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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.12.2000

Kann es ein richtiges Leben im falschen geben?
Die seelischen Verletzungen einer jungen Frau durch eine Adoption
Adoption ist ein heikles Thema, für Irma Krauß wurde die Beschäftigung damit zu einer Obsession, die sich in ihrem Roman Rabentochter in einer sehr genauen Schilderung der Realität und der psychischen Situation aller Betroffenen spiegelt.
Corinna, ein vierzehnjähriges Mädchen wurde mit fünf Jahren von der Mutter zur Adoption freigegeben. Bald schon fand sich eine Familie, Vater Bernd, Mutter Edith und Sohn Philipp, die das Mädchen aufnahmen. Fortan unterscheidet Corinna zwischen der „Roten”, der Stiefmutter, und der „Blonden”, der leiblichen Mutter. Sie sehnt sich nach der „Blonden” und findet alles, was die „Rote” macht, falsch. Edith ist zu perfekt, zu ökologisch, eine Müsli-Tante, die nervt mit ihrem Ernst und ihrer hilflosen Liebe. Die blonde Christine, die echte Mutter, lebt als Wunschbild in Corinnas Kopf. Sie muss anders, besser, schöner sein als Edith! Wenn Corinna ihr eigenes Gesicht im Spiegel anschaut, verschmilzt es für sie mit dem der Mutter. All ihre Gefühle, Sehnsüchte, Abneigungen lässt Irma Krauß Corinna selbst erzählen, monologisch. Diese Kapitel sind mit „Ich” überschrieben. Der Rest ist ein Film, der im Hintergrund abläuft. Immer wieder lautet die Überschrift „Film ab”, manchmal auch „Rückblende” und wir werden hineingezogen in ein Geschehen, in dem sich unzählige Stränge finden und wieder verlieren, in dem manchmal eine Annäherung zwischen den Personen stattfindet und dann wieder völlige Fremdheit herrscht.
Corinna wird der „Blonden” begegnen in einer Situation, die sie sich nicht gewünscht hat, sondern in die sie hineingeraten ist, die lange Suche erfüllt sich auf überraschende Weise, die Wirklichkeit ist aber anders als der Traum.
Irma Krauß ist eine Meisterin im Perspektivenwechsel, sie hilft ihren Lesern dabei, Corinnas Welt und die ihrer Umgebung zu verstehen. Es geschieht Unglaubliches in diesem Roman und das Ende bringt keine Lösung der Konflikte. Die Kunst der literarischen Beschreibung psychologischer Vorgänge, die Irma Krauß exzellent beherrscht, lässt sich nicht auf eine Formel bringen. Sie setzt sich zusammen aus glasklarer Beobachtung, einem scharfen Realitätssinn und einer starken Einfühlung in das Empfinden von Jungen und Mädchen in der Pubertät. Mit diesen Mitteln arbeitet ihre Fantasie und was herauskommt, ist Literatur, die aufwühlt und zum Nachdenken zwingt. (ab 14 Jahre)
INGEBORG GLEICHAUF
IRMA KRAUSS: Rabentochter. Verlag Aare (Sauerländer) 2000. 146 Seiten, 19,95 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.2000

Ein Abonnement auf das Unglück
Wieviel Chancen haben Adoptiveltern? Irma Krauß erzählt von einer "Rabentochter"

Die vierzehnjährige Corinna ist eine Rabentochter. Sie hat es nie verwinden können, daß ihre Mutter sie im Alter von fünf Jahren zur Adoption freigegeben hat. Die Erinnerung an die Frau mit den blonden Haaren und hohen Stiefeln ist übermächtig. Die Zeit heilt die Wunde nicht, und Corinna tut viel, um sie offen zu halten. Sie läßt nichts aus, um sich und ihre Familie immer wieder wissen zu lassen, daß sie eigentlich woanders hingehört. Indem sie die Liebe der Adoptiveltern nicht erwidert, kann sie ihnen den schwersten Schlag versetzen, verkennt aber, daß sie sich selbst mit jedem Hieb verletzt. Die leibliche Mutter ist für Corinna zur Obsession geworden - wenn sie die erst einmal findet, wird alles gut.

Damit hat die Adoptivfamilie vom ersten Augenblick an keine Chance. Corinna kann sich nicht einlassen auf das behagliche Reihenhaus-Idyll; vor allem nicht auf die Frau, die Mutter genannt werden möchte. Alles verstehen wollen die Adoptiveltern, alles verzeihen, Vertrauen gegen Vertrauen. So gut sind sie, daß sie sogar fast Verständnis aufbringen für das undankbare, egoistische Kind, das seine innere Chaoslandschaft nicht vereinbaren kann mit der Harmoniesucht dieser äußeren Lebenswelt. Immer stört Corinna, schert aus, klaut und ißt maßlos, gegen jede Abmachung, nur von dem Gedanken erfüllt, die verlorene Mutter wiederzufinden.

Dem Schicksal eines solchen Mädchens zu folgen ist aufregend, und Irma Krauß kann die tiefe Verzweiflung und die zarte Hoffnung feinfühlig beschreiben. In ihrer psychischen Qual und ihrem physischen Schmerz wird Corinna lebendig. Doch dabei bleibt es nicht. Immer mehr packt die Autorin auf Corinnas schwache Schultern. Man lauert schon auf das nächste Elend, das sich dann auch prompt einstellt. Es ist wie ein unkündbares Abonnement auf Unglück und Mißvergnügen. Einem einzigen Menschen widerfährt all das, was normalerweise den Katastrophenbedarf einer Mädchenklasse decken würde: Nach einer Vergewaltigung auf der Party ihres Bruders wird Corinna schwanger. Als sie endlich ihren Zustand erkennt, ist es zu spät für einen Abbruch. Die Familie versucht nach dem ersten Schock zu helfen, doch Corinna weist die Hilfe zurück. Schließlich stöbert sie ihre leibliche Mutter auf und wird bitter enttäuscht. Die Frau sieht ihre Karriere als Politikerin gefährdet durch die Tochter, die plötzlich mehr zu werden droht als eine lästige Erinnerung an eine Jugendsünde, und ist bemüht, den Eindringling so schnell wie möglich loszuwerden.

Auch formal versucht Irma Krauß soviel wie möglich unterzubringen. Doch selbst in den mit "Ich" überschriebenen Kapiteln, die neben "Rückblende" und "Film ab" unterschiedliche Blickrichtungen auf Corinnas Leben ermöglichen sollen, findet kein echter Perspektivwechsel statt. Es genügt nicht, "ich" zu schreiben, aber im gleichen Duktus fortzufahren. Die Chance, hier authentisch sein zu können, wird nur selten genutzt. An wen wendet sich Corinna eigentlich? Wahrscheinlich an den Leser, und damit an eine völlig fremden Person; so wirken ihre Mitteilungen aus dem inneren Krieg wie inszeniert, theatralisch zugespitzt, manchmal aber auch papieren. Da ist jemand, der, wenn auch gebeutelt, auf den Effekt hin erzählt. Insofern sind die drei Ebenen des Textes gar nicht nötig, weil es genau genommen nur eine gibt, egal, woher die Beleuchtung kommt.

Irma Krauß scheint der eigenen Geschichte und der Kraft ihrer Heldin zu mißtrauen. Dabei ist Corinna eine interessante, starke Figur. Wenn sie nur nicht für alles herhalten müßte. Die Addition von Schicksalsschlägen führt weder zwangsläufig zu mehr Wahrhaftigkeit der Geschichte noch zur Betroffenheit des Betrachters. Weniger wäre in diesem Fall viel mehr gewesen. Schade um Corinna.

GABRIELE LEJA.

Irma Krauß: "Rabentochter". Aare by Sauerländer, Frankfurt 2000. 200 S., geb., 19,95 DM. Ab 12 J.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Ein Adoptivkind ist besessen von der Erinnerung an seine leibliche Mutter und von der Möglichkeit, sie wiederzusehen und deshalb unfähig, die Liebe der neuen Eltern zu erwidern. Diese Grundlegung und die starke Corinna gefallen der Rezensentin Gabriele Leja, nicht aber die Anhäufung von Unglück: Vergewaltigt, schwanger, von der wiedergefundenen Mutter abgewiesen, allzu viel "packt die Autorin auf Corinnas schwache Schultern." Zudem suggerieren die mit den Kapiteln "Ich", "Rückblende" und "Film ab" überschriebenen Kapitel Perspektivwechsel, die aber nicht stattfinden, so Leja. Alles in allem "Schade um Corinna".

© Perlentaucher Medien GmbH"