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Zufall und Kontingenz sind von der Geschichtswissenschaft bis in die Gegenwart nur sporadisch thematisiert worden. Deshalb hat sich der Autor dieser Arbeit eine doppelte Aufgabe gestellt: Diskutiert er zunächst Bedeutung und Funktion von Zufall / Kontingenz für geschichtstheoretische Dimensionen, so interpretiert er daran anschließend zwei Klassiker der Sozialgeschichte (F. Braudel, H.-U. Wehler) auf ihren methodisch-theoretischen und historiographischen Umgang mit den zu verhandelnden Phänomenen. Die zentrale These, die hinter dieser Untersuchung steht, lautet dabei: Zufall und Kontingenz…mehr

Produktbeschreibung
Zufall und Kontingenz sind von der Geschichtswissenschaft bis in die Gegenwart nur sporadisch thematisiert worden. Deshalb hat sich der Autor dieser Arbeit eine doppelte Aufgabe gestellt: Diskutiert er zunächst Bedeutung und Funktion von Zufall / Kontingenz für geschichtstheoretische Dimensionen, so interpretiert er daran anschließend zwei Klassiker der Sozialgeschichte (F. Braudel, H.-U. Wehler) auf ihren methodisch-theoretischen und historiographischen Umgang mit den zu verhandelnden Phänomenen. Die zentrale These, die hinter dieser Untersuchung steht, lautet dabei: Zufall und Kontingenz sind nicht äußerliche, unbedeutende und methodisch auflösbare Scheinkategorien, sondern vielmehr produktive und mitbegründende Faktoren / Begriffe bei der Konstitution von Geschichten und historischer Erfahrung, durch deren Vernachlässigung oder Auflösung die Geschichtswissenschaft auf ihre methodischen Kosten zurückgeworfen wird. Am theoretischen und historiographischen Umgang mit Zufall und Kontingenz lässt sich zeigen, wer (welche Theorie / welche Perspektivität) was (welchen Gegenstand / welche Wirklichkeit) wie (welche Methode / welche Darstellungsform) im Rahmen der Geschichtswissenschaft verstehen bzw. erklären will. Die Haltung gegenüber dem Zufall ist der 'Offenbarungseid' der Theorie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2005

Die Wolke über dem Mittelmeer
Arnd Hoffmann über den Zufall in der Geschichtstheorie

Jenen Band 20, mit dem das legendäre "Rechtshistorische Journal" im Jahre 2001 sein Erscheinen einstellte, schloß eine Glosse, die als Wortmeldung eines "jungen Historikers" annonciert war. Er kommentierte einen Streit, den im Heft zuvor Hans-Ulrich Wehler, der Patriarch deutscher Sozialgeschichte, und der Kulturhistoriker Hans Dieter Kittsteiner über die Frage ausgefochten hatten, wessen Forschung die wichtigere sei. Schwerste Geschütze hatte man aufgefahren. Doch Arnd Hoffmann bekannte, daß ihn ebendiese Besserwisserei und die verletzende Häme der Polemik an beiden Kontrahenten gestört habe. Man lerne durch ihr Gezänk "wenig über Geschichtstheorie, wohl aber, wie man diese los wird". So machte das Ende des "Journals" noch einmal klar, wie gut dieses Paradox kultivierter Achtundsechziger-Kultur seine Mission erfüllt hatte, scharfen Köpfen der nächsten Generation zur Sprache gegen ihre Väter zu verhelfen.

In seiner Bochumer Dissertation sucht Arnd Hoffmann nach einer geschichtstheoretischen Position, die sich von der Hybris frei hält, den Gang der Geschichte im nachhinein definitiv erklären zu können. Dazu macht er zwei Kategorien stark, die sich jeder Systematisierung zu versperren scheinen: den "Zufall" (das je Unvorhergesehene) und die "Kontingenz" (das Bewußtsein dafür, daß alles auch ganz anders sein könnte, als es ist). Nicht das klassische Problem von Freiheit und Notwendigkeit aber interessiert ihn, nicht der Zufall an sich und nicht die Frage, welche Rolle er in der Geschichte spiele. Als bekennender Luhmannianer fragt Hoffmann vielmehr nach der Perspektive des Beobachters.

Zwang der Dauer.

Arnd Hoffmann prüft in einer langen, ungemein belesenen Begriffsgeschichte zunächst die Plätze, die Philosophen und Kulturtheoretiker seit Aristoteles dem schlechthin Unkalkulierbaren in ihren Weltentwürfen angewiesen haben. Den meisten, so zeigt er, galt Zufall als Ärgernis, weil er jede logische Ordnung störte, verwirrte, gefährdete. Skrupellose Systematiker wie Hegel halfen sich, indem sie Ereignisse und Handlungen, die zufällig welthistorische Wirkungen gezeitigt hatten, kurzerhand zu Agenten einer höheren Notwendigkeit erklärten. Erst seit Nietzsche, der von einer "Theorie des Zufalls" träumte, entdeckte man dessen schöpferische, stimulierende, befreiende Kraft.

Zusehends galt der Zufall nun als ein Erlöser vom Zwang mechanistischer Konsequenz, als ein unfehlbarer Falsifikator - und damit als eine Legitimationsinstanz - theoretischer Machtansprüche. So sieht ihn auch Hoffmann selbst. All seine scharfsinnigen, hoch differenzierten, stets subtilen und stets im hohen Ton der Theorie auftretenden Erörterungen über Kausalität, Zeit und kontrafaktische Geschichtsspekulationen münden in das Lob des Zufalls als Garanten intellektueller Offenheit.

Um so mehr provozieren ihn zwei Historiker, die Zufälle so weit wie möglich aus ihren Betrachtungen ausschließen wollen: Fernand Braudel, dessen "Mittelmeer"-Buch aus dem Jahr 1949 die "lange Dauer" natürlicher Prozesse und langsame "Konjunkturen" gegen "nervöse" Ereignisse ausspielt, und Hans-Ulrich Wehler, dessen "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" nicht mehr von Männern, Mächten und Nationen erzählen, sondern jene statistisch meßbaren Prozesse darstellen will, die mit klarer Notwendigkeit auf die Moderne zulaufen. Beide Vorhaben sucht Hoffmann als (Selbst-)Täuschungen zu entlarven. Beide Autoren nämlich, so zeigt er in detaillierten Textanalysen, verstoßen unentwegt gegen die eigene Theorie, sobald sie praktisch Geschichte schreiben.

Braudel lasse Zufall und Kontingenz nur "strukturell" in der "langen Dauer" verschwinden. Tatsächlich aber spielten Zufälle der Politik, der dynastischen Erbfolge, des Wetters, des Postverkehrs und des Kriegsglücks in seinem "Mittelmeer"-Buch eine erhebliche Rolle. Daß den Christen 1571 bei Lepanto der triumphale Seesieg über die Türken gelingt, sei auch bei Braudel nur dem Zufall zu danken, daß sie mit Don Juan d'Austria den fähigeren Admiral besitzen. Arnd Hoffmann aber rügt solche Inkonsequenz nicht. Braudels Bewußtsein für Kontingenzen rühre aus der sympathischen Tatsache her, daß er als "geübter Strukturhistoriker" historische Vorgänge stets aus der "Ex-ante-Perspektive der Zeitgenossen" schildere und niemals versuche, sie "unter irgendein funktionales Primat (zum Beispiel des Ökonomischen) ex post zu subsumieren".

Bleischwere innere Statik.

Genau das aber tue Hans-Ulrich Wehler, dessen mechanistische Methode Hoffmann gegen Braudels "Komplexität" denn auch deutlich abwertet. Genüßlich führt Hoffmann vor, wie die "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" in ihrem Streben, nur ja nichts dem Zufall zu überlassen, eine so bleischwere innere Statik annimmt, daß ihr Autor gerade die entscheidenden, zukunftsweisenden Wendungen dem persönlichen Handeln Bismarcks oder dem Kriegsglück zuschreiben muß. Der Versuch, Geschichte restlos zu systematisieren, münde im Historismus - nur daß statt leitender "Ideen" eben soziale Prozesse die Handlung vorantrieben und das Ziel der Geschichte nicht Staat und Nation seien, sondern "die Moderne". Wehler merke das nicht, weil er kaum über Sinn und Wesen der Geschichte nachdenke, sondern nur über technische Methoden, seinen Quellen möglichst sichere Daten zum Beweis der eigenen Thesen zu entlocken.

Hoffmanns Befunde sind zu klar, als daß man sie immanent bestreiten könnte. Vieles, was er in geistreiche, postmoderne Theorie-Arabesken faßt, deckt sich zudem mit der Kritik, die einst schon Thomas Nipperdey oder Lothar Gall gegen Wehler vorgetragen haben. Um so mehr aber drängt sich die Frage auf, warum dieser trotzdem nach wie vor als das Haupt der deutschen Sozialhistorie anerkannt wird. Ist es Zufall? Oder trifft gar zu, was er seinen kulturwissenschaftlichen Kritikern entgegenzuhalten liebt: daß sich historische Qualität eben nicht an Theorie entscheide, sondern an praktischen Forschungsergebnissen?

Einer, der beides meisterhaft beherrschte, die Geschichtstheorie und die historische Forschung, der 1998 verstorbene Panajotis Kondylis, hätte anders argumentiert. Er hätte daran erinnert, daß Geschichtstheorie weder an sich existiere noch notwendig in wissenschaftliche Praxis umgesetzt werden müsse: daß ihr eigentlicher Zweck vielmehr der strategische sei, feindliche Weltanschauungen polemisch zu diskreditieren. Deshalb hänge es nicht von der Brillanz einer Theorie ab, ob sie wirke, sondern von den politischen Mehrheitsverhältnissen, die sie stützen. Die meisten Praktiker vom Fach werden noch nüchterner urteilen: Da man die "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" zumindest ihrer zahllosen Literaturangaben wegen gut brauchen könne, sei es schließlich egal, ob sie nun ein bißchen Zufall mehr oder weniger enthalte. Theorie ist nämlich in der Tat eine Frage der Kontingenz.

GERRIT WALTHER.

Arnd Hoffmann: "Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie". Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main, Band 184. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2005. 381 S., br., 59,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Überzeugend findet Rezensent Gerrit Walther diese Studie Arnd Hoffmanns über "Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie". Hoffmanns Position selbst sieht er geprägt von einer Skepsis gegen die anmaßende Auffassung, den Gang der Geschichte im nachhinein definitiv erklären zu können. Als "ungemein belesen" lobt er Hoffmann Begriffsgeschichte der beiden Begriffe. Während die meisten Philosophen seit Aristoteles den Zufall als Ärgernis empfanden, weil er jede logische Ordnung störte, verwirrte, gefährdete, hebe Hoffmann die seit Nietzsche entdeckten positiven Seiten des Zufalls hervor. "All seine scharfsinnigen, hoch differenzierten, stets subtilen und stets im hohen Ton der Theorie" auftretenden Erörterungen über Kausalität, Zeit und kontrafaktische Geschichtsspekulationen", befindet Walther, "münden in das Lob des Zufalls als Garanten intellektueller Offenheit."  Beeindruckt zeigt er sich ferner von Hoffmanns Auseinandersetzung mit Fernand Braudel und Hans-Ulrich Wehler, zwei Historikern, die den Zufall so weit wie möglich aus ihren Betrachtungen ausschließen wollen.

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