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Wenn Engländer reisen, geschieht oft, was niemand erwartet, selbst im grau-makabren Polen der frühen achtziger Jahre: Ein Theatermann kommt nach Wroclaw, um Ibsens Wildente zu inszenieren, und als erstes findet er sich in der schmutzigkalten Oder wieder. Wer hat ihn hineingestoßen? Er weiß es nicht. Bald aber lernt er die näher kennen, die sich seiner angenommen haben: exzentrische junge Leute, die wissen, dass alles in dieser unmöglichen Welt nichts ist, wenn es nicht Theater ist. Zwei haben es dem Engländer besonders angetan: Carlos, der im Untergrund Radio macht, und die schöne Lidka. Die…mehr

Produktbeschreibung
Wenn Engländer reisen, geschieht oft, was niemand erwartet, selbst im grau-makabren Polen der frühen achtziger Jahre: Ein Theatermann kommt nach Wroclaw, um Ibsens Wildente zu inszenieren, und als erstes findet er sich in der schmutzigkalten Oder wieder. Wer hat ihn hineingestoßen? Er weiß es nicht. Bald aber lernt er die näher kennen, die sich seiner angenommen haben: exzentrische junge Leute, die wissen, dass alles in dieser unmöglichen Welt nichts ist, wenn es nicht Theater ist. Zwei haben es dem Engländer besonders angetan: Carlos, der im Untergrund Radio macht, und die schöne Lidka. Die Freundschaft der drei hält über Grenzen hinweg, und eine gemeinsame Sehnsucht nach der gehassten und geliebten Stadt an der Oder verbindet sie, als sie sich in New York wiederbegegnen. Kein Wunder, dass sie nach Wroclaw zurückkehren, sobald die Nacht des Realsozialismus vorbei ist. Endlich können sie machen, was sie wollen: Carlos gründet einen Radiosender, der Engländer dreht Dokumentarfilm e für die BBC, und Lidka eröffnet eine Videothek. Schließlich finden sie sich zu einem exzessiven Frühlingsfest am Ufer der Oder ein. Symbolisch fliegen ihre Sorgen in den Grenzfluss zwischen Ost und West - in Wahrheit sind es bunte Gartenzwerge -, und als der Engländer ausrutscht, folgen ihm die anderen freiwillig ins Wasser. Der Fluß ist wieder schmutzig und kalt, sie aber lachen - so übermütig wie noch nie in ihrem Leben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2001

Postmoderner Parzival
Piotr Siemion springt kopfüber in die Fluten der Zeitgeschichte

Polnische Männer zwischen Vierzig und Fünfzig pflegen häufig einen Habitus der Selbstdarstellung, der existentielle Tiefe, politische Kompromißlosigkeit oder künstlerische Kreativität durch ostentative Gleichgültigkeit gegen äußere Erscheinung, konventionelle Umgangsformen, akzeptable Leberwerte, gesellschaftsfähige Ausdrucksweisen und gepflegte Inneneinrichtung darstellt. Diese gesellschaftliche Technik - eine Art Kriegsrecht-Machismo - ist dem deutschen Publikum zuletzt in den Büchern Andrzej Stasiuks entgegengetreten. In Piotr Siemions Debütroman "Picknick am Ende der Nacht" bekommt sie der Protagonist, ein namentlich von der ersten bis zur letzten Zeile ungenannter "Engländer", eingangs und in der Schlußszene hautnah zu spüren: Zweimal wirft man ihn vor den Toren des Breslauer Zoos in die Oder.

Die erste dieser profanen Taufzeremonien widerfährt einem jungen Theaterpraktikanten zu Beginn der achtziger Jahre, in einer durch das Kriegsrecht gelähmten Stadt, in der vorsintflutliche Straßenbahnen sich quietschend durch schwefelstinkende Novemberluft quälen und man jederzeit von der Polizeisondereinheit ZOMO aufgegriffen, schikaniert und eingesperrt werden kann; ihre heitere und optimistische Reprise, das eigentliche "Picknick am Ende der Nacht", ist ins Jahr 1991 datiert: "Jetzt standen sie alle drei bis zur Taille im Fluß und lachten so laut wie noch nie in ihrem Leben", während sich aus den Wirren eines turbulenten und zukunftsträchtigen Wildwest-Kapitalismus, über den jener Engländer einen Dokumentarfilm für die BBC dreht, eine glückliche europäische Normalität hervorarbeitet.

Von 1983 bis 1991 verfolgt Piotr Siemions Roman in einer Welthaltigkeit, die er streckenweise nur mit den Mitteln einer Art Kolportageversion des magischen Realismus bewälltigen kann, die Schicksale seiner Generation zwischen Totalitarismus, Emigration und Neuanfang an den Wegen einer Handvoll jener von Kriegsrecht und Widerstand geprägten Leute zwischen Breslau, Manhattan und dem neuen Polen der Jahrhundertwende. Die wilden Parties in Breslau und New York, die grellen Interieurs und Stadtlandschaften, die nicht immer glücklich übersetzten (aber im Grunde wohl sowieso unübersetzbaren) Slang-Dialoge, die cool oder abgerissen in jedem Detail erkennbaren und glaubwürdigen Personen dieses Romans sind mit einer leichthändigen und manchmal geradezu grausig eindringlichen Virtuosität geschildert, die nicht verbergen kann und will, daß sie bei den Filmen Quentin Tarantinos in die Schule gegangen ist.

Auch daß Siemion einen Ausländer zum personalen Medium der Erzählung gewählt hat, scheint ein glücklicher Kunstgriff, der das Buch nicht nur einem ausländischen Publikum zugänglicher macht, sondern auch eine fast ethnographische Fremdheit gegenüber den Ritualen, Ruppigkeiten, Ehrenkodizes, Trinksitten, Freundschaftsbünden und Liebesunordnungen des fremden Stamms ermöglicht, der 1980 jung war und das Land heute regiert. Wer etwas über die Mentalitäten der Gründergeneration der nachsozialistischen polnischen Republik erfahren möchte, der wird in diesem kollektiven Erziehungsroman viel Anschauungsmaterial finden.

Dabei ist "Das Picknick am Ende der Nacht" nicht nach dem Wilhelm-Meister-Modell sanfter Desillusionierung und arbeitsamen Weltgewinns organisiert, sondern in den schroffen Ausfahrten, Abbrüchen, Mißverständnissen und Wiederfindungswundern der mittelalterlichen Aventüre. Piotr Siemion, ein sich seiner Mittel und Traditionsbestände trotz aller scheinbaren Schnoddrigkeit überraschend bewußter, gebildeter und subtiler Erzähler, wirft seinen Helden als tumben Toren in die fremde Welt des real existierenden Sozialismus. Zwar versteht er die Landessprache nicht, aber schon auf den ersten Seiten erblickt er, betäubt und durchgefroren von seinem Sturz in den Fluß, die frouwe, deren schöne und gleichgültige Augen fortan als Stern über den Wendungen dieser merkwürdigen britisch-polnischen Fremdheits-, Freundschafts- und Liebesgeschichte stehen. Daß die Zuneigung zwischen "dem Engländer" und der rätselhaften Lidka sich auf den Seiten des Buchs nirgends körperlich konsumiert, weist sie dem Bereich der "hohen Minne" zu, deren Gegenstand nur gefunden und gerettet wird, um gleich darauf wieder verlorenzugehen.

"Will you marry me?" sind die ersten Worte, die er an sie richtet (und spätestens hier haben wir Leser begriffen, daß wir uns nicht in einem realistischen Roman befinden, sondern in einer postmodernen Travestie des "epischen Weltzustands"). Aber der Sinn dieser Aventüre liegt nicht im idyllisch-realistischen Eheglück, sondern in der Eroberung einer Glücksgemeinsamkeit, die durch die Teilung der Welt in Ost und West verlorengegangen ist. "Scherben sind wir", heißt es in einer der zahlreichen kabbalistischen Anspielungen dieses Romans, "jemand hat einen tönernen Topf zerdeppert und uns über die Welt verstreut." Siemions gnostische Deutung der polnischen Emigration macht etwas von der heroischen Kompromißlosigkeit sichtbar, die für die Befreiung vom Totalitarismus notwendig war.

Denn jene "kleinen Pfade" und "kleinen Weglein" zum erreichbaren Glück sind nicht gangbar, solange die Söhne und Töchter Polens in der Welt verstreut sind. Lidka verkommt in Amerika zu einer Darstellerin in ekligen Pornofilmen. Carlos, der mit machistischer Ambivalenz gehaßte und geliebte Freund und Nebenbuhler des Protagonisten, schlägt sich, während die Heimat in realsozialistischer Agonie versinkt, in New York als Gelegenheitsarbeiter und eine Art Penner durch. Aber in Wirklichkeit sind die polnischen Figuren in diesem Buch damit, die "kleinen Pfade" verschmähend, "auf dem Weg der Vollkommenheit". Und die Initiation des britischen Parzivals vollzieht sich in einer Kampfszene, die wie keine andere das gralsepische Unterfutter dieses nur scheinbar modern-realistischen Romans durchschimmern läßt und in der "der Engländer" sein Ideal aus einem Pornofilm-Shooting rettet ("Das Schwert, rechteckig wie eine Rasierklinge, fuhr mit einem sausenden Pfeifen aus der hölzernen Scheide").

So ironisch Piotr Siemion, im dritten Teil seines Romans, die politischen Wirren, kapitalistischen Durchstechereien und lebensweltlichen Absurditäten des nachsozialistischen Breslau schildert, so klar macht er zugleich, daß in dieser Stadt und im ganzen Land, wie unsicher, wenig vollkommen, menschlich unzulässig, eitel und inkompetent auch immer, der "Pfad der Vollkommenheit" beschritten wird, die zerschlagenen Gefäße zusammengefügt sind und die verstreuten Funken des Göttlichen sich wieder in ihrer Heimat versammelt haben.

Die klassische polnische Literatur ist die einzige europäische Literaturtradition (soweit man sehen kann, überhaupt die einzige in der Weltliteratur), die eine romantische Version des mittelalterlichen Versepos noch im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert ins Zentrum des nationalen Kunstpantheons gestellt hat. Piotr Siemions auf den ersten Blick so einfaches, ruppiges, schnoddriges und leichtes Buch erweist sich als postmoderner Nachfahr dieses nationalromantischen Unternehmens. Aber auch Leser, die dieser pathetischen Formgeste gegenüber skeptisch bleiben möchten, finden in "Picknick am Ende der Nacht" so viel genau gesehenes historisches Anschauungsmaterial über Polen vor, während und nach der großen Emigration der achtziger Jahre, so viel temporeiche Virtuosität und nicht zuletzt so viel Spannung und Lesespaß, daß dieses Debüt eines Einundvierzigjährigen (das die "Gazeta Wyborcza" zu Recht als den besten polnischen Roman der letzten Jahre bezeichnet hat) auch deutschen Lesern als eine wichtige Entdeckung einleuchten müßte.

STEPHAN WACKWITZ.

Piotr Siemion: "Picknick am Ende der Nacht". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Esther Kinsky. Verlag Volk & Welt, Berlin 2000. 394 S., geb., 44,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Ein etwas krudes Buch, meint Susanne Messmer, aber doch "mit Herzblut" geschrieben. Der polnische Autor begibt sich in die Perspektive des Fremden, eines Engländers, der 1983 das erste Mal nach Breslau kommt, wo er in eine Clique junger Leute gerät, deren Codes und Geheimnisse sich ihm nicht erschließen, auch nicht als er sie Jahre später in New York wiedertrifft. Messmer hält Siemion für keinen stilsicheren Erzähler; wo er versucht subtil zu werden, neigt er zu Kompliziertheiten, Umständlichkeiten, zum Ornamentalen, stellt die Rezensentin fest. Völlig unakzeptabel findet sie auch die Bettszenen. Von den stilistischen Widrigkeiten abgesehen, betont Messmer Siemions gelungenen Kunstgriff eines Blicks von außen, der es überzeugend ermögliche, die Geschichte des ewigen "Wessis" im undurchdringlichen Osten zu erzählen bzw. der "grotesken Hilflosigkeit des Westens" gegenüber diesem kleinen fernen Nachbarland Ausdruck zu verleihen.

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