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Simon Mihailovic, Arzt in Berlin, verheiratet mit einer Journalistin, die er 1968 auf einer Demonstration kennengelernt hat, kehrt nach einem Vierteljahrhundert in seine Heimatstadt Foca zurück. Es ist Ende August 1991, Gewalt, Angst, Fanatismus, nationalistischer Wahn vergiften die Atmosphäre. Kurz nach seiner Ankunft wird eine frühere Mitschülerin, in die er verliebt war, bestialisch ermordet: Zuhra Cengic, Mitglied einer alten bosnischen Familie. Drei weitere Menschen, die ihm nahestanden, werden auf ungeklärte Weise umgebracht. Der Verdacht fällt auf Simon, den Fremden aus dem Westen.…mehr

Produktbeschreibung
Simon Mihailovic, Arzt in Berlin, verheiratet mit einer Journalistin, die er 1968 auf einer Demonstration kennengelernt hat, kehrt nach einem Vierteljahrhundert in seine Heimatstadt Foca zurück. Es ist Ende August 1991, Gewalt, Angst, Fanatismus, nationalistischer Wahn vergiften die Atmosphäre. Kurz nach seiner Ankunft wird eine frühere Mitschülerin, in die er verliebt war, bestialisch ermordet: Zuhra Cengic, Mitglied einer alten bosnischen Familie. Drei weitere Menschen, die ihm nahestanden, werden auf ungeklärte Weise umgebracht. Der Verdacht fällt auf Simon, den Fremden aus dem Westen.
Eines Abends steht Enver Pilav vor der Tür, sein lange verschollener bester Freund, ein Sufi-Mönch. Etwas stimmt nicht mit ihm. In den Tagen und Nächten, die sie träumend und diskutierend miteinander verbringen, geschieht eine Verwandlung: Je tiefer Simon in sich selbst hineingeht, desto mehr vermag er sich einer anderen Welt zu öffnen. Bis er mit Enver in den Barzakh, das unterirdische Zwischenreich, wo sich die Seelen der seit Jahrhunderten Ermordeten versammeln, hinabsteigt, um die große Kette der Gewalt zu durchtrennen.
Autorenporträt
Karahasan, Dzevad
Dzevad Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, Erzähler, Dramatiker und Essayist. Die Belagerung Sarajevos war Thema seines in zehn Sprachen übersetzten Tagebuchs der Aussiedlung (1993) und seiner beiden Romane Schahrijârs Ring (1997) und Sara und Serafina (2000). Für den Essayband Das Buch der Gärten wurde er 2004 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Karahasan lebt in Graz und Sarajevo.

Wolf-Griesshaber, Katharina
Katharina Wolf-Griesshaber, geboren 1955, studierte Slavistik und Osteuropäische Geschichte in Heidelberg und Bochum. Sie lebt und arbeitet als freie Übersetzerin in Münster.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2006

Am Vorabend des Kriegs
Der bosnische Autor Dzevad Karahasan liest im Frankfurter Literaturhaus

Ein Mann kehrt nach 25 Jahren in seine Heimatstadt zurück. Als Student ist Simon Mihailovic nach Berlin gegangen, hat dort eine Frau gefunden und viele Jahre als Arzt gearbeitet. Daß er im August 1991 nach so langer Zeit wieder ins bosnische Foca reist, ist in erster Linie auf seine Ehekrise zurückzuführen. Heimweh hat ihn nicht angetrieben.

Und doch ist Simon in glücklicher, beinahe übermütiger Stimmung, als er am Morgen nach seiner Ankunft hinunter in die Stadt läuft in der Hoffnung, auf alte Bekannte zu treffen. Besuchen seine ehemaligen Schulkameraden noch die Kneipe von Sulejmanaga Kukavica, erkennt ihn der Barbier, in dessen Salon er mit seinem Vater so viele Nachmittage saß? Simon geht gutmütig, ja naiv auf Menschen zu, und deshalb trifft ihn die Enttäuschung um so stärker, als sich einige nicht an ihn erinnern oder ihn spüren lassen, daß er für sie ein Fremder geworden ist. Für den Helden seines neuen Romans "Der nächtliche Rat" hat Dzevad Karahasan, der jetzt im Frankfurter Literaturhaus las, aber noch weitaus unangenehmere Überraschungen parat: In den folgenden Tagen werden vier Personen umgebracht, die Simon nahestanden, und bald wird der Heimkehrer selbst der gräßlichen Morde verdächtigt. Die sich für Simon immer auswegloser und grauenhafter gestaltende Lage spiegelt die angespannte Situation in Foca am Vorabend des Bürgerkriegs. Schon in früheren Romanen hat Karahasan ja über die Massaker auf dem Balkan berichtet. Er selbst überlebte die Belagerung Sarajevos nur mit Glück. Seit 1993 lebt der bosnische Autor im Exil, erst in Deutschland, jetzt in Österreich. Für seine Darstellung der "dramatischen Kultur" und "wunderbar reichen Angelegenheit", zu der sich vier Religionen in seiner Heimat verbanden, wurde er 2004 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

Wie blutig die Geschichte des Balkans aber auch ist, darauf verweist der Autor in seinem aktuellen Roman. Als Simon mit seinem toten Freund Enver Pilav in den Keller seines Hauses hinabsteigt, wird aus dem Heimkehrerroman eine Gespenstergeschichte, wie Moderator Lothar Müller bemerkte. Die beiden treffen auf die Seelen derer, die dort im Laufe der Jahrhunderte getötet wurden: auf so grausame Weise, daß man beim Lesen die Seiten überblättern möchte. Doch endet Karahasans Buch zuversichtlich. In Ekstase fühlt sich Simons Frau ihrem Mann nahe, als dieser sich gerade an den Abstieg in die Unterwelt macht. Die Liebe überwindet den Tod, das Grauen, die Kälte.

des.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.07.2006

Vorkrieg in Foca
Dzevad Karahasans Roman „Der nächtliche Rat”
Als Europa die Grenzen des Kalten Krieges überwand, zerfiel Jugoslawien in einem blutigen Krieg, dessen Motive und Frontlinien außer den unmittelbar Beteiligten bald kaum jemand mehr überblicken konnte. Der durchschnittliche Zeitgenosse wurde fassungsloser Zeuge einer Gewaltorgie, die nach dem Epochenjahr von 1989 erst recht schockierend anachronistisch wirkte, weil sie von ethnischen und religiösen Gegensätzen aufgeheizt wurde. Solch archaische Konflikte glaubte man - wider besseres Wissens - in Europa überwunden zu haben.
Es tut der Literatur normalerweise nicht gut, wenn sie als Konkurrentin der Geschichtsschreibung auftritt. Denn wenn es darum geht, die Vergangenheit transparent zu machen, verfügt die Historiographie am Ende meist über die präziseren Begriffe. Der jüngste Roman des bosnischen Schriftstellers Dzevad Karahasan präsentiert eine eindrucksvolle Ausnahme von dieser Regel. „Der nächtliche Rat” spielt 1991, ein Jahr vor Ausbruch des Krieges, in der bosnischen Stadt Foca. Und es gelingt ihm, die damals bereits hoch explosive Atmosphäre in Bosnien mit genuin literarischen Mitteln so dicht zu beschreiben, dass dieses literarisch hoch raffinierte Buch Historikern vielleicht doch einmal als Quelle nutzen wird, wenn es darum geht, die Anfänge des jugoslawischen Krieges zu erforschen.
Karahasans Held ist der Arzt Simon Mihailovic. Seit 25 Jahren in Berlin verheiratet, kehrt er nach Foca zurück. Das Motiv seiner Reise wird nicht ausgesprochen, vermutlich ahnt er die drohende Katastrophe und möchte vorher noch einmal in seine ursprüngliche Heimat zurück. Obwohl er so lange weg gewesen war, erkennen ihn seine früheren Freunde und Nachbarn sofort wieder, im Haus seiner inzwischen verstorbenen Eltern findet er Quartier, als hätte man jeden Tag mit seiner Rückkehr gerechnet.
Und dann geschehen kurz nacheinander vier Morde. Man kann es den Bürgern von Foca kaum verdenken, dass sie Mihailovic als Täter verdächtigen, denn bevor er aus Berlin zurückkam, war nichts Vergleichbares passiert, außerdem war er mit allen Opfern in irgendeiner Weise bekannt. Der wahre Täter bleibt bis zum Schluss unerkannt. Die Unruhe jedoch, die sich angesichts der Mordserie ausbreitet, legt die inneren Strukturen von Foca frei. Mihailovic, ständig unter Rechtfertigungsdruck, lernt mit einem in 25 Jahren der Abwesenheit geschärften Blick seine früheren Mitbürger neu kennen. Da ist sein ehemaliger Lehrer, der es auf seltsamen Wegen zum Polizeichef gebracht hat, weil er davon überzeugt ist, auf diesem Posten der nationalen Sache besser dienen zu können. Da sind die Kleinbürger, denen alles, was aus dem Westen kommt, also auch Mihailovic, Verrat an der eigenen Sache bedeutet.
Da sind die früheren Nachbarn, die sich jahrelang um das leer stehende Elternhaus gekümmert haben, unter dem Druck des allgemeinen Mordverdachts jedoch von solch langer Freundschaft nichts mehr wissen wollen. Foca steht unter der Tyrannei des grundsätzlichen Verdachts - nicht nur gegen den Fremden. Misstrauen, Angst und Unterstellung entwickeln eine Eigendynamik, die ganz von selbst ernährt.
Das Leben der toten Seelen
An dieser Stelle macht der Roman eine überraschende Wendung. Mihailovic trifft Enver Pilav, der viele Jahre sein engster Freund war. Während der Berliner Jahre hatte er ihn aus den Augen verloren, Enver fühlte sich zum Sufi-Mönch berufen. Zeichnete der Roman bis zu diesem Wiedersehen ein ungemein präzises Bild des Lebens in Foca, wechselt er nun auf eine mystische Ebene der Introspektion. Tage und Nächte sitzen die beiden Freunde diskutierend und träumend beisammen und dabei steigen zwischen ihnen Bilder und Geschichten hoch, die meist von Gewalt und Verrat handeln. Foca und die bosnische Wirklichkeit rücken in immer weitere Ferne, bis die beiden hinabsteigen in das Reich der Toten, wo die Seelen der Ermordeten auf Erlösung warten.
Spätestens jetzt steht der Roman auf der Kippe, drohen realistisches Erzählen und mystische Schau irreparabel auseinanderzubrechen. Doch da rettet Pilav die Situation durch eine bitterböse Pointe, die den Roman mit einem Schlag ins Diesseits zurückholt. Er fordert seinen Begleiter Mihailovic auf, die unerlösten Seelen endgültig zu töten, indem er sie dem Vergessen ausliefert. Nur im Vergessen liegt eine zumindest minimale Chance, den ewigen Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen.
Und bräche die Gewalt dennoch wieder aus, wären auch die Seelen der Verstorbenen sofort wieder lebendig. Eine skandalöse, scheinbar amoralische Forderung, aber sie wird vertreten gegenüber einer Gesellschaft, die dabei ist, die Erinnerung in einem ewigen Spiel von Rache und Vergeltung als Waffe gegen sich selbst zu richten.
Der Kampf um die Erinnerung wird auf dem Balkan noch lange dauern - die Historiker sind nicht zu beneiden. Der nächtliche Rat zeigt schon einmal, was sie werden beschreiben und erklären müssen: eine Gesellschaft, die unter dem Druck ihrer inneren Widersprüche und ihrer Anachronismen kollabiert und dabei ihre politischen und kulturellen Errungenschaften mit in den Abgrund reißt. Es gehört zur Freiheit der Literatur, dass sie angesichts dieses Szenarios nicht nach den Schuldigen und den Verantwortlichen fragen muss.
Es ist ein Privileg der Literatur, für solche elementaren Verwerfungen eigene Formen des Erzählens erfinden zu können. Karahasan verwebt virtuos die realistisch-präzise Momentaufnahme mit jenen Mythen und Ängsten, die oft genug mehr Gewalt über die Menschen haben als alle historisch beglaubigte Vergangenheit. Ihm ist das Kunststück eines historischen Romans ganz auf der Höhe der Zeit gelungen.TOBIAS HEYL
DZEVAD KARAHASAN: Der nächtliche Rat. Roman. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grieshaber. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2006. 334 Seiten, 19,80 Euro.
„Foca steht unter der Tyrannei des grundsätzlichen Verdachts - nicht nur gegen den Fremden. Misstrauen, Angst und Unterstellung entwickeln eine Eigendynamik, die ganz von selbst ernährt”. Aber es gehört zur Freiheit der Literatur, dass sie nicht nach den Schuldigen fragen muss: Das zerstörte Foca am 1. Mai 1992. Foto: David Brauchli/Corbis Sygma
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Regelrecht begeistert zeigt sich Rezensent Andreas Breitenstein von Dzevad Karahasans Roman, und das nicht nur, weil er sich ständig in der Dramaturgie, in der Gattungsmischung sowie in den "Weltnachts-Metaphern" an Hans Lebert erinnert fühlt. Karahasans Protagonist ist der Bosnier Simon, der nach Jahren des Exils in Berlin 1991 in seine Heimatstadt Foca zurückkehrt, just in dem Moment also, in dem die ethnischen Spannungen kurz vor der erneuten Explosion stehen. Mit seiner Ankunft in Foca, so der Rezensent, beginnt für Simon ein "seltsamer Prozess der Entwirklichung": Bekannte geben vor, ihn nicht zu kennen und als vier seiner engsten Freunde ermordet werden, lenkt sich der Verdacht schließlich auf ihn, was zur Folge hat, dass er immer mehr "aus der Zeit herausfällt". Beeindruckend findet der Rezensent zum einen, wie Karahasan das "lichtvolle Miteinander unterschiedlichster Menschen" und zugleich "historisch präzis" die aufbrechende Grausamkeit zwischen genau diesen Menschen schildert. Zum anderen sprühe der Roman nur so vor "Witz und Gedankenreichtum". In "atemloser Spannung" habe er diesen "tief ins Mythologische eingesenkten exorzistischen Roman" und sein "abgründiges Panorama balkanischer Existenz" gelesen, berichtet der Rezensent und lobt schließlich die unglaubliche "Eleganz", mit der es Karahasan gelingt, eine derartige "Ideenfülle" zu verarbeiten.

© Perlentaucher Medien GmbH
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