"Eh ihr den leib ergreift auf diesem stern
Erfind ich euch den traum bei ewigen sternen."
(Stefan George)
Am Tage der Umarmung ein Buch zu rezensieren, welches das Gegenteil postuliert, scheint frevelhaft. Und doch, folgt man Nancy, können sich in den vermeintlichen Gegensätzen stabile
Gemeinsamkeiten zeigen.
Jean-Luc Nancy (1940- ) ist französischer Philosoph. Begegnet ist der Rezensent…mehr"Eh ihr den leib ergreift auf diesem stern
Erfind ich euch den traum bei ewigen sternen."
(Stefan George)
Am Tage der Umarmung ein Buch zu rezensieren, welches das Gegenteil postuliert, scheint frevelhaft. Und doch, folgt man Nancy, können sich in den vermeintlichen Gegensätzen stabile Gemeinsamkeiten zeigen.
Jean-Luc Nancy (1940- ) ist französischer Philosoph. Begegnet ist der Rezensent diesem Autor in einem interessanten Werk von Derrida: "Schurken: Zwei Essays über die Vernunft". Die Dekonstruktion als Anliegen im Sinne Derridas ist auch Nancys Feld. Die Ambivalenz der Bibel in den beiden Termen: "Noli me tangere" und "Hoc est enim corpus meum" ist zu betrachten als Oxymoron oder als Paradoxon. Dieser Idee folgt Nancy bravourös, leicht und doch konsequent. Das Gleichnis als Lehrmodus aus dem Johannes Evangelium von der Auferstehung Jesu (Joh 20,11-18) wird sehr genau untersucht, mannigfaltig aus anderen Quellen gespeist und es wird in Bezug auf die Personen vielfältig profiliert. Nancy schärft dabei den Blick auf die Kunst, nämlich auf all die Gemälde im verwandtschaftlichen Verhältnis zum Titel des Buches (Rembrandt, Tizian, Dürer, u. a.) und er stellt fest, dass gerade dort, wo der Aufruf: Berühr mich nicht! präsent ist, höchste Berührung folgt. "Berühr mich nicht" wird fast zur Warnung vor einer Gefahr, nämlich zu verletzen oder verletzt zu werden. Der Imperativ ist ein Satz, der einfach berührt und letztendlich etwas sagt über das Berühren im Allgemeinen. Er trifft einen sensiblen Punkt, er ist wie die hinduistische Paria, die das Unberührbare fernhält und es doch wie Heiliges vor Augen führt. Da wo die Bibel beides, das Unberührbare im Zeichen der Auferstehung und das Vereinnahmen durch die Transsubstantiation zusammenführt, sind die Gegensätze aufgehoben. Inkommensurables wird zusammengeführt, ein Zugleich von Anwesend und Abwesend entsteht auf einer metaphysischen Ebene. Dieses zu denken, erfordert einen Aspekt des Endes, der den Zustand z.B. des Todes in eine unbestimmte Zeit packt. Berühre mich nicht wird zu einer Präsenz einer unendlichen Erneuerung oder einem verlängerten Verschwinden, so wie die Szene am Grab am Ostersonntag. Alles was Jesus durch Gleichnisse verkündet, ist eine einfachere Erklärung einer anderen Welt. Diesem Gedanken zu folgen, ist nicht einfach, aber in der Koexistenz von Berühren und Nicht-Berühren gelingt es Nancy die Facetten und Schattierungen neu zu beleuchten und all seine Überlegungen bringen neues Licht in eine Sicht auf ein bekanntes Christentum. Es ist bemerkenswert, dass Ödipus von Kolonos mit seinen Worten "Geht hin, berührt mich nimmer ..." im Sophokles Stück nahezu als Double von Jesus wirkt.
Wenn dieser Imperativ: "Berühre mich nicht" berührt, dann heißt er auch: "Ich berühre Dich" und dennoch ist diese Berührung eine, die mit der Hand auf Abstand hält. Ein weites Feld in der Singularität von Distanz und Nähe, ein Übereinanderblenden scheinbar unüberwindbarer Unterschiede. Das macht diese kurze Analyse lesenswert, sehr sogar.