Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 9,99 €
  • Gebundenes Buch

Als der erste Band des "Jahrbuchs der Lyrik" erschien, waren manche der jungen Autoren noch gar nicht geboren. Heute umspannt das "Jahrbuch der Lyrik" eine Vielfalt von Generationen, Formen und Tönen: Klassisches steht neben Experimentellem, die neuen Gedichte der renommierten Lyriker neben Texten noch unbekannter Stimmen. "Der Anthologist braucht ein weites Herz, aber die Richterskala der Qualität ist nur nach oben offen." (Robert Gernhardt ) In diesem Sinne haben Christoph Buchwald und Ulf Stolterfoht mit weitem Blick die Einsendungen durchforstet und daraus die besten Gedichte…mehr

Produktbeschreibung
Als der erste Band des "Jahrbuchs der Lyrik" erschien, waren manche der jungen Autoren noch gar nicht geboren. Heute umspannt das "Jahrbuch der Lyrik" eine Vielfalt von Generationen, Formen und Tönen: Klassisches steht neben Experimentellem, die neuen Gedichte der renommierten Lyriker neben Texten noch unbekannter Stimmen. "Der Anthologist braucht ein weites Herz, aber die Richterskala der Qualität ist nur nach oben offen." (Robert Gernhardt ) In diesem Sinne haben Christoph Buchwald und Ulf Stolterfoht mit weitem Blick die Einsendungen durchforstet und daraus die besten Gedichte zusammengestellt. Abschließend analysieren die Herausgeber den Stand der poetischen Dinge: Was ist neu, was anders, wie anders, und warum?

Ein Register mit allen Autoren und Gedichten seit 1979 unter: www.fischerverlage.de/page/lyrik
Autorenporträt
Christoph Buchwald, geboren 1951 in Tübingen, ist seit 1979 ständiger Herausgeber des Jahrbuchs der Lyrik. Nach seinem Studium der Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und experimentellen Komposition war er als Lektor tätig und hat dabei zahlreiche Lyriker begleitet. Heute ist er Verleger des literarischen Verlags Cossee in Amsterdam.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2008

Unseren Möbeln geht's gut

Nie wieder Lyrik! Es lebe die Lyrik! Was uns die Gedichte des Jahres 2008 sagen - und was sie verschweigen.

Ich will nie wieder beim Lyrikjahrbuch mitmachen", so lautet Oswald Eggers Mantra für das Jahrbuch der Lyrik 2008. Er wiederholt es vierundzwanzigmal, in vierundzwanzig Versen. Die sture Selbstbeschwörung drückt das ganze Dilemma des Lyrikjahrbuchs aus: alle Jahre wieder das gleiche Zeremoniell, seit der Erstpublikation 1979 alle Jahre wieder die Qual der Wahl, und alle Jahre wieder schicken die Autoren ihre Gedichte ein, um dabei zu sein. Aber diesmal ist es besonders gut gelungen. Eggers Mantra wehrt die bösen Geister des Einerlei ab.

Hinzu kommt der ethnologische Blick der Herausgeber. Er erhellt und verfremdet, was allzu bekannt oder selbstverständlich sein könnte. Bei den Kapiteltiteln fängt es an: "Unseren Möbeln geht es gut" heißt der erste Abschnitt, "Ein Kilo Räusperware" der letzte. Zwei Nachbemerkungen der Herausgeber Ulf Stolterfoht und Christoph Buchwald treiben die Fremdheit weiter. Sie erläutern Auswahlprozeduren und -kriterien, diskutieren die eigene Rolle und setzen sich mit Kritik auseinander.

Selbstbeobachtungen wie diese übertragen die lyrische Herangehensweise von Stolterfohts "holzrauch über heslach" (2007) auf das Jahrbuch: Stolterfohts archaischer Cantos lebt von der Wahrnehmung der materiellen Kultur, der quasianimistischen Riten in der sogenannten Zivilisation einer schwäbischen Arbeitersiedlung. Diese Konzentration auf das Elementare lenkt die Zusammensetzung der Beiträge für das Jahrbuch und reduziert es in wohltuender Weise aufs Wesentliche: die Lyrik.

Und diese stammt von gut etablierten älteren, bereits etablierten jüngeren sowie älteren und jüngeren unbekannten Schriftstellern. Zu den bekannten Autoren der vor 1970 geborenen Lyrikergenerationen zählen Marcel Beyer, Heinz Czechowski, Ulrike Draesner, Adolf Endler, Ludwig Harig, Harald Hartung, Kerstin Hensel, Günter Kunert, Michael Lentz, Friederike Mayröcker, Herta Müller, Lutz Seiler und Joachim Sartorius. Zu den Überraschungen in dieser Gruppe zählen aufs Neue die Texte des Ingeborg-Bachmann-Preisträgers Lutz Seiler. Sie finden sich in dem Anthologie-Kapitel "nebelschwaden überm dinkelacker". Seilers Sprecher wandeln durch Orte, Häuser, Rohre. "Rauscht das wasser in den rohren / steht das haus / vom hören still" klingt nach Rilkes Sonetten an Orpheus, lakonisch neu geschrieben, angeleitet durch die Wahrnehmung des alltäglichen Verfalls.

Jüngere bekannte Autoren wie Björn Kuhligk und Jan Wagner haben gerade eine zweite Auflage ihrer erfolgreichen Anthologie "Lyrik von Jetzt" (2003) herausgegeben. Im Jahrbuch sind sie mit Gedichten über den frühverstorbenen Schriftsteller Baader Holst und Zahara de los Atunes, das Zentrum des spanischen Thunfischfanges (Kuhligk) sowie sinnlichen und optimistischen Texten über Holunder und den Westen vertreten (Wagner). Uljana Wolf hingegen stimmt mit "Vom Vermeiden von Gedichten" in den Reigen der skeptischen Lyrik-Beobachter ein.

Eine vergleichbare Skepsis leitet auch die Texte der wenig bekannten Claudia Gabler an. "Wieso?", fragt sie vielfach und antwortet mit schrecklich-schönen Erzählungen aus dem Familienalltag. Demgegenüber setzt der gleichfalls unbekannte Konstantin Ames auf Rhythmik: Hier werden Luxusgüter aufgezählt und versweise "nach nordkorea" transportiert. Viel Lesenswertes, gründlich beobachtet, ideenreich und engagiert zusammengestellt - das ist die Bilanz des Lyrikjahrbuchs 2008. Nur eines erweist sich als bedauerlich: der Umstand, dass Stolterfoht kein eigenes Gedicht beisteuert. Zu gerne hätte man erfahren, wohin der "Holzrauch" im Jahr 2008 weht, nicht nur editorisch, sondern auch lyrisch - zumal "holzrauch über heslach" mit seinen Anleihen etwa bei Ezra Pound auch zu einer zweiten Anthologie des Jahres 2008 beitrug. Es handelt sich dabei um die Publikation des Lyrikfestivals Main Poesia im April 2007 im Frankfurter Literaturhaus. Diese Publikation trägt zwar den biologisch anlautenden Namen Lyrikosmose, aber der Begriff spielt im Weiteren leider keine Rolle. Der Band und seine Beiträge suchen ihre Anleihen nicht bei der Naturwissenschaft, sondern in der nichtdeutschsprachigen Dichtung. Es geht um das alte und immer neue Projekt der "Anverwandlung" (Novalis) fremder Literaturen und Kulturen - sei es durch Übersetzung, Nachahmung oder Kontrafaktur.

Im Mittelpunkt dieser "Anverwandlungen" steht die amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson. Sie bedichtete Verzicht, Liebe, Tod und Natur und galt daher als "puritanische Metaphysikerin". Zahlreiche Texte der sogenannten Lyrikosmose reagieren unmittelbar auf Dickinson oder gehen ihren Schreibweisen und Anliegen nach. Beispielsweise sind Paul Celans Übertragung von Dickinsons "I dwell in possibility", Anne Carsons Gedicht "Kostbare Entbehrung" über Dickinsons Briefe, Silke Scheuermanns "Metaphern für Emily Dickinson" und Matthias Göritz' "Porträt Emily Dickinson" abgedruckt.

Doch erschöpft sich der Band nicht damit. Er will mehr. Dickinson dient nur als eine Art wiederkehrende Inspirationsquelle. Die meisten Gedichte haben nichts mit ihr zu tun, sondern mit anderen "Anverwandlungen": Es handelt sich um Übertragungen von Gedichten der amerikanischen Autorin Martine Bellen, des Niederländers Mark Boog, des Isländers Sjón und des Slowenen Ales Steger und anderer - Übertragungen, die diese in ihren Herkunftsländern ausgezeichneten Autoren im deutschen Sprachraum erstmals bekannt machen.

Die Lektüre lohnt sich. Bellens eindrucksvolles Gedicht "Atemraum" etwa konfrontiert die spezielle Metaphysik mit der Physik, hält die Lehre von den Engeln gegen die Lehre von den Körpern. Der Text endet offen: mit einem Ausflug in den nichteuklidischen Raum. Steger hingegen persifliert mit einer energischen Suada den politischen Missbrauch großer Philosophien. "Wie schon Konfuzius und Hegel lehrten" heißt sein Text, der Ideologie im Marschtempo rhythmisiert.

Unter den Gedichten deutscher Zunge fällt demgegenüber ein Text auf, der von großen Themen Abstand nimmt und umso riskanter wirkt. In "Sie sitzt auf der Treppe vorm Haus" lässt Dirk von Petersdorffs Sprecherin Gefühle, Ideen, Ideale vorbeiziehen, fragt nach dem seelischen Befinden im Jetzt - als Mutter, Spießerin unter Spießern, die eine einstmals abgelehnte Lebensform bejaht. So etwas kann schiefgehen, aber von Petersdorff lässt sich nicht auf überzogene Sentimentalitäten ein.

Diese Vielfalt der Themen und Ansätze zeigt, dass die Lyrikosmose nicht übermäßig kohärent, aber in den dargebotenen Einzeltexten interessant ist. Im Jahr 2009 wird es wieder Projekte geben, die sich andere Literaturen anverwandeln, und dann wird das Mantra heißen: "Ich will wieder beim Lyrikjahrbuch mitmachen."

SANDRA RICHTER.

Christoph Buchwald, Ulf Stolterfoht (Hrsg.): "Jahrbuch der Lyrik". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 215 S., geb., 18,- [Euro].

Hans Jürgen Balmes, Jörg Bong, Alexander Roesler, Oliver Vogel (Hrsg.): "Lyrikosmose". Neue Rundschau 119. Jg., Heft 1. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 279 S., br., 12,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr