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Für diejenigen, die Gründe finden, dort zu leben, wo sie geboren sind, und für diejenigen, die Gründe haben von dort wegzugehen.

Produktbeschreibung
Für diejenigen, die Gründe finden, dort zu leben, wo sie geboren sind, und für diejenigen, die Gründe haben von dort wegzugehen.
Autorenporträt
Jewgenij Grischkowez, geboren 1967 in Kemerowo/Sibirien, ist ein Kultstar der russischen Theaterszene. Jewgenij Grischkowez lebt in Kaliningrad.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2011

Aber im Winter muss die Fellmütze richtig sitzen

Mütze und Mammut im Permafrost: Der 1967 geborene Jewgenij Grischkowez erzählt von einer sowjetischen Kindheit in der unendlichen Weite Sibiriens.

Verdammt, was haben die Italiener für ein Schwein!" Wo man hinschaut Historie, auf grünen Hügeln und an malerischen Küsten, die Sonne scheint das ganze Jahr und jedes halbwegs gescheite Kind kann die Umrisse des Stiefellandes aufkritzeln. Sibirien ist die Antithese zu diesem Arkadien, eine unwirtliche, geschichtsleere, grenzenlose und überaus melancholische Seelenlandschaft - nicht nur für Deutsche.

Auch die Russen diesseits des Urals haben ihre Klischees über jenen geographischen Raum, der größer ist als jedes andere Land der Erde, den langjährigen Erzfeind, die Vereinigten Staaten, eingeschlossen. Dass auch die knapp vierzig Millionen Bewohner Sibiriens den Rest der Welt mit besonderen Augen betrachten, kann man sich denken. Eines aber steht für alle fest: Sibirien liegt auch in Zeiten des Jetsets von fast jedem Ort dieser Erde "jwd"- janz weit draußen, wie der Berliner sagen würde. Und außerdem ist es da "janz schön kalt", auf höchstens null Grad klettert die Jahresdurchschnittstemperatur. So mancher Nichtsibirier hat schon mal von der Transsibirischen Eisenbahn und dem Baikalsee gehört, womit sich das Wissen zum Thema Sibirien meist erschöpft. Mit anderen Worten: Sibirien ist Peripherie par excellence!

Was es heißt, in einer solchen Randlage aufzuwachsen, erzählt der 1967 im sibirischen Kemerowo geborene und heute in Kaliningrad lebende Performancekünstler und Satiriker Jewgenij Grischkowez in einer Schelmengeschichte. Darin geht es in naiv-melancholischem Tonfall um Heimat, und die hat immer etwas mit Kindheit und in Zeiten globaler Betriebsamkeit meist auch etwas mit Provinz zu tun. Peripherie ist, was das Zentrum dazu erklärt, und irgendwie findet jede Kindheit in einer provinziellen Nische statt, ganz gleich ob in Nowosibirsk oder New York. In der sowjetisch-sibirischen Kindheit des Jewgenij Grischkowez gibt es überraschenderweise keine Ideologie, keine Pioniernachmittage, keine GULags, allenfalls das nicht so alte Gefängnis in der nicht sehr alten Stadt, die wie die sibirischen Flüsse mit ihren riesigen Deltas immer weiter in die flache Landschaft hineinmäanderte. Wenn die Familie in eine neue Wohnung zog, dann stets in eine neue Neubauwüste an einen immer weiter in die Taiga hineinwuchernden Stadtrand. Anders als die Städte in der Alten Welt sind die wenigen urbanen Inseln Sibiriens, in denen die meisten Menschen dort leben, Provisorien, die an den Abbau der Rohstoffe gebunden sind. Lohnt sich der nicht mehr, verschwinden erst die Menschen und dann die Städte. Auch hier umschifft Grischkowez die heiklen Fragen von Zwangsarbeit, Deportationen und Lager, in der sowjetischen Kindheit des Erzählers, den siebziger und frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, kamen diese Greuel schlicht nicht vor. Alles war Routine, die nicht mehr so dramatischen Engpässe bei der Versorgung, die jährliche Urlaubsreise ans Schwarze Meer, die Kälte im Winter und der per Sprengung künstlich erzeugte Eisgang auf dem Fluss im Frühjahr. Selbst der Sohn eines afrikanischen Studenten und einer Russin galt den Einwohnern von Kemerowo als echter Sibirier, weil er dem Frost im Winter trotzte und seine Fellmütze immer richtig aufsetzte.

So eine Mütze fiel dem Erzähler beim Betrachten des Eisgangs einst in den Fluss, der in einen anderen, noch größeren Fluss mündet, der wie alle sibirischen Flüsse über Tausende Kilometer durch leeres, plattes Land dem Inbegriff des Nichts, dem nördlichen Eismeer, entgegenfließt. Wenn der Permafrost schmilzt, so sinniert der Erzähler, wird irgendwo in der Tundra neben einem Mammutskelett zur Verwunderung der Archäologen seine alte Kinderfellmütze zum Vorschein kommen. Die Schapka mutiert so zur ostalgischen Metapher jener für viele Russen bis heute goldenen Jahre - der Regierungszeit Leonid Breschnews. Was im Westen als Ära der Stagnation verschrien war, in der die Sowjets in Afghanistan einmarschierten, aus dem sie zehn Jahre später geschlagen abzogen, jene Jahre, in denen die Dissidenten Sacharow und Solschenizyn diesseits des Eisernen Vorhangs als Helden gefeiert wurden, war für den Homo sovieticus eine kurze Zeit bescheidener Freuden. Der große Terror war vorüber, die schlimmsten Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre waren ausgestanden und der Zerfall des Imperiums schien ebenso unvorstellbar wie das Abschmelzen des Permafrosts. Am Ende sieht sich der Erzähler neugierig durch das Loch im Briefkasten spähen, in dem die Zeitung lag. "Und ohne in dieser Zeitung irgendeine Warnung oder einen Hinweis auf ein ganz anderes Leben zu spüren, welches aus etwas besteht, das Sorgen macht, einen quält, aus etwas, das man verlieren kann, lief ich die Treppe hinauf . . . und schrie: ,Opa, die Zeitung ist da!'"

SABINE BERKING

Jewgenij Grischkowez: "Flüsse". Erzählung.

Aus dem Russischen von Beate Rausch. Ammann Verlag, Zürich 2010. 170 S., geb., 18,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Äußerst sparsam beschreibt Sabine Berking, was uns in dem Buch des in Sibirien aufgewachsenen Autors erwartet: eine Schelmengeschichte in naiv-melancholischem Tonfall. Besonders daran ist für die Rezensentin zum einen der Ort - die abgelegenste Provinz, die man sich denken kann (obgleich, wie sie schreibt, jede Kindheit irgendwie in der Provinz stattfindet). Zum anderen die Perspektive. Dass auch das Sibirien der 70er Jahre eine echte Seelenlandschaft sein kann, ganz ohne Gulag, ohne Ideologie und Pionierlager, für eine kurze Zeit jedenfalls, das hätte Berking nicht gedacht.

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