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Produktdetails
  • Reclams Universal-Bibliothek 9772
  • Verlag: Reclam, Ditzingen
  • 1999.
  • Deutsch
  • Gewicht: 146g
  • ISBN-13: 9783150097724
  • ISBN-10: 315009772X
  • Artikelnr.: 07838306
Rezensionen
Lenzens Buch ist in mehrfacher Hinsicht eine Bereicherung: Er importiert die philosophischen Tugenden des klaren Denkens und der kritischen Analyse in ein Feld, auf dem allzu oft lediglich Vorurteile, Dogmen und Emotionen aufeinander losgelassen werden. Es kommt ohne schwülstige Terminologie aus; Lenzen benutzt eine klare, verständliche Sprache und kommt ohne Umschweife zum Kern seiner Anliegen. Deshalb spricht "Liebe, Leben, Tod" auch über die Philosophie hinaus ein sehr breites Publikum an. Schließlich deklariert der Autor seine Antworten nicht als letzten Schluss der Weisheit, sondern gesteht ihnen prinzipiell vorläufigen (wenn auch argumentativ gestützten) Charakter zu. Dadurch vermeidet er eine moralisierende Bevormundung des Lesers und lädt zu eigenständiger moralphilosophischer Reflexion ein.

Insgesamt ist "Liebe, Leben, Tod" ein Schritt aus dem Elfenbeinturm der Philosophie heraus. (...) Lenzen bleibt zweifelsohne das Verdienst, für frischen Wind gesorgt zu haben - in der Moralphilosophie ebenso wie in der öffentlichen Diskussion moralischer Probleme. Nordbayerischer Kurier

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Viel Spott hält Thomas Sören Hoffmann für Lenzens Ethik parat, die vor allem ermessen zu wollen scheint, „was ‚moralisch o.k.‘ ist und was nicht“. Platon und Kant hätten Lenzens Devise „niemandem schaden“ als allzu aussageschwach zurückgewiesen, meint Hoffmann. Lenzen predige einfach die „Jagd aufs Glück“ und ziehe „Lust-Unlust-Bilanzen“. Rezensent Hoffmann fehlen an diesem „aufgeklärten Hedonimus“ die Grundsätze. So gelange Lenzen etwa zur „Approbation von Homosexualität“, obwohl „die gesamte philosophische Tradition anders dachte“. Auch Euthanasie, Selbstmord und „randständige Formen sexueller Betätigung“ wolle Lenzen einfach zulassen, während man anerkennen müsse, dass er bei der Abtreibung die Schwelle sehr hoch ansetze. Nein, eine Ethik sei das alles nicht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999

Von glücklichen Kühen
Aus dem Frischmarkt des Lebens: Wolfgang Lenzens Milch der hedonistischen Denkungsart / Von Thomas Sören Hoffmann

Der antiken Popularphilosophie verdankt sich die Meinung, dass philosophische Ethik darin bestehe, auf alle Anfragen des Typs "Was soll ich tun?" aus allgemeinen Regeln korrekt, konkret und allgemein fasslich Bescheid zu erstatten. Ist die Auskunft erteilt, darf gehandelt werden. Graue Theorie weicht der rotwangigen Praxis. Mehr noch: Philosophie selbst geht ins Leben über, Hand in Hand mit dem unbestechlichen Kronzeugem wahrer Lebendigkeit - dem "Mann auf der Straße".

Den letzteren Herrn und Lebemann hat sich auch Wolfgang Lenzen, Philosophieprofessor in Osnabrück, zum Weggefährten seiner neuesten ethischen Streifzüge erkoren; seine "Überzeugungen" gelten ihm ausdrücklich mehr als "hochgestochene, abstrakte Theorien der akademischen Kollegen". Das heißt nicht, dass Lenzens "moralphilosophische Studie" mit dem melodramatischen Titel "Liebe, Leben, Tod" nicht auch die eher trockenen englischsprachigen Standarddebatten aus der "angewandten" oder "praktischen Ethik" verdaut hätte.

Aber es heißt zum Beispiel, dass die ethischen Problemata möglichst direkt von Frischmarkt des Lebens, will sagen aus der "Neuen Osnabrücker Zeitung", dem "Spiegel", "Hörzu" oder "Emma", bezogen werden. Zufällig geschieht dies sicher nicht, denn wer die Ethik technisch, also nach dem Anwendungsmodell, versteht und damit beständig eine Kluft zwischen Prinzip und akutem Fall überbrücken muss, der hat, seit die hohe Prinzipienwissenschaft, die Philosophie, immer neuen Formalisierungsschüben ausgesetzt ist, ein wachsendes Problem. Formale Deontiker, Letztbegründer und Metaethiker fallen nämlich für den ethischen Straßenhandel und Dienst am Kunden zusehends aus. Damit trotzdem richtig gehandelt werde, bedarf es jetzt des Außendienstmitarbeiters, der dem Volk nicht nur aufs Maul, sondern auch in die Illustrierte schaut.

In Lenzens Buch geht es darum, was im Verkehr zwischen atomisierten Trägern von Interessen, den Bewohnern des "modern life", "moralisch o. k." ist und was nicht. Das neue ethische Prädikat "o. k." ist zwar zunächst ein sinnloser Doppellaut; aber Lenzen hält, umgekehrt, offenbar für sinnlos, was die überkommenen Prädikate einfordern. Etwa dies: in der Ethik an einem objektiven Guten, an materialen Zwecken und Tugenden, an Pflichten mit Einschluss solcher gegen sich selbst und an sittlich qualifizierter Freiheit Maß zu nehmen.

Man erinnert sich, dass Platon oder Kant eine entsprechende Kriteriologie des Sittlichen aufgestellt haben, der erste mit ontologischen Implikationen, der zweite ohne sie, und dafür beim Menschen als Vernunft- und Freiheitswesen ansetzten. Beide hätten Lenzens archimedischen Punkt, das "neminem laedere" ("niemandem schaden!") nicht als zureichendes ethisches Prinzip und Kriterium anerkannt: Denn (so Platon) wer dem anderen nicht schaden will, muss wissen, was für ihn und was an sich das Gute, die Bestform des Daseins ist. Denn (so Kant) das "neminem laedere" ist selbst begründungsbedürftig, es muss als freiheitskonform erst erwiesen werden und zeigt seine eingeschränkte Relevanz auch darin, dass es nicht als Einspruch gegen echte Pflicht (etwa Landesverteidigung) taugt.

Auch wenn Lenzen sein Nicht-Läsions-Prinzip utilitarisch nachbessert, um nicht jede Strafe oder Interesseneinschränkung untersagen zu müssen, bleibt er unterhalb des eigentlich moralischen Niveaus. Er bekennt sich vielmehr (den Mann von der Sraße an der Hand) zu einem "aufklärten Hedonismus", gibt als Lebenssinn die Akkumulation "positiver Erlebnisse" an, zieht Lust-Unlust-Bilanzen und kalkuliert Zuträglichkeitswerte der mannigfachen Jagden nach dem Glück. Das ergibt beispielsweise eine Lebenswertkurve, die in jungen Jahren stetig ansteigt, gegen das Alter aber absinkt und zuletzt unter Null gehen kann, was dann, klar doch, Selbstmord, Beihilfe dazu und Euthanasie "o. k." macht.

Oder es eröffnet die Möglichkeit, unsere positiven Erlebnisse zu quantifizieren, und zwar durchaus auch in Geldbeträgen - die D-Mark wird so auch im Reich der Ethik Landeswährung. Lenzens Losung: "Erfolg macht glücklich. Vor dem Erfolg ist freilich eine Menge Arbeit nötig."

Die drei Teile von Lenzens Buch zeigen dann im einzelnen, was die genannte Geschäftsgrundlage hergibt. Der Sprung vom Geldeswert des Positiven über die andere Prämisse, daß "Sex zu den schönen Dingen des Lebens" zählt, zu der Konklusion, dass "Prostitution nicht im eigentlichen Sinne unmoralisch" sei, sondern höchstens "dumm", ist jetzt gewiss kein Salto mortale mehr. Da Bruder und Schwester bei Lenzen genauso entkernte Interessenträger wie beliebige andere Personen P1 und P2 sind, also kein sittlich spezifiziertes Dasein führen und erst recht keinen Typus maximalen, triebfreien Liebens von gleich zu gleich bezeichnen (wie etwa bei Hegel), ist der Inzest, wiewohl aus einigen Nebenrücksichten nicht geradezu zu empfehlen, grundsätzlich "o. k.".

Da Autonomie nur formal, als Willkürfreiheit bei der Glücksjagd verstanden wird und, wie gesagt, keine positiven Moralitätskriterien existieren, reicht der wechselseitige, schädigungsfreie Lustgewinn frei nach Kinseys Orgasmusprinzip zur Approbation von Homosexualität - man weiß, dass nahezu die gesamte philosophische Tradition anders dachte, von Platon, der Homosexualität als "maßlose" Lust in den "Gesetzen" staatlich verbieten wollte, bis zu Kant, an dessen kategorischen Imperativ die Maxime homosexueller Praxis, weil in verallgemeinerter Form das Ende der Menschengattung bedeutend, schon scheitert, noch ehe gegen die Idee ihrer rechtlichen Anerkennung das Naturrecht herangezogen werden muss.

Nicht sehr viel anders lauten Lenzens Räsonnements zu anderen randständigen Formen sexueller Betätigung, nicht sehr viel anders aber auch die zur Frage der ehelichen Treue, deren Beantwortung uns ihm zufolge das "psychologische Naturgesetz" meistens nur temporärer Liebe in der Hauptsache schon abgenommen hat. Das Stichwort "Leben" wird in die Fragen nach Manipulationen im Zusammenhang der Zeugung, Organtransplatation und Menschenklonierung aufgelöst. Das Kapitel "Tod" handelt vom Töten in der Lebenswelt, und zwar nach dem Prinzip, "dass es unmoralisch ist, einen Menschen zu töten, der nicht getötet werden will".

Es ist anzuerkennen, dass Lenzen konsequent genug ist, aus diesem Prinzip die Schwelle für Abtreibungen anders als andere "praktische Ethiker" sehr hoch anzusetzen und zum Beispiel sowohl die sogenannte soziale wie auch die kriminologische Indikation für einigermaßen fragwürdig zu halten. Gleichzeitig jedoch gibt es für ihn, den aufgeklärten Hedonisten, gerade keine substanzielle Unantastbarkeit des Lebens, also weder ein eigentliches Lebensrecht noch ein Suizid- oder Euthanasieverbot. Man soll nur keine Dummheiten machen: Aus Liebeskummer springt man nicht vor den Zug.

Lenzen sagt im Vorwort, Philosophen seien die einzigen Fachleute für ethische Fragen, und er kritisiert "den greisen Gadamer", der einer Zeitung gestanden hat, vom Gegenteil überzeugt zu sein. Auf dem Grunde der Ethik liegt immer ein Unauslöschliches, das freilich nicht einfach deshalb, weil es in Worten nicht unmittelbar abbildbar ist, irrational ist. Sokrates nannte dies Ineffable die Selbsterkenntnis, und er verstand die Ethik als Bewegung der Selbsverständigung, als Weg hin zum anderen und ebenso von ihm zu mir zurück.

Diese Bewegung läuft nicht über ethische Auskunfteien. Sie hat dagegen etwas mit einer Verantwortung vor dem konkreten Anderen, dem konkreten Ich und auch vor der Sache, in der der Eine der Andere des Anderen ist, zu tun. Um den Straßenverkehr zu regeln, braucht man keine Ethik. Um zu verstehen, was es heißt, dass ich liebe, lebe und sterbe und dies im Spiegel zahlloser Antlitze tue, die gleiches tun, braucht man eine andere Ethik als die von Wolfgang Lenzen.

Wolfgang Lenzen: "Liebe, Leben, Tod". Eine moralphilosophische Studie. Philipp Reclam Verlag, Stuttgart 1999. 324 S., br., 15,- DM.

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