13,80 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in 3-5 Tagen
Produktdetails
  • Gewicht: 170g
  • ISBN-13: 9783000354588
  • ISBN-10: 3000354581
  • Artikelnr.: 34393549

Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2012

Ein Alltag voller Grenzerfahrungen
Die Polin Iwona Mickiewicz fahndet nach dem Unwirklichen im Wirklichen

Man kann in ein Jobcenter gehen und aufschreiben, was man sieht: öde Tristesse. Man kann es aber auch wie Iwona Mickiewicz tun und aus der trostlosen Situation einen Wortreigen zaubern, dessen tieftraurige Melancholie unverhofft in furiose Komik umschlägt: "Halligalli bis achtzehn Uhr, verlängerte Öffnungszeiten. Unsere Happy Hour, sie lebe hoch, die Fahrkarte für dreiunddreißig Euro! Du bist nie ausgeschrieben, meine süße Stelle, Kalinka Malinka moja!"

Das Buch "Konstruktionen im Haus oder Iwan Iwanytsch am Fenster" lässt sich nicht passgenau in ein Genre pressen: Die 57 Geschichten sind weder Lyrik noch Prosa, weder Großstadtgroteske noch Essayfragment. Und doch sind sie von allem ein wenig. Es sind betörende Gedankensprünge, existentielle Erfahrungsberichte einer Berliner Grenzgängerin, die das Unwirkliche im Wirklichen sucht. Die 1963 in Leszno geborene und 1988 nach Berlin ausgewanderte Polin hat diesen beflügelnden Text auf Deutsch geschrieben. Dabei lässt sich in jeder Zeile herauslesen, dass Mickiewicz eine Fähigkeit besitzt, die nur einem zweisprachigen Autor zuteilwerden kann: Es ist das Talent, Begriffe zu entgrenzen, Worten mit Skepsis gegenüberzutreten und sie als historisch gewordene Sinneinheiten zu verstehen - mal zufällig, mal konstruiert. Dieses Buch ist also das Ergebnis eines klugen, hinreißenden Zeichenspiels, das aus alltäglichen Beobachtungen radikale Grenzerfahrungen formt.

Da ist etwa die Geschichte mit dem Titel "Delfine". Es geht nicht, wie vermutet, um ein Flossentier, sondern um eine Frau, die so wunderschöne Sätze sagt, dass man sie als Vermenschlichung eines Gedichts ansehen möchte. Ihre Attraktivität ist so ergreifend und anmaßend ehrlich, dass jeder übergeordnete Sinn plötzlich nebensächlich erscheint. Ist das nicht auch die primäre Funktion von Poesie? Ist sie nicht auch dafür da, die Wirklichkeit in ein neues Licht zu tauchen und sie den Fängen der Konvention zu entreißen? "Ich lauschte gierig auf ihre Sätze, als ob ich und nicht sie eine Wundspalte im Wort wäre, ohne Verbeugung vor jedem Zusammenhang." Solche Sätze muss man mehrmals lesen, diese kleinen, feinen Satzkonstruktionen, bevor man den ganzen Kosmos begreift, der sich hinter den zusammengesteckten Worthülsen verbirgt. Und doch es ist der Mühe wert.

In diesem Büchlein stecken nämlich Einsichten, die man am liebsten einrahmen möchte: "Gähnen ist die Bestätigung einer Langeweile, so etwas wie Applaus." Oder Pointen, die sich wie philosophische Verballhornungen lesen: "Unsere Hausverwaltung ist seit zehn Stunden metaphysisch verschwunden, niemand geht ans Telefon." Es sind lakonische Beschreibungen eines Alltags, eines Berliner Winters oder einer Einkaufsfahrt an einen deutsch-polnischen Grenzort, in denen sich wunderbare poetische Augenblicke im Nebensächlichen ereignen.

Iwona Mickiewicz hat ihr Handwerk im Lyrikfach gelernt. Ihre Gedichte, die im Oberbaum-Verlag erschienen sind, bestechen durch eine schwebend wirkende Leichtigkeit. Ihre Geschichtensammlung ist nun von Hanani veröffentlicht worden, einem von Martin Wilkening gegründeten Verlag in Berlin. Damit wird die Stadt ihrem Ruf als Experimentierfeld abermals gerecht. Es gibt noch Platz für Veröffentlichungen dieser Art, die dabei helfen, die Welt als syntaktischen Spielplatz voller Überraschungen zu sehen. So eine kostbare Entdeckung macht man selten.

TOMASZ KURIANOWICZ.

Iwona Mickiewicz: "Konstruktionen im Haus oder Iwan Iwanytsch am Fenster". Geschichtensammlung.

Hanani Verlag, Berlin 2011. 168 S., br., 13,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Höchst kostbar findet Tomasz Kurianowicz diesen Band mit 57 kurzen, genremäßig kaum eindeutig einzuordnenden, zwischen Lyrik, Essay, Prosa und Fragment oszillierenden Texten der deutsch-polnischen Autorin Iwona Mickiewicz. Abgesehen davon, dass dem Rezensenten sprachlich derartig frei schwingende Texte selten begegnen, preist Kurianowicz das Erkenntnispotenzial einer Schreibe, die Begriffe zu entgrenzen, Sinneinheiten zu hinterfragen vermag und das alles ausgehend von simplen Alltagsbeobachtungen, einem Anruf bei der Hausverwaltung, einem Gähnen. Auch wenn er Manches zweimal lesen muss, um es zu begreifen, das Ergebnis scheint den Rezensenten zu beschenken mit einem jungfräulichen literarischen Kosmos.

© Perlentaucher Medien GmbH