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Der Exodus ist nicht mehr linear, sondern kreisförmig: Die Inbetriebnahme des weltgrößten Teilchenbeschleunigers im September 2008 markiert für Paul Virilio das Ende der anthropostatischen Sesshaftigkeit. In seinem neuesten Essay kreist der Denker der Geschwindigkeit einmal mehr um sein Kernthema: die Beschleunigung der Realität. Den titelgebenden Large Hadron Collider des CERN sieht er als Symbol der zirkulären Ausweglosigkeit, die durch den ständigen Geschwindigkeitsrausch, dem wir in der medialen Informationsflut verfallen sind, unsichtbar bleibt. Denn die erzwungene Mobilität der Menschen…mehr

Produktbeschreibung
Der Exodus ist nicht mehr linear, sondern kreisförmig: Die Inbetriebnahme des weltgrößten Teilchenbeschleunigers im September 2008 markiert für Paul Virilio das Ende der anthropostatischen Sesshaftigkeit. In seinem neuesten Essay kreist der Denker der Geschwindigkeit einmal mehr um sein Kernthema: die Beschleunigung der Realität. Den titelgebenden Large Hadron Collider des CERN sieht er als Symbol der zirkulären Ausweglosigkeit, die durch den ständigen Geschwindigkeitsrausch, dem wir in der medialen Informationsflut verfallen sind, unsichtbar bleibt. Denn die erzwungene Mobilität der Menschen und Datenmengen verzerrt die natürlichen Rhythmen, was Virilio als gefährliche Abkehr von der lokalen, "menschlichen" Zeit zugunsten der globalen "Maschinenzeit" interpretiert, die wiederum die Realität jedes Einzelnen beschleunigt. Wir haben die "Zeitmauer" erreicht. Virilio ruft uns dazu auf, diese Hegemonie des ewigen Augenblicks der technologischen Moderne zu überwinden, uns vom Fortschrittsgedanken zu lösen und dem illuministischen Kult um die Lichtgeschwindigkeit abzuschwören.
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Autorenporträt
Paul Virilio wurde 1932 in Paris geboren. Er leitete von 1972 bis 1975 die École Spéciale d'Architecture und lebt heute als Architekt, Stadtplaner und Schriftsteller in La Rochelle.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Nicht wirklich erwärmen kann sich Christof Forderer für Paul Virilios neues Buch "Der große Beschleuniger". Die Thesen des als großen Kritiker der gesellschaftlichen Beschleunigung bekannten französischen Philosophen scheinen ihm oft sehr suggestiv vorgebracht und wissenschaftlich kaum begründet. Auch stört ihn der "apokalyptische Predigerton" des Autors. Er hält Virilios Analyse der Ursachen von problematischen Beschleunigungsprozessen Monokausalität vor. Den Empfehlungen des Autors, die Verlangsamung zum Regierungsprogramm zu machen und ein Ministerium der Zeit einzurichten, das über die Wahrung natürlicher Zeitrhythmen wacht, begegnet er mit einer Forderung nach mehr Futurismus in Politik und Gesellschaft, muten ihn Virilios Ansichten mitunter doch etwas anachronistisch an.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2012

Zu schnell, um
ehrlich zu sein
Philosoph Paul Virilio fordert ein Ministerium der Zeit
Bei Walter Benjamin kann man nachlesen, dass während der Julirevolution von 1830 im Moment der anbrechenden Nacht plötzlich mehrere Barrikadenkämpfer auf die Pariser Turmuhren schossen: Sie wollten die Zeit anhalten, um die angefangene Revolution vollenden zu können. Paul Virilio, der Begründer der „Dromologie“ (der Lehre vom Zusammenhang zwischen Beschleunigung und gesellschaftlichem Wandel) zielt nicht auf Uhrzeiger, aber er konstatiert in seinem neuesten Buch „Der Große Beschleuniger“ mit Genugtuung, dass der große Genfer Teilchenbeschleuniger 2008 schon kurz nach Inbetriebnahme zunächst einmal wegen einer Panne abgeschaltet werden musste. Die Nahezulichtgeschwindigkeit, mit der in dieser „unterirdischen Kathedrale der Forschung“ Elementarteilchen aufeinander zurasen, ist dem französischen Verfechter von Verlangsamung entschieden zu schnell.
  Seit seinem Buch „Vitesse et politique“ (1977) ist Virilio so etwas wie der Pionier der Beschleunigungskritik. In jüngster Zeit wird allerdings – zumindest im deutschsprachigen Diskurs – in erster Line der Soziologe Hartmut Rosa zitiert, wenn es um die Probleme „chronophager“ Gesellschaften geht. Rosa entfaltet mit wissenschaftlicher Gründlichkeit, was der französische Philosoph in seinem suggestiven und oft irrlichternden Stil seit Jahrzehnten verkündet: die Zerstörung traditionellen „In-der-Welt-Seins“ durch eine Beschleunigungsrevolution, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Bereich technischer Innovationen (neue Übertragungstechnologien mit Echtzeiteffekt), in den Rhythmen des Alltagslebens (verkürzte Fristen zur Erledigung von Aufgaben) und im Takt der Lebensläufe (Verfallsdauer von Partnerschaften, fragmentierte Berufsbiografien) stattfindet. Der apokalyptische Predigerton, zu dem der „christliche Anarchist“ (Virilio über Virilio) neigt, ist in dem neuesten Buch noch vernehmlicher geworden. Nicht ohne klammheimliche Freude wendet sich der 80-jährige Virilio den aktuellen Krisenzu und findet in ihnen seine „dromologische“ Diagnose bestätigt: Nachdem die „Anthropodynamik“ und die aus ihr resultierende Geschichte der Beschleunigung viele Jahrtausende lang kontinuierliche Machtsteigerung bedeutet habe, habe sie nun die Menschheit an den Rand der Katastrophe geführt – an die Schwelle zum „rasenden Stillstand“.
  Exemplarisch für den Zustand, dem wir uns annähern (Virilio prophezeit die Regression der lichtsensibel ihren Bildschirmen zugewandten Menschen zu Hybriden von Pflanzen), ist für Virilio die Finanzkrise. Die Ursachenanalyse ist typisch für seine monokausalistische Beschleunigungsverteufelung: Den Krisenbeginn sieht Virilio mit dem Start der Vernetzung der Märkte durch die City of London im Jahr 1987, dem „Big Bang des Program Trading“, eröffnet. Seitdem laufe das Börsengeschehen „zu schnell, um ehrlich zu sein“ ab. Mit dem flash trading, bei dem Hochleistungsrechner, die über die „Angriffskapazität eines Atomschlags“ verfügen, in Nanosekunden das gesamte Börsengeschehen durchkalkulieren und eigenständig Verkaufs- oder Kaufaufträge ordern, habe die Börsenwelt endgültig die „Mauer der Zeit“ eingerannt. Wenn erst einmal in Nanozeitspannen ohne „Chrono-Diversität“ (ohne Auseinanderfaltung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und damit ohne die Möglichkeit zur Intervention über Milliardenbeträge entschieden werde, sei der Crash unvermeidlich. Aufgrund platzender Spekulationsblasen verlieren die Börsianer schließlich jegliches Vertrauen an die ihnen entgleitenden Märkte. Als letzter Avatar der Säkularisierung verbreite sich ein „Monoatheismus“: der Unglaube an die Zukunft der Weltwirtschaft. Seitdem dümpelt, wie wir täglich neu erfahren, die Ökonomie im Credit Crunch vor sich hin.
  Virilios Lösungsvorschlag für die Probleme der Jetztzeit: die Einrichtung eines „Ministeriums der Zeit“. Ein Minister solle wie ein Dirigent den Taktstock schwingen und das gesellschaftliche Leben auf Andante zurückstimmen. Natürliche Zeitrhythmen, wie man sie seinem Herzschlag ablausche, und Zonen geräumiger Dauer sollten genauso wie die Reinheit von Luft, Wasser und Erde staatlich geschützt werden.
  Gegen Virilios Forderung, Verlangsamung zum Regierungsprogramm zu erheben, wäre einzuwenden, dass auch heutzutage mitunter eine kräftige Dosis Futurismus nicht schaden könnte. Politik und Gesellschaft leiden nicht nur an einem ständigen Presto, Presto, sondern zugleich auch daran, dass Beharrungskräfte Innovationsdynamik zum Erliegen bringen. Wenn Paul Virilio schließlich sogar die Big Science als „Unfall des Wissens“ ablehnt, weil sie zu so unanschaulichen Erklärungsmodellen wie Carlo Rovellis Theorie der „Schleifenquantengravität“ oder Benoît Mandelbrots Theorem von der „multifraktalen Zeit“ führt, dann hat der französische Philosoph, so scheint es, sich von der Dynamik der zeitgenössischen Wissenschaft in den Anachronismus hinauskatapultieren lassen.
CHRISTOF FORDERER
    
Paul Virilio: Der große Beschleuniger. Übersetzt von Paul Maercker. Passagen Verlag, Wien 2012. 83 Seiten, 11,90 Euro.
Seinen „rasenden Stillstand“ sieht
Virilio im Finanzcrash bestätigt
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