Christoph Keller ist nicht nur ein bekannter Schriftsteller und Theaterautor, er ist auch Rollstuhlfahrer. Seine Autobiographie ist jedoch keine Krankengeschichte, sondern erzählt voller Witz und Humor von einem Vater, der einst ein sehr erfolgreicher Unternehmer war, bald aber Konkurs machte, einer obsessiven Sammelleidenschaft nachging, eine Kunstgalerie eröffnete und seine drei Söhne, die alle an Muskelschwund erkrankten, als Krüppel betrachtete. Eine beeindruckende Lebensreise, die in Sankt Gallen beginnt, bis nach New York führt und den Blick auf die Welt verändert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.04.2004Die Chance des Gregor Samsa
Schreiben gegen die Krankheit: Christoph Kellers Autobiographie
Der Schweizer Schriftsteller Christoph Keller leidet wie seine beiden Brüder an spinaler Muskelatrophie, einer unheilbaren Krankheit, die ihn mehr und mehr abhängig macht von Geräten und der Hilfe anderer Menschen. Und trotzdem hat er seine Geschichte "Der beste Tänzer" genannt und sich identifiziert mit diesem Zustand vollkommener Körperbeherrschung, dem Spiel zwischen Kraft und Schwerelosigkeit. Er folgt seiner eigenen Choreographie: Im Schreiben überwindet er Wut, Angst und Ohnmacht, hier findet er sein Gleichgewicht.
Erst vierzig Jahre alt, kann er auf ein beachtliches und vielfach ausgezeichnetes Werk verweisen: Romane, Erzählungen, Theaterstücke und literarische Essays. "Gulp" oder "Wie ist das Wetter in Boulder" sind die bekanntesten. "Der beste Tänzer" ist sein persönlichstes Buch. Er beschreibt darin seinen sich allmählich verschlechternden Zustand nicht ohne Bitterkeit, nie jedoch larmoyant. Oft flüchtet er sich in Ironie und Sarkasmus, die Überlegenheit nur vortäuschen. Manchmal redet er von sich als einer dritten Person, um den Schmerz des Verlustes zu mindern.
Er erwartet vom Leser viel, denn seinen Einschüben und überbordenden Einfällen, Filmszenen oder Dialog-Entwürfen ist nicht immer leicht zu folgen. Ein Tänzer muß springen können. Hier ist es das Leben eines Sohnes, den der Vater brutal und verächtlich einen Krüppel nennt. Und dort ist es das Leben ebendieses Vaters, der sich, seine Familie und seinen Reichtum zerstört hat und dem schließlich nur noch sein tobender Haß und ein paar windige Illusionen geblieben sind. Der Sohn dagegen bekennt, daß er bekommen hat, was er sich gewünscht hat: das Gefühl, geliebt zu werden.
Das belastete und belastende Vater-Sohn-Verhältnis nimmt viel Raum ein in dieser schmerzlichen autobiographischen Entwicklungschronik. Denn einst hat auch der kleine Junge seinen Vater geliebt. Er war für ihn der König, der alles konnte, alles bestimmte, alles schenkte, bevor er, vom Alkohol benebelt, der ärgste Widersacher seiner Frau und seiner Kinder wurde. In den Text eingestreut sind Fotos vom einst glücklichen Familienleben in der prachtvollen Sankt Galler Villa, den Kunstsammlungen des Vaters, der schönen Mutter.
Gelegentlich flieht Christoph Keller in die Literatur, wo er sich gut auskennt. Manches liest er anders: Kafkas Gregor Samsa - wird das auch sein Schicksal sein, ein Käfer, der hilflos auf dem Rücken liegend mit den Beinen zappelt? Er meditiert über Stufen und was sie für ihn bedeuten - unübersteigbare Hindernisse oder eben auch Chancen.
Die reiche Schweiz, so stellt er fest, sei ein rücksichtsloses Land, in dem viele öffentliche Häuser für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich sind und die Menschen fortsehen, wenn sie einem Gehbehinderten begegnen. Ganz anders New York, seine zweite Heimat, hier erfährt er selbstverständliche Hilfsbereitschaft und Toleranz. Hier hat er auch seine große Liebe gefunden, die Lyrikerin Jan, die ihm versichert hat, sie würde für ihn atmen, sollten seine Muskeln eines Tages zu schwach dafür sein. Großer Worte für diese Zweisamkeit bedarf es nicht.
MARIA FRISÉ
Christoph Keller: "Der beste Tänzer". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 362 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schreiben gegen die Krankheit: Christoph Kellers Autobiographie
Der Schweizer Schriftsteller Christoph Keller leidet wie seine beiden Brüder an spinaler Muskelatrophie, einer unheilbaren Krankheit, die ihn mehr und mehr abhängig macht von Geräten und der Hilfe anderer Menschen. Und trotzdem hat er seine Geschichte "Der beste Tänzer" genannt und sich identifiziert mit diesem Zustand vollkommener Körperbeherrschung, dem Spiel zwischen Kraft und Schwerelosigkeit. Er folgt seiner eigenen Choreographie: Im Schreiben überwindet er Wut, Angst und Ohnmacht, hier findet er sein Gleichgewicht.
Erst vierzig Jahre alt, kann er auf ein beachtliches und vielfach ausgezeichnetes Werk verweisen: Romane, Erzählungen, Theaterstücke und literarische Essays. "Gulp" oder "Wie ist das Wetter in Boulder" sind die bekanntesten. "Der beste Tänzer" ist sein persönlichstes Buch. Er beschreibt darin seinen sich allmählich verschlechternden Zustand nicht ohne Bitterkeit, nie jedoch larmoyant. Oft flüchtet er sich in Ironie und Sarkasmus, die Überlegenheit nur vortäuschen. Manchmal redet er von sich als einer dritten Person, um den Schmerz des Verlustes zu mindern.
Er erwartet vom Leser viel, denn seinen Einschüben und überbordenden Einfällen, Filmszenen oder Dialog-Entwürfen ist nicht immer leicht zu folgen. Ein Tänzer muß springen können. Hier ist es das Leben eines Sohnes, den der Vater brutal und verächtlich einen Krüppel nennt. Und dort ist es das Leben ebendieses Vaters, der sich, seine Familie und seinen Reichtum zerstört hat und dem schließlich nur noch sein tobender Haß und ein paar windige Illusionen geblieben sind. Der Sohn dagegen bekennt, daß er bekommen hat, was er sich gewünscht hat: das Gefühl, geliebt zu werden.
Das belastete und belastende Vater-Sohn-Verhältnis nimmt viel Raum ein in dieser schmerzlichen autobiographischen Entwicklungschronik. Denn einst hat auch der kleine Junge seinen Vater geliebt. Er war für ihn der König, der alles konnte, alles bestimmte, alles schenkte, bevor er, vom Alkohol benebelt, der ärgste Widersacher seiner Frau und seiner Kinder wurde. In den Text eingestreut sind Fotos vom einst glücklichen Familienleben in der prachtvollen Sankt Galler Villa, den Kunstsammlungen des Vaters, der schönen Mutter.
Gelegentlich flieht Christoph Keller in die Literatur, wo er sich gut auskennt. Manches liest er anders: Kafkas Gregor Samsa - wird das auch sein Schicksal sein, ein Käfer, der hilflos auf dem Rücken liegend mit den Beinen zappelt? Er meditiert über Stufen und was sie für ihn bedeuten - unübersteigbare Hindernisse oder eben auch Chancen.
Die reiche Schweiz, so stellt er fest, sei ein rücksichtsloses Land, in dem viele öffentliche Häuser für Rollstuhlfahrer nicht zugänglich sind und die Menschen fortsehen, wenn sie einem Gehbehinderten begegnen. Ganz anders New York, seine zweite Heimat, hier erfährt er selbstverständliche Hilfsbereitschaft und Toleranz. Hier hat er auch seine große Liebe gefunden, die Lyrikerin Jan, die ihm versichert hat, sie würde für ihn atmen, sollten seine Muskeln eines Tages zu schwach dafür sein. Großer Worte für diese Zweisamkeit bedarf es nicht.
MARIA FRISÉ
Christoph Keller: "Der beste Tänzer". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 362 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Gieri Cavelty ist beeindruckt von Gelingen dieser "wohl heikelsten Variante des literarischen Spiels mit Identität": der "belletristische Autobiografie". Christoph Keller erzählt hier von der komplizierten Beziehung zu seinem Vater, einem manischen Sammler und Alkoholiker, der, nachdem seine Firma Konkurs anmelden musste, nur noch auf dem "Rechtsweg" mit seiner Familie verkehrte. In diese Geschichte sind "autopathografische Passagen eingeflochten" über Kellers Krankheit: der Autor leidet an der erblichen spinalen Muskelatrophie, erklärt der Rezensent. Dennoch ist dieses Buch weder eine "Abrechnung" noch eine "Selbstmitleidsschrift", so Cavelty bewundernd: Da sei schon die "komplexe Ästhetik" des Werks vor. Keller habe seine Geschichte nämlich "nach musikalischen Regeln gebaut. Die vier Kapitel des Buches entsprechen jeweils den Formteilen des Sonatenhauptsatzes - Exposition, Durchführung, Reprise und Coda". Auch freut sich Cavelty über Kellers Humor und "sein Faible für komische Situationen", die trotz der eher deprimierenden Thematik immer wieder aufblitzten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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