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Menschenhandel oder Widerstand? Fluchthilfe für DDR-Bewohner
Bereits kurz nach dem Mauerbau plante der Schriftsteller Uwe Johnson, die Arbeit von Fluchthelfern zu dokumentieren. Nun legt Marion Detjen, die Johnsons Material erstmals auswerten konnte, die erste Gesamtgeschichte der Fluchthilfe vor. Die Darstellung lebt von dem abenteuerlichen Stoff konspirativer Treffen, geheimer Aktionen und gefährlicher Fluchten. Gleichzeitig wirft die zeithistorische Analyse ein neues Licht auf die Geschichte der beiden deutschen Staaten.
Die Figur des Fluchthelfers weckt Vorstellungen von Widerstand
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Produktbeschreibung
Menschenhandel oder Widerstand? Fluchthilfe für DDR-Bewohner

Bereits kurz nach dem Mauerbau plante der Schriftsteller Uwe Johnson, die Arbeit von Fluchthelfern zu dokumentieren. Nun legt Marion Detjen, die Johnsons Material erstmals auswerten konnte, die erste Gesamtgeschichte der Fluchthilfe vor. Die Darstellung lebt von dem abenteuerlichen Stoff konspirativer Treffen, geheimer Aktionen und gefährlicher Fluchten. Gleichzeitig wirft die zeithistorische Analyse ein neues Licht auf die Geschichte der beiden deutschen Staaten.

Die Figur des Fluchthelfers weckt Vorstellungen von Widerstand und Freiheitskampf: Der Fluchthelfer untergräbt buchstäblich die Übermacht einer menschenverachtenden Diktatur, er führt willkürlich auseinander gerissene Familien und Paare wieder zusammen und rettet die vom Regime Verfolgten in die Freiheit. Als Helden wurden die Fluchthelfer im Westen jedoch nur kurze Zeit gefeiert. Schon wenige Jahre nach dem Mauerbau wurden sie für die verantwortlichen Politiker lästig, da ihre "wilden" Aktionen die sensiblen Versuche störten, das Los des geteilten Berlin auf geregeltem Weg, in Gesprächen mit der DDR, zu erleichtern. In den Medien etablierte sich - teils von der DDR lanciert - ein neues Bild des Fluchthelfers, der durch den Verdacht des Abenteurertums, des politischen Radikalismus, der Geschäftemacherei und krimineller Machenschaften kompromittiert schien.

Marion Detjen schildert die gefährliche Arbeit der organisierten Fluchthilfegruppen. Jenseits der bisher üblichen Heroisierung und Dämonisierung erzählt sie von den sich wandelnden Motiven der einzelnen Fluchthelfer, den Zwängen und politischen Konflikten, die ihre konspirative Tätigkeit prägten. Detjen gelingt eine spannende Untersuchung, die zeigt, wie sehr sich die Fluchthilfe und ihre Wahrnehmung in Ost und West mit den Beziehungen der beiden deutschen Staaten veränderte.

Autorenporträt
Marion Detjen, 1969 in München geboren, studierte von 1989 bis 1995 Geschichte, Germanistik und Romanistik in Berlin und München. Sie arbeitete als Lehrerin und Ausstellungsmacherin und veröffentlichte neben zahlreichen Aufsätzen zu historischen und politischen Themen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.02.2006

Barometer für die gefühlte Einheit
Ein unbequemes Kapitel aus der Zeit der deutschen Teilung: der merkwürdige Umgang mit dem Thema Fluchthilfe
Anfangs galten sie als Helden: die Fluchthelfer, die nach dem Mauerbau Verwandte, Freunde und Regimegegner umsonst oder gegen Geld in den Westen schleusten. In ihrem ungleichen Kampf gegen das Grenzregime war ihnen die Sympathie der westlichen Öffentlichkeit zunächst sicher. Doch bald diskreditierte der Osten sie als „Menschenhändlerbanden”. Und auch im Westen war die heroische Zeit vorbei. Die Idealisten im Dienst der Freiheit und Menschlichkeit wurden als gewaltbereite Abenteurer oder sogar als dubiose Kriminelle wahrgenommen.
Marion Detjen sucht, den düsteren Mythos der Fluchthilfe aufzuhellen. Interviews mit ehemaligen Fluchthelfern - darunter auch die, welche der Schriftsteller Uwe Johnson bereits 1964 mit den Exponenten der studentischen Fluchthilfe in Berlin geführt hat -, Flüchtlingsbefragungen aus den Notaufnahmelagern, die Akten des Gesamtdeutschen Ministeriums und die Hinterlassenschaft der Staatssicherheit der DDR bilden ihr Material. Herausgekommen ist eine spannende politische Geschichte. Detjen liefert ein nuanciertes Bild der Fluchthelferszene. Sie schildert die Entstehung der einzelnen Gruppen in Berlin, ihre Netzwerke und Rivalitäten. Detailliert beschreibt sie ihre riskante Arbeit, ihre Erfolge, die sie zu neuen „Touren” beflügelten und ihre demoralisierenden Misserfolge.
Hilfe mit falschen Pässen
Darüber hinaus wendet sie sich dem politischen Eiertanz (West) und der Verfolgungswut (Ost) zu, mit der Flüchtlinge und Fluchthelfer zu rechnen hatten. Minutiös rekonstruiert die Autorin das komplizierte politische und gesellschaftliche Handlungsfeld der Fluchthelfer im Westen und den Wandel in der veröffentlichten Meinung seit 1964. Viele Behörden wussten von den Organisationen und stifteten Kontakte. Berliner Polizisten gaben Ratschläge bei der Sicherung von Fluchtwegen. Verfassungsschützer in Berlin und in Kiel halfen diskret mit Kartenmaterial und falschen Pässen aus. Die Franzosen tolerierten die Tunnelgrabungen von Wedding nach Ostberlin. Sporadisch erhielten studentische Fluchthelfer Geld von der Berliner CDU, von Axel Springer, von Industriellen und Privatleuten und verdeckt auch vom Ministerium für gesamtdeutsche Fragen. Zu keiner Zeit aber konnten sich die Gruppen einer ständigen regierungsamtlichen Finanzierung erfreuen, wie es die DDR stets behauptete.
Die Zeit der Verhandlungen, beginnend mit dem ersten Passierscheinabkommen 1963/64, dem Transitabkommen 1971 und dem Grundlagenvertrag 1972 läutete eine neue Phase ein. Den Unterhändlern zäh errungener politischer Kompromisse kam die Fluchthilfe ungelegen. Sie gefährdete das Erreichte. Die Presse sekundierte: Zeit, Stern, Spiegel und Tagesspiegel diffamierten Fluchthelfer als verantwortungslose Geschäftemacher. Bald sprachen Stern und Quick sogar von „Menschenhändlerbanden” und übernahmen den DDR-Jargon. Nur die konservative Presse wies gelegentlich darauf hin, dass ohne Mauer und Grenze die Fluchthilfe obsolet wäre.
Volk, Regierung und Medien richteten sich in der friedlichen Koexistenz ein. Der deutschen Teilung stand aber das Grundgesetz entgegen, das allen DDR-Bürgern ein Recht auf die deutsche Staatsangehörigkeit und auf Einreise in die Bundesrepublik zusicherte. So vollführten Politik und Justiz merkwürdige Salti im Umgang mit den Fluchthelfern, die alle gegen sich hatten. Da man weder die Flüchtlinge bestrafen, noch die Fluchthilfe verbieten wollte, konzentrierte man sich darauf, die kommerziellen Schleuser mit lautem Getöse zu kriminalisieren. Ersatzweise wurde Anklage erhoben wegen Urkundenfälschung, illegalen Waffenbesitzes oder Betrugs. Verurteilungen aber waren selten.
Die Staatssicherheit der DDR reagierte mit dem klassischen Repertoire an Abwehrmethoden. Sie infiltrierte die Fluchthelferszene mit Spitzeln. Der Verrat ermöglichte etliche Verhaftungen. Je nach politischer Opportunität wartete auf die Beteiligten ein Geheim- oder Schauprozess. Die Federführung lag wie in allen politischen Verfahren - von der Ermittlung bis zum Urteil - bei der Stasi. Die lenkte auch die mediale Verwertung der Schauprozesse. Ihre lautstarke Beharrlichkeit zeitigte die größten Erfolge im Westen. Die Adaption der plakativen DDR-Propaganda schritt in dem Maße voran, wie sich die Demokratie mit der deutschen Teilung arrangierte.
Erstaunlicher ist, dass die DDR in der Transitkommission seit 1972 über ein politisches Forum verfügte, um auf die westdeutsche Delegation Druck auszuüben, die verhasste Fluchthilfe auch im Westen strafrechtlich zu verfolgen. Detjens Mikro-Chronologie der Justiz in Ost und West belegt, wie sehr die Bundesrepublik unter Zugzwang geriet, und wie sie diesen unterlief. Die organisierte Fluchthilfe kann als Barometer für die gefühlte Einheit und für die reale Teilung Deutschlands gelten. Vor aller Welt zog sie die Legitimität der DDR in Zweifel, die ihren Bewohnern die Freizügigkeit versagte, um nicht zum Staat ohne Volk zu werden. Immer wenn die Stunde der politischen Verhandlungen schlug, wurde sie auch im Westen zum unbequemen Störfaktor - und zum nützlichen Sündenbock. Dann schlug man auf das Barometer ein.
KARIN HARTEWIG
MARION DETJEN: Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961-1989. Siedler Verlag, Berlin 2005. 480 Seiten, 24,90 Euro.
Die „Freiganghöfe” im ehemaligen Stasi-Knast in Bautzen - hier mussten auch Fluchthelfer einsitzen.
Foto: ddp
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2006

Patrioten oder Profiteure?
Eine längst überfällige Studie zu "Republikflucht" und Fluchthilfe

Was war Fluchthilfe aus der DDR? Politischer Widerstand oder profitgieriger Menschenschmuggel? Die Historikerin Marion Detjen gibt auf die hier zugegeben zugespitzte Frage eine überzeugende Antwort. Das eindrucksvolle Buch ist die erste geschichtswissenschaftliche Gesamtdarstellung der Fluchthilfe überhaupt. Nach einleitenden Reflexionen zu Thematik und Forschungsstand handelt sie zunächst die Massenfluchtbewegung aus der SBZ/DDR ab, die sich für den "Arbeiter-und-Bauern-Staat" zu einer existentiellen Bedrohung auswuchs, ehe sie am 13. August 1961 die brutale Abriegelung Ost-Berlins provozierte. Flucht und Fluchthilfe aus dem ungeliebten Staat nach dem Bau der Mauer beinhaltet das folgende Kapitel. Der Bogen spannt sich von den Anfängen der Fluchthilfe im geteilten Berlin, einem spontanen, ursprünglich von Studenten getragenen Aufbegehren gegen die Mauer-Willkür, bis zur organisierten und professionalisierten Fluchthilfe der späteren sechziger, frühen siebziger Jahre. Je raffinierter die Kontrollmechanismen des DDR-Grenzregimes waren, desto vielfältiger bildeten sich neue Varianten der Fluchthilfe heraus - Schleusungen mittels gefälschter Passierscheine, Personalausweise und Reisepässe, Untertunnelung der Sektorengrenze durch Fluchtstollen bis zu 145 Meter Länge, Fluchtaktionen durch die Abwasserkanalisation, Einsatz umgerüsteter Kraftfahrzeuge mit Verstecken im grenzüberschreitenden Verkehr, Nutzung von Diplomaten-Privilegien im Transit - die Stichworte vermitteln nur eine blasse Ahnung vom Einfallsreichtum der Akteure.

Der Entwicklung ab 1963/64 ist der letzte Teil des Buches vorbehalten. Als die Fluchthilfe zunehmend komplizierter, aufwendiger wurde, schlug die Stunde der kommerziellen Fluchthelfer. Vor die Notwendigkeit gestellt, Fluchthilfe zu finanzieren, mußten Fluchtwillige zahlen. Aber gewissenlose Geschäftemacher entdeckten sie bald auch als Quelle von Profit. Sie zerstörten damit allerdings ihre politische Reputation. Frau Detjen heroisiert die Fluchthilfe nicht, ihr Urteil ist unbestechlich. Sie bringt auch Kritisches zur Sprache - etwa die Verbindung der politisch motivierten Fluchthilfe mit der kommerziellen bis hin zu deren Verstrickung in kriminelle Milieus. Aber sie pauschalisiert nicht, sie zeigt anhand konkreter Beispiele die Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft ungezählter Fluchthelfer auf, ihre Verfolgung und nennt ihre Namen, denn die historische Wahrheit ist immer konkret.

Die DDR drohte auszubluten. Das erklärt die Reaktion der Herrschenden in ihrer Härte, den Schießbefehl, die Diffamierung und Kriminalisierung der Fluchthelfer wie der "Republikflüchtigen", die erbarmungslosen Sanktionen der Strafgerichte. Und dennoch ließen sich Flucht und Fluchthilfe zwar eindämmen, aber nicht total unterbinden. Auch die Staatssicherheit stieß auf Schranken, trotz Hunderter IM, die sie auf Fluchthelfergruppen ansetzte, trotz einer speziellen Diensteinheit, die sie zu ihrer Bekämpfung schuf, die Zentrale Koordinierungsgruppe im MfS. Selbst vor Entführungs- und Mordversuchen scheute die Stasi nicht zurück. Indes setzte erst die Ausreise- und Übersiedlungswelle der achtziger Jahre der Fluchthilfe ein Ende.

Die Autorin beschränkt ihre weitgefaßte Untersuchung nicht auf die Fluchthilfe. Sie setzt sich kritisch mit den Motiven und Strategien der Fluchthelfer auseinander, von denen sich viele in einer nationalen Verantwortungsgemeinschaft empfanden, solidarisch verbunden mit den Menschen in der DDR, und sie bettet ihr Handeln souverän in den Kontext der deutschen Teilungsgeschichte ein. Nicht zuletzt ist hervorzuheben, daß Frau Detjen den Begriff des Widerstands mit den zur Erforschung des Widerstands im Nationalsozialismus entwickelten Kriterien konfrontiert und so seine erkenntnistheoretische Eignung für die DDR auslotet. "Die Frage, ob Fluchthilfe überhaupt Widerstand war, läßt sich sofort mit Ja beantworten, wenn man mit dem Begriff im weitesten Sinne jedes Verhalten und Wirken meint, das sich den nichtlegitimierten Herrschaftsansprüchen einer Diktatur widersetzt." Dennoch litten die Fluchthelfer im Westen nachgerade unter dem Paradigmenwechsel der öffentlichen Meinung. War Fluchthilfe - ihrer Natur nach illegal und konspirativ - im Zeichen der deutsch-deutschen Entspannungspolitik noch zu verantworten?

Ein trotz schwieriger Materialbasis sorgfältig recherchiertes Buch. Selbstverständlich wertete die Autorin Archivalien und Gerichtsurteile aus, aber sie befragte auch zahlreiche Zeitzeugen, einst aktive Fluchthelfer, politische Entscheidungsträger jener Zeit. Zudem standen ihr Fluchthelfer-Interviews zur Verfügung, die Uwe Johnson 1964/65 aufgezeichnet hat, die ihre Authentizität und ihren Reiz dem Zeitpunkt ihres Entstehens verdanken. Frau Detjen verklärt die Fluchthelfer nicht, aber sie verhilft ihnen mit Sensibilität und Verständnis zu ihrem verdienten Platz in der DDR-Widerstandsgeschichte. Endlich.

KARL WILHELM FRICKE

Marion Detjen: Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961-1989. Siedler Verlag, München 2005. 476 S., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Nach dem Bau der Mauer 1961 hielten unzählige Fluchtgeschichten jahrelang die Öffentlichkeit in Atem. Jetzt hat Marion Detjen bemerkenswerte neue Erkenntnisse zusammengetragen."
Die Welt

"Fluchthilfe war stets mehr als eine spannende Geschichte. Marion Detjen gelingt eine originelle politische Deutung dieses lange vernachlässigten Themas der zeithistorischen Forschung. Ihre farbige und packende Darstellung ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der deutschen Teilung."
Prof. Dr. Peter Steinbach

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hochspannend findet Karin Hartewig dieses Buch über die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland. Und informativ dazu. Wie die Autorin dem Leser den "politischen Eiertanz" des Westens und die "Verfolgungswut" des Ostens im Umgang mit der Fluchthilfe auseinandersetzt, wie sie mittels Interviews und Aktenstudium in die Details führt, Entstehung, Gruppen, Netzwerke, Erfolge und Misserfolge beschreibt - das hat Hartewig den "düsteren Mythos der Fluchthilfe" veranschaulicht. Staunend erfährt die Rezensentin vom Wechsel der Sympathien, von der Tolerierung und Unterstützung der Fluchthelfer durch westliche Politiker und Industrielle in den 60er Jahren bis hin zu ihrer Kriminalisierung in den 70ern. Durch die an letzteren Punkt anschließende "Mikro-Chronologie der Justiz in Ost und West" entdeckt die Rezensentin die organisierte Fluchthilfe "als Barometer für die gefühlte Einheit und für die reale Teilung Deutschlands".

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