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Nach dem internationalen Erfolg von 'Die Mittagsfrau' erzählt Julia Franck in ihrem großen neuen Roman eine ergreifende Familiengeschichte im Deutschland der 50er und 60er Jahre.
Ostberlin, Ende der 50er Jahre. Die Geschwister Ella und Thomas wachsen auf sich allein gestellt im Haus der Bildhauerin Käthe auf. Sie sind einander Liebe und Gedächtnis, Rücken an Rücken loten sie ihr Erwachsenwerden aus. Ihre Unschuld und das Leben selbst stehen dabei auf dem Spiel. Käthe, eine kraftvolle und schroffe Frau, hat sich für das kommunistische Deutschland entschieden. Leidenschaftlich vertritt sie…mehr

Produktbeschreibung
Nach dem internationalen Erfolg von 'Die Mittagsfrau' erzählt Julia Franck in ihrem großen neuen Roman eine ergreifende Familiengeschichte im Deutschland der 50er und 60er Jahre.

Ostberlin, Ende der 50er Jahre. Die Geschwister Ella und Thomas wachsen auf sich allein gestellt im Haus der Bildhauerin Käthe auf. Sie sind einander Liebe und Gedächtnis, Rücken an Rücken loten sie ihr Erwachsenwerden aus. Ihre Unschuld und das Leben selbst stehen dabei auf dem Spiel.
Käthe, eine kraftvolle und schroffe Frau, hat sich für das kommunistische Deutschland entschieden. Leidenschaftlich vertritt sie die Erfindung einer neuen Gesellschaft, doch ihr Einsatz fordert Tribut. Im Schatten scheinbarer Liberalität setzen Kälte und Gewalt Ella zu. Während sie mal in Krankheit flieht und mal trotzig aufbegehrt, versucht Thomas sich zu fügen, doch nur schwer erträgt er die Erniedrigungen und flüchtet in die unglückliche Liebe zu Marie.

Julia Franck zeichnet das Bild einer Epoche, die die Frage nach Aufrichtigkeit neu stellt. Sie erzählt von großer Liebe ohne Rückhalt und einer Utopie mit tragischem Ausgang - eine Familiengeschichte, die zum Gesellschaftsroman wird.
Autorenporträt
Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt 'Der neue Koch', danach 'Liebediener' (1999), 'Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen' (2000) und 'Lagerfeuer' (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman 'Die Mittagsfrau' erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 40 Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt (2023, Regie: Barbara Albert). Nach 'Rücken an Rücken' (2011) erschien zuletzt 'Welten auseinander' (Platz 1 der SWR-Bestenliste). Für ihr Werk wurde sie 2022 mit dem Schiller-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet.Literaturpreise:1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen2000 3sat-Preis in Klagenfurt2004 Marie Luise Kaschnitz Preis2005 "Roswitha Preis" der Stadt Bad Gandersheim2007 Deutscher Buchpreis2010 war die englische Ausgabe der 'Mittagsfrau' auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des 'Jewish Quaterly' sowie für den internationalen IMPAC nominiert.2022 Schiller-Gedächtnis-Preis
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2011

Hänsel und Gretel in der DDR

Nach der Geschichte des Vaters wendet sich Julia Franck nun der Familie ihrer Mutter zu. Der neue Roman "Rücken an Rücken" ist ein tragisches Märchen.

Es wird viel gelitten in diesem Roman, körperlich wie seelisch. Hunger, Durst und Kälte treten so häufig auf, dass sie irgendwann fast alltäglich scheinen. Und oft ist das Leid ein buchstäblich nacktes: Haut brennt, trocknet aus, wirft eitrige Blasen oder wird gekratzt, bis Blut kommt. Körper sind nichts als Material, wie es sich schließlich auch die Bildhauerin Käthe erst grob zurechtstutzt, bevor sie es in eine Form bringen kann. Da hilft kein Jammern und Klagen.

Käthe, der nur ein Buchstabe fehlt zu jener Kälte, die sie verbreitet, ist in den späten fünfziger Jahren der DDR, da der Roman einsetzt, eine anerkannte Künstlerin. Außerdem ist sie Mutter von Ella und Thomas - auch wenn sie alles tut, sich das nicht anmerken zu lassen.

"Rücken an Rücken", der fünfte Roman von Julia Franck und ihr erster seit der buchpreisprämierten "Mittagsfrau" vor vier Jahren, erzählt vom unbehüteten Aufwachsen der Geschwister im Ostberliner Haus der Mutter zu einer Zeit der deutlichen politischen Verfinsterung. Ellas und Thomas' Pflicht zur Eigenständigkeit, begleitet von ihren Wunsch nach bedingungsloser Zugehörigkeit, mündet in eine mit radikaler Konsequenz ausgetragene Auseinandersetzung über das, was für jeden von ihnen Freiheit verheißt.

Wie "Die Mittagsfrau" beginnt auch "Rücken an Rücken" mit der Schilderung einer sich verweigernden Mutter. Zwei Wochen lang war Käthe verreist und hat ihre Kinder, zehn und elf Jahre alt, sich selbst überlassen. Thomas und Ella haben alles getan, um der Mutter zu ihrer Rückkehr eine Überraschung zu bereiten. Doch Käthe hat kein Auge für die blitzblanke Küche, den gedeckten Tisch und die Linsensuppe, die über einem Telefonat, das ihr wichtiger war als die Begrüßung, kalt geworden ist. Als die Kinder aus Enttäuschung und Trotz noch am selben Tage beschließen, wegzulaufen, fällt ihre Abwesenheit der Mutter nicht einmal auf.

Die Episode ist der erste einer Reihe von Schocks. Wie Hänsel und Gretel, die in der Urfassung ja keineswegs von einer bösen Stief-, sondern von ihrer eigenen Mutter zum Verhungern in den Wald geschickt werden, ziehen Ella und Thomas sich fortan immer mehr zurück in eine eigene Welt, wo sie einander mit Geschichten zu trösten versuchen, zu denen sie eine lautmalerische Zaubersprache entwickeln. Und so wie Märchen mitunter schlimme Begebenheiten erzählen, die kein gutes Ende finden, scheut auch Julia Franck in ihrem Roman nicht vor Drastik zurück.

Der Titel wird früh erklärt: die Geschwister sitzen am liebsten Rücken an Rücken und malen sich Geschichten über ihren Vater aus, der starb, als sie noch ganz klein waren. Rasch wird deutlich: Wer Rücken an Rücken sitzt, kann sich zwar stützen, schaut dabei aber in entgegen gesetzte Richtungen.

Leider ist dies nicht die einzige schlichte Metapher dieses Romans, der eine fatale Missbrauchskette schildert. Käthe, die ihre Kinder niemals umarmt, aber den Hund exzessiv verwöhnt, hat als Kind den bewunderten Vater nur schroff und abweisend erlebt. Der Mann, den sie liebte, starb im Krieg. Davon, dass der andere Mann, den sie später heiratet, ihre Tochter sexuell missbraucht, will sie nichts mitbekommen; als der Roman beginnt, ist dieser Eduard bereits ebenso aus dem Haus verschwunden wie die namenlosen Zwillinge, die sie ihm geboren hat. Stattdessen hat Käthe einen Untermieter ins Haus geholt; er ist der nächste, der Ella auflauert und sie vergewaltigt. Nur ihrem Bruder gesteht Ella, was die Männer mit ihr machen - und während sie diesen geradezu inzestuös beflirtet, fühlt Thomas sich aufgrund seines Geschlechts mitschuldig an dem, was ihr angetan wird, so dass er jeglichen Trieb in sich selbst zu unterdrückten sucht. Als er nach dem Abitur in einem Steinbruch beweisen soll, dass er dem Arbeiterstaat gute Dienste erweisen kann, wird er dort bis zum Zusammenbruch gequält und gedemütigt. So vervollständigt der Missbrauch im Namen der menschenverachtenden Staatsdoktrin das Bild.

Anders als Peter, der in der "Mittagsfrau" von der überforderten Helene auf dem Bahnsteig ausgesetzt wird, sind Ella und Thomas zu zweit. Bis zur Pubertät ist die Beziehung der Geschwister eine symbiotische. Zunächst scheint die temperamentvolle, um ein Jahr ältere Ella den Ton anzugeben, doch je stärker sie regrediert, sich flüchtet in Krankheit und Spiel, desto mehr tritt der empfindsame, nachdenkliche und analytisch veranlagte Thomas ins Zentrum des Romans.

Sprachlich steht er da von Anfang an: Denn das unbeholfene Gedicht, das den Roman eröffnet, gehört ebenso zu Thomas wie die zahlreichen romantisch-expressiven Jugendverse, die das Buch durchziehen. Erst am Ende weist Julia Franck darauf hin, dass sie alle Gedichte dem Nachlass von Gottlieb Friedrich Franck entnommen hat. Die Vergewisserung, dass es sich dabei um ihren Onkel mütterlicherseits handelt, den Sohn der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger, der sich 1962 mit achtzehn Jahren das Leben nahm, ist nur einen Mausklick entfernt.

Trotz dieses Hinweises auf die eigene Familiengeschichte wird man sich indes hüten wollen, den Roman als blanke Rekonstruktion tatsächlicher Ereignisse zu lesen. Doch man ahnt nun, woher der pathetische, bisweilen regelrecht schwülstige Erzählton stammt, mit dem die Autorin offenbar den Sprachgestus der Gedichte ihres Onkels aufgreift. Allerdings errichtet sie mit zahlreichen verrutschten Formulierungen und abgenutzten Bildern dem jugendlichen Dichter so wenig ein literarisches Denkmal wie dem Sprachempfinden seiner Zeit. Selbst wenn man der Verfasserin zugute hält, dass sie sich mit voller Absicht - und von einer so erfahrenen und klugen Schriftstellerin wie Julia Franck wird man das annehmen dürfen - auf die jugendlich exaltierte Wahrnehmung von Ella und Thomas einlässt, macht das Tautologien wie "gefährliches Raubtier" oder "stechender Blick eines Adlers, der jeden Augenblick entdecken und erkennen würde" nicht weniger ärgerlich, von kitschig "schmachtenden" Blicken, "verdächtig glitzernden" Augen, "drückender" Hitze oder "eisiger" Kälte einmal abgesehen. Auch, dass Freiheit nichts als Einsicht in die Notwendigkeit ist, findet gleich mehrfach Erwähnung, und so bleibt bis hin zum "Hamlet"-Zitat und dem Kleistschen Ende nichts unausgesprochen - außer den harten Wahrheiten. Dass Käthe Jüdin ist und den Vater von Ella und Thomas auch deshalb nicht heiraten konnte, weil dieser bereits verheiratet war, muss man sich ebenso rekonstruieren wie das zwischen politischer Linientreue und künstlerischem Liberalismus, Bekanntschaften mit Dissidenten und Stasi-Leuten schlingernde Verhalten Käthes.

In Kapiteln, die abwechselnd, aber kaum merklich aus der Perspektive von Ella und Thomas erzählt werden, beschwört der Roman eine Extremsituation nach der anderen: Thomas, der seiner Mutter stundenlang nackt und frierend Modell stehen muss; Ella, die von Käthe zum Geburtstag als Vorratsdiebin bezichtigt wird und einen Haufen Zucker geschenkt bekommt: "Erst wenn du den aufgegessen hast, bekommst du wieder was Richtiges." Die Magersucht, die diese pädagogische Maßnahme auslöst, wird von Käthe ebenso übergangen wie jedes andere Zeichen des tiefen Unglücks ihrer Kinder. Wo Ella rebelliert, die Schule schwänzt und trinkt und darüber der Mutter in ihrer Selbstbezogenheit immer ähnlicher wird, strengt Thomas sich an, nichts falschzumachen. Dabei ist er der einzige, der die Opposition zu denken wagt, ausreisen will und versucht, mit der Familie in Amerika Kontakt aufzunehmen, die jedoch nicht reagiert. Für seine Verzweiflung, seine Angst und seine Schuldgefühle bleiben ihm nur seine Gedichte.

Je mehr sich Thomas nicht nur von Käthe, sondern auch von Ella emanzipiert, und mit ihm der Roman, desto mehr gewinnt die Geschichte an Kraft. Als Thomas bei der Vorbereitung seines Medizinstudiums - Privileg nicht der Begabten, sondern der Parteitreuen - in der Klinik die Krankenschwester Marie kennenlernt, ist Julia Franck mit der Schilderung dieser selbstverständlich innigen Liebe endlich ganz bei sich angekommen.

In Käthes Haus in Rheinsberg hängt ein Ölbild von Kirschblüten im Wannseegarten, ein "Meisterwerk", heißt es - unwillkürlich sieht man ein Gemälde Max Liebermanns vor sich. Als sie klein war, hat Ella, von den Erwachsenen nie bemerkt, mit dem Pinsel "winzige weiße Pünktchen auf der grünen Wiese verteilt". Und auch ein wenig Gelb hinzugefügt, "denn ein Weiß war niemals nur weiß". Das literarische Verfahren, das Julia Franck hier anwendet, ähnelt dem von Ella: Mit den Gedichten des Onkels greift sie die Motive einer früheren Zeit auf und versieht sie mit eigenen Akzenten. Leider sind zu viele ihrer Tupfen Kleckse.

FELICITAS VON LOVENBERG

Julia Franck: "Rücken an Rücken". Roman.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 380 S., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.11.2011

So scheint die Liebe Liebenden ein Halt
Julia Francks neuer Roman „Rücken an Rücken“ ist ein schauriges Kindermärchen über ein Geschwisterpaar in der DDR – bei einigen Lesern sorgt das für Befremden
Es war einmal eine böse Frau, die lebte in einem dunklen Land mitten im Wald und hatte vier Kinder. Die jüngeren Zwillinge gab sie in ein Heim, die beiden älteren Geschwister, ein Mädchen und einen Jungen, aber ließ sie verwildern wie den Garten um das Hexenhäuschen, in dem die Frau lebte. Der Vater der Kinder war schon vor langer Zeit gestorben. Und weil die Frau also allein für alle sorgen musste, ließ sie die Kinder oft allein; oft verschwand sie für mehrere Wochen auf dem fliegenden Besen ihrer „Muckepicke“, einem alten Motorrad und nahm nur ihren Hund mit, denn den Hund liebte sie mehr als ihre Kinder.
Bevor sie sich aufmachte, schloss sie den Kohlenkeller ab und ließ weder Geld noch Speisen zurück, so mussten die Kinder frieren und Hunger leiden. Einmal putzen sie das ganze Haus, vom Keller bis zum Dach, um ihrer Mutter, die sie nur bei ihrem Vornamen Käthe nennen, bei ihrer Rückkehr eine Freude zu machen, doch die hat keinen Blick für die blanken Scheiben und glänzenden Böden und auch nicht für den schön gedeckten Tisch, auf dem eine warme Suppe dampft. Da beschließen die Kinder zu fliehen, mit einem Ruderboot über den winterlichen Müggelsee. Als sie drei Tage später halberfroren zurückkehren, stellen sie fest: Käthe hat nicht einmal bemerkt, dass sie fort waren.
Es wird ihr letzter Fluchtversuch aus der privaten Diktatur sein, die ihre Mutter inmitten der politischen Diktatur der DDR errichtet hat. Als sie endlich alt genug wären, um gegen die erste mit den Füßen abzustimmen, finden sie sich eingemauert von der zweiten. Fortan gehen sie den Weg der inneren Emigration, flüchten sich in die Traumwelten ihrer symbiotischen Geschwisterliebe, verständigen sich in einer kindlichen Geheimsprache und phantasieren den toten Vater herbei, als Prinzen, der sie aus dem Dornröschenschloss befreit. Sie geben sich gegenseitig Halt im Leben, aber sie tun dies „Rücken an Rücken“, so der Titel von Julia Francks neuem Roman, der bereits andeutet, dass Ella und Thomas sich in entgegengesetzte Richtungen entwickeln.
Julia Franck erzählt in ihrem fünften Roman, der vier Jahre nach „Die Mittagsfrau“, für die sie den Deutschen Buchpreis erhielt, erschienen ist, die Geschichte dieser Geschwister, die im Ostberlin der fünfziger und frühen sechziger Jahre um ihre Kindheit und Jugend betrogen werden. Es ist die Geschichte ihrer eigenen Familie, ihrer Großmutter, ihrer Mutter und ihres Onkels, der sich 1962 das Leben nahm und dem das Buch mit eingestreuten Jugendgedichten aus seiner Feder ein Denkmal setzt. „Rücken an Rücken“ ist zugleich eine wispernde Hänsel-und-Gretel-Paraphrase, und dass das Buch sich der Stilmittel des Schauermärchens bedient, um dem Blickwinkel der heranwachsenden Kinder gerecht zu werden, ist von Teilen einer sich unterfordernd fühlenden Kritik nicht sehr freundlich aufgenommen worden.
Kunstgewerblich sei der Roman und beflissen, hieß es, klischeehaft seine Figuren, aufdringlich die Symbolik, klapprig zusammengezimmert aus lauter Versatzstücken, deren Ritzen mit dem Kitt des sauren Kitsches verschmiert seien. Die mangelnde Beherrschung ihres Handwerks ist der Autorin in diesem Fall sogar als moralisches Versagen angelastet worden, sie habe sich gewissermaßen literarisch ebenso an den vernachlässigten Kindern vergangen, wie es die verschiedenen männlichen Mitbewohner im Roman tun, die Käthe gewähren lässt. Aber ist wirklich Schmalhans Küchenmeister in Julia Francks Geisterhaus? Gewiss, man braucht kein Dechiffriergerät, um den Symbolgehalt vieler Motive zu entschlüsseln, die Kindersprache – Posemuckel und Pimpernelle nennt Käthe ihre Kinder abfällig – enerviert à la longue, und dass beschreibende Passagen immer dann ausgewalzt werden, wenn das Beschriebene erstaunlich unspezifisch ausfällt, spricht dafür, dass Julia Franck ihre liebe Mühe damit hatte, das Zeitkolorit heraufzubeschwören. Unzweifelhaft ist aber auch, dass „Rücken an Rücken“ einen starken atmosphärischen Sog entwickelt, dem man als Leser schwer widerstehen kann.
Wenn etwa Thomas nackt und frierend im unbeheizten Atelier für Käthe Modell stehen muss, die als Bildhauerin und gläubige Kommunistin die staatstragenden Ideale in den Stein schlägt, der genauso kalt ist wie ihr Mutterherz, gelingt Franck eine verstörend doppelbödige Szene. Schließlich soll auch der hochbegabte Thomas zum sozialistischen Musterhelden modelliert werden.
Während Thomas das brave Kind ist, das sich wieder Willen fügt, ist Ella das missratene – faul, genäschig, das sich verweigert und für diese Verweigerung mit regressiven Schüben und Magersucht bezahlt. Erst wird sie dem neuen Lebensgefährten der Mutter, einem traumatisierten KZ-Überlebenden, zum Fraß vorgeworden, dann dem Stasi-Spitzel, den Käthe als Untermieter ins Haus holt. Das Martyrium von Kindheit und Jugend bildet eine Kettenreaktion von Demütigungen und Qualen, denen die Geschwister zum Opfer fallen. Es mag allzu dick aufgetragen wirken, wie viel Ungemach Julia Franck auf schmale Kinderschultern häuft, aber all das kühlt sie sprachlich herunter durch eine Prosa, die mit nahezu lapidarem Aplomb das Unerträgliche als den Normalzustand schildert.
Dass sie das Roman-Geschehen in eine verwunschene Märchenwelt entrückt, erscheint als notwendiger Akt der Distanzierung, um das Erzählen in Gang zu setzen. Verurteilt wird auch nicht die Monster-Mutter, die als Halbjüdin nicht mal Anspruch auf eine Witwenrente hat, weil ihr im Krieg gefallener Mann sie aufgrund der Rassengesetzte nicht heiraten durfte, die in die DDR ging, weil sie an ein besseres Deutschland glaubte und im Kampf um ihre Unabhängigkeit so hart geworden ist wie das Material, mit dem sie als Künstlerin arbeitet.
Man muss die geballte Drastik nicht goutieren, wenn Thomas beim Praktikum im Steinbruch systematisch erniedrigt wird oder wenn er in der Krankenschwester Marie eine Seelenverwandte für seine Todessehnsucht findet, die von ihrem Mann dazu geprügelt wird, seine Kollegen als Stripteasetänzerin und Zwangsprostituierte nach Feierabend zu bespaßen – all die Schreckensbilder, die Julia Franck einem mit listiger Nonchalance einfach so hinschnipst. Aber die etwas kleinlichen Hakeleien, mit denen das Buch in Teilen der Kritik ausgebremst wird, sie scheinen eher dem Befremden über eine Autorin geschuldet zu sein, die sich die Freiheit nimmt, über die DDR ein radikal subjektives Buch zu schreiben.
Dass diese Verwahrlosungsgeschichte nur vage an die politischen Großverhältnisse zurückgebunden wird, dass die Monstrositäten, von denen sie erzählt, unter anderen Vorzeichen überall spielen könnten, wirkt offenbar irritierend. Aber wäre es nicht eine Zwangsjacke für die Literatur, von ihr zu verlangen, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall nur exemplarische Romane über die DDR zu schreiben, in denen Lebens- und Zeitgeschichte fugenlos verschmelzen? Peter Weiss’ Monumentalroman „Die Ästhetik des Widerstands“ beginnt mit der erbaulichen Beschreibung des Pergamon-Frieses als Darstellung des ewigen Klassenkampfes. Julia Francks Roman endet damit, dass Marie und Thomas im gemeinsamen Tod in einer ewigen Umarmung erstarren, als „hätte man diese beiden Menschen aus Stein gehauen“. Den Gewaltzusammenhang der Geschichte hat der Sozialismus nun mal nicht beendet – Julia Franck hat den Fries um einige seiner Opfer ergänzt.
CHRISTOPHER SCHMIDT
JULIA FRANCK: Rücken an Rücken. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 384 Seiten, 19,95 Euro.
Das Unerträgliche
erscheint hier als der
Normalzustand
Mit einem Boot versuchen die Kinder zu entkommen. Doch das Ruder ist zerbrochen und der Müggelsee bitterkalt. Es wird ihr erster und letzter Fluchtversuch sein vor dem Mauerbau. Fotos: Friedrich Seidenstücker/bpk, Mathias Bothor
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit Julia Francks fünftem Roman "Rücken an Rücken" geht Felicitas von Lovenberg hart ins Gericht. Zunächst einmal hat die Rezensentin hier zu viele aufeinanderfolgende Extremsituationen gelesen: Eine Mutter, erfolgreiche und eiskalte Bildhauerin, die ihren ersten Mann im Krieg verloren hat, vernachlässigt ihre Kinder Ella und Thomas so brutal, dass diese beschließen, wegzulaufen. Während die magersüchtige Ella, nicht nur vom zweiten Mann ihrer Mutter vergewaltigt wird, sondern auch von deren Untermieter, erlebt ihr Bruder einen Missbrauch durch das DDR-Regime: als Arbeiter in einem Steinbruch wird er bis zum Zusammenbruch gequält. Auch sprachlich hat der Roman die Rezensentin leider nicht überzeugt. Neben zu vielen einfachen Metaphern und Tautologien erscheint Lovenberg auch Francks Erzählton bisweilen zu "schwülstig". Erst im letzten Teil des Romans, der sich ganz auf Thomas' Medizinstudium und seine Liebe zu einer Krankenschwester konzentriere, hat die Kritikerin die starke Autorin der "Mittagsfrau" wiederentdeckt.

© Perlentaucher Medien GmbH
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt

Julia Francks neuer Roman „Rücken an Rücken“ ist ein schauriges Kindermärchen über ein Geschwisterpaar in der DDR – bei einigen Lesern sorgt das für Befremden

Es war einmal eine böse Frau, die lebte in einem dunklen Land mitten im Wald und hatte vier Kinder. Die jüngeren Zwillinge gab sie in ein Heim, die beiden älteren Geschwister, ein Mädchen und einen Jungen, aber ließ sie verwildern wie den Garten um das Hexenhäuschen, in dem die Frau lebte. Der Vater der Kinder war schon vor langer Zeit gestorben. Und weil die Frau also allein für alle sorgen musste, ließ sie die Kinder oft allein; oft verschwand sie für mehrere Wochen auf dem fliegenden Besen ihrer „Muckepicke“, einem alten Motorrad und nahm nur ihren Hund mit, denn den Hund liebte sie mehr als ihre Kinder.

Bevor sie sich aufmachte, schloss sie den Kohlenkeller ab und ließ weder Geld noch Speisen zurück, so mussten die Kinder frieren und Hunger leiden. Einmal putzen sie das ganze Haus, vom Keller bis zum Dach, um ihrer Mutter, die sie nur bei ihrem Vornamen Käthe nennen, bei ihrer Rückkehr eine Freude zu machen, doch die hat keinen Blick für die blanken Scheiben und glänzenden Böden und auch nicht für den schön gedeckten Tisch, auf dem eine warme Suppe dampft. Da beschließen die Kinder zu fliehen, mit einem Ruderboot über den winterlichen Müggelsee. Als sie drei Tage später halberfroren zurückkehren, stellen sie fest: Käthe hat nicht einmal bemerkt, dass sie fort waren.

Es wird ihr letzter Fluchtversuch aus der privaten Diktatur sein, die ihre Mutter inmitten der politischen Diktatur der DDR errichtet hat. Als sie endlich alt genug wären, um gegen die erste mit den Füßen abzustimmen, finden sie sich eingemauert von der zweiten. Fortan gehen sie den Weg der inneren Emigration, flüchten sich in die Traumwelten ihrer symbiotischen Geschwisterliebe, verständigen sich in einer kindlichen Geheimsprache und phantasieren den toten Vater herbei, als Prinzen, der sie aus dem Dornröschenschloss befreit. Sie geben sich gegenseitig Halt im Leben, aber sie tun dies „Rücken an Rücken“, so der Titel von Julia Francks neuem Roman, der bereits andeutet, dass Ella und Thomas sich in entgegengesetzte Richtungen entwickeln.

Julia Franck erzählt in ihrem fünften Roman, der vier Jahre nach „Die Mittagsfrau“, für die sie den Deutschen Buchpreis erhielt, erschienen ist, die Geschichte dieser Geschwister, die im Ostberlin der fünfziger und frühen sechziger Jahre um ihre Kindheit und Jugend betrogen werden. Es ist die Geschichte ihrer eigenen Familie, ihrer Großmutter, ihrer Mutter und ihres Onkels, der sich 1962 das Leben nahm und dem das Buch mit eingestreuten Jugendgedichten aus seiner Feder ein Denkmal setzt. „Rücken an Rücken“ ist zugleich eine wispernde Hänsel-und-Gretel-Paraphrase, und dass das Buch sich der Stilmittel des Schauermärchens bedient, um dem Blickwinkel der heranwachsenden Kinder gerecht zu werden, ist von Teilen einer sich unterfordernd fühlenden Kritik nicht sehr freundlich aufgenommen worden.

Kunstgewerblich sei der Roman und beflissen, hieß es, klischeehaft seine Figuren, aufdringlich die Symbolik, klapprig zusammengezimmert aus lauter Versatzstücken, deren Ritzen mit dem Kitt des sauren Kitsches verschmiert seien. Die mangelnde Beherrschung ihres Handwerks ist der Autorin in diesem Fall sogar als moralisches Versagen angelastet worden, sie habe sich gewissermaßen literarisch ebenso an den vernachlässigten Kindern vergangen, wie es die verschiedenen männlichen Mitbewohner im Roman tun, die Käthe gewähren lässt. Aber ist wirklich Schmalhans Küchenmeister in Julia Francks Geisterhaus? Gewiss, man braucht kein Dechiffriergerät, um den Symbolgehalt vieler Motive zu entschlüsseln, die Kindersprache – Posemuckel und Pimpernelle nennt Käthe ihre Kinder abfällig – enerviert à la longue, und dass beschreibende Passagen immer dann ausgewalzt werden, wenn das Beschriebene erstaunlich unspezifisch ausfällt, spricht dafür, dass Julia Franck ihre liebe Mühe damit hatte, das Zeitkolorit heraufzubeschwören. Unzweifelhaft ist aber auch, dass „Rücken an Rücken“ einen starken atmosphärischen Sog entwickelt, dem man als Leser schwer widerstehen kann.

Wenn etwa Thomas nackt und frierend im unbeheizten Atelier für Käthe Modell stehen muss, die als Bildhauerin und gläubige Kommunistin die staatstragenden Ideale in den Stein schlägt, der genauso kalt ist wie ihr Mutterherz, gelingt Franck eine verstörend doppelbödige Szene. Schließlich soll auch der hochbegabte Thomas zum sozialistischen Musterhelden modelliert werden.

Während Thomas das brave Kind ist, das sich wieder Willen fügt, ist Ella das missratene – faul, genäschig, das sich verweigert und für diese Verweigerung mit regressiven Schüben und Magersucht bezahlt. Erst wird sie dem neuen Lebensgefährten der Mutter, einem traumatisierten KZ-Überlebenden, zum Fraß vorgeworden, dann dem Stasi-Spitzel, den Käthe als Untermieter ins Haus holt. Das Martyrium von Kindheit und Jugend bildet eine Kettenreaktion von Demütigungen und Qualen, denen die Geschwister zum Opfer fallen. Es mag allzu dick aufgetragen wirken, wie viel Ungemach Julia Franck auf schmale Kinderschultern häuft, aber all das kühlt sie sprachlich herunter durch eine Prosa, die mit nahezu lapidarem Aplomb das Unerträgliche als den Normalzustand schildert.

Dass sie das Roman-Geschehen in eine verwunschene Märchenwelt entrückt, erscheint als notwendiger Akt der Distanzierung, um das Erzählen in Gang zu setzen. Verurteilt wird auch nicht die Monster-Mutter, die als Halbjüdin nicht mal Anspruch auf eine Witwenrente hat, weil ihr im Krieg gefallener Mann sie aufgrund der Rassengesetzte nicht heiraten durfte, die in die DDR ging, weil sie an ein besseres Deutschland glaubte und im Kampf um ihre Unabhängigkeit so hart geworden ist wie das Material, mit dem sie als Künstlerin arbeitet.

Man muss die geballte Drastik nicht goutieren, wenn Thomas beim Praktikum im Steinbruch systematisch erniedrigt wird oder wenn er in der Krankenschwester Marie eine Seelenverwandte für seine Todessehnsucht findet, die von ihrem Mann dazu geprügelt wird, seine Kollegen als Stripteasetänzerin und Zwangsprostituierte nach Feierabend zu bespaßen – all die Schreckensbilder, die Julia Franck einem mit listiger Nonchalance einfach so hinschnipst. Aber die etwas kleinlichen Hakeleien, mit denen das Buch in Teilen der Kritik ausgebremst wird, sie scheinen eher dem Befremden über eine Autorin geschuldet zu sein, die sich die Freiheit nimmt, über die DDR ein radikal subjektives Buch zu schreiben.

Dass diese Verwahrlosungsgeschichte nur vage an die politischen Großverhältnisse zurückgebunden wird, dass die Monstrositäten, von denen sie erzählt, unter anderen Vorzeichen überall spielen könnten, wirkt offenbar irritierend. Aber wäre es nicht eine Zwangsjacke für die Literatur, von ihr zu verlangen, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall nur exemplarische Romane über die DDR zu schreiben, in denen Lebens- und Zeitgeschichte fugenlos verschmelzen? Peter Weiss’ Monumentalroman „Die Ästhetik des Widerstands“ beginnt mit der erbaulichen Beschreibung des Pergamon-Frieses als Darstellung des ewigen Klassenkampfes. Julia Francks Roman endet damit, dass Marie und Thomas im gemeinsamen Tod in einer ewigen Umarmung erstarren, als „hätte man diese beiden Menschen aus Stein gehauen“. Den Gewaltzusammenhang der Geschichte hat der Sozialismus nun mal nicht beendet – Julia Franck hat den Fries um einige seiner Opfer ergänzt.

CHRISTOPHER SCHMIDT

JULIA FRANCK: Rücken an Rücken. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 384 Seiten, 19,95 Euro.

Das Unerträgliche
erscheint hier als der
Normalzustand

Mit einem Boot versuchen die Kinder zu entkommen. Doch das Ruder ist zerbrochen und der Müggelsee bitterkalt. Es wird ihr erster und letzter Fluchtversuch sein vor dem Mauerbau. Fotos: Friedrich Seidenstücker/bpk, Mathias Bothor

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„Die Sensation des Hörbuchs ist aber die Lesung von Julia Franck selbst. Zärtlich, mit viel Einfühlungsvermögen, hat die Autorin den Hörer sofort gefesselt.“