seinem Bruder die Karriere in der DDR verdarb. Da gibt es vor allem den Liebhaber von Folkes Mutter, doch wer ist es gewesen: der junge Arzt, der nette Horst oder der Testamentsvollstrecker mit Mundgeruch?
Erst Ernst Maletzke, kein Familienmitglied, sondern Spross aus dem unterprivilegierten Dienstbotenpersonal, das sich zur DDR-Zeit in der Villa eingenistet hatte, lüftet die dunkle Lebensgeschichte Folkes als eine „Lügengeschichte”. Er schildert die Feriensommer des Nachkriegs, die heitere Ungezwungenheit und zynische Überheblichkeit der Kapitalistenknechte aus der BRD. Und Folke erfährt, dass der nette Horst sein leiblicher Vater ist und nicht der treue Eugen aus dem Westen, der in den Sommerferien stets zu Hause geblieben ist. Maletzkes eigenartige, teils bissig, teils larmoyant erzählte Geschichte der Ereignisse, ist eine Liebesgeschichte: Sie löst sich nicht von der erotischen Bindung des Erzählers an das Liebesobjekt seiner Erzählung –, und gerade darin liegt eine der Stärken der Erzählerin Gabriele Weingartner.
„Frauen erzählen intensiver als Männer, sie haben mehr Sinn für Einzelheiten, auch wenn sie darüber bisweilen das große Ganze aus den Augen verlieren”, lässt Gabriele Weingartner einen Mann sagen, der sich wohl selbst in eine Frau verwandelt hat, so intensiv und mit so viel Sinn für Einzelheiten erzählt er. Nicht nur Geschichten von Affären und Krankheiten, von Berufs- und Parteiproblemen, auch topografische Reminiszenzen leben auf: der Zwinger, die Frauenkirchen, Schloss Pillnitz und die orientalische Tabak- und Zigarettenfabrik Yenidze, doch den Ort Leewenstein, der vielleicht von dieser so plastisch beschriebenen Villa seinen Namen haben könnte, sucht man vergebens im Postleitzahlenbuch der Bundespost.
Auf Nabokovs autobiografischen Roman Sprich Erinnerung, sprich anspielend, beschwört die Autorin die wirklichkeitskonstituierende Kraft des Gedächtnisses: Nur in der Erinnerung überlebt das Kinderglück schadlos. Dieses verlorene Paradies in Leewenstein aber bleibt ein realer Ort in doppelter Bedeutung: Es gibt ihn, weil er topografisch möglich ist, aber auch, weil von ihm erzählt wird. Als realer Ort ist er verfallen und verkommen in einer Zeit der Misswirtschaft. „War Folke etwa nur deshalb so besessen davon, das vergangene Arkadien gedanklich zu demontieren, weil er sich vor einem sentimentalen Verlustgeschäft beschützen wollte?” fragt die Erzählerin und entwirft das Tableau einer Gesellschaft, als sei es ein Gemälde auf einer Grundierung aus vergilbtem Bleiweiß.
Es sind nicht die historischen Tatsachen, die diesen Roman zum authentischen Nachkriegs- und Wenderoman machen, sondern die zur Wahrheit der Geschichte erfundenen Episoden. „Bleiweiß” ist ein durch und durch skeptischer Roman. Deutschland vor der Eiszeit? möchte man fragen. Der tragikomische Held, „auf wundersame Weise herausgenommen aus der Zeit” überlebt, „wie das Kind in der Witzgeschichte, dessen Mutter Eiswürfel gelutscht hatte, um es auszukälten in ihrem Bauch. Und das am Ende auf einer Eisscholle überlebte”.
LUDWIG HARIG
GABRIELE WEINGARTNER: Bleiweiß. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2000. 222 Seiten, 36 Mark.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Schon Gabriele Weingartners Romandebüt "Der Schneewittchensarg" vor vier Jahren findet bei Michael Buselmeier großen Anklang. Das neue Buch ist ein Ost-West-Familienroman; im Mittelpunkt, so Buselmeier, steht wieder ein Antiheld, ein alternder Schwabe, der sich nach der Wende in ein kleines Dorf nahe bei Dresden begibt, wo er im hochherrschaftlichen Haus seiner Großeltern die Sommerferien seiner Kinderzeit verbracht hatte. Die Reise, so Buselmeier, weckt nicht nur Kindheitserinnerungen, sie bringt auch ungeahnte Familiengeheimnisse ans Licht. Mit einem humpelnden, arbeitslosen Schriftsetzer, der seit seiner Kindheit als Sohn des Installateurs die nun marode Fabrikantenvilla bewohnte und der die Familie und das Zeitgeschehen aus seiner Perspektive aufmerksam beobachtete, habe die Autorin eine Art Familienarchivar eingeführt, einen DDR-Bürger, der nun die Gelegenheit zur Abrechnung wahrnehme. Auch wenn der Roman einige Ost-West-Klischees beinhalte und gelegentlich die Kolportage streife, sei Weingartner eine spannende Ost-West-Geschichte gelungen, findet Buselmeier. Er lobt den "virtuos gehandhabten Realismus" dieses Romans und stellt ihn sogar in die Tradition von Fontane und Thomas Mann. Ein Roman, der die Debatten der 60er Jahre über das Ende des bürgerlichen Romans und den allwissenden Erzählers Lügen straft, lobt Buselmeier.

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