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Indianer zu Hunderten, Horden von Bisons und ihre Jäger, Hitze und Spannung, Staub und das unentwegte Knallen von Schüssen - Éric Vuillards Erzählung strotzt vor Abenteuer. Doch die Spur verläuft im Kreis, die Männer bewegen sich vor einer riesigen Leinwand, die Rufe der Menge überdecken alle Geräusche : Billy Cody alias Buffalo Bill tobt im Zentrum eines Spektakels, das als Wildwest-Show über zwei Jahrzehnte in der ganzen Welt bekannt war und eine Geschichte von Heldentum und gerechtem Zorn konstruierte. Doch die Schlachten der Sieger, der heroische Gründungsmythos eines vermeintlich freien…mehr

Produktbeschreibung
Indianer zu Hunderten, Horden von Bisons und ihre Jäger, Hitze und Spannung, Staub und das unentwegte Knallen von Schüssen - Éric Vuillards Erzählung strotzt vor Abenteuer. Doch die Spur verläuft im Kreis, die Männer bewegen sich vor einer riesigen Leinwand, die Rufe der Menge überdecken alle Geräusche : Billy Cody alias Buffalo Bill tobt im Zentrum eines Spektakels, das als Wildwest-Show über zwei Jahrzehnte in der ganzen Welt bekannt war und eine Geschichte von Heldentum und gerechtem Zorn konstruierte. Doch die Schlachten der Sieger, der heroische Gründungsmythos eines vermeintlich freien Landes, waren das Massaker an Amerikas Ureinwohnern, deren Überlebende nun gezwungen sind, im Kostüm des Besiegten zu posieren und ihre Erniedrigung bei jeder Darbietung abermals zu durchleben. Éric Vuillard konfrontiert in dieser fesselnden historischen Rhapsodie den amerikanischen Mythos der Eroberung des Westens mit den vergessenen Gesichtern ihrer Opfer und entlarvt das erste große Massenvergnügen der Neuzeit als lügenhafte Umerzählung der brutalen Ausrottung eines Volkes in ein gigantisches, von den Siegern zu Markte getragenes Spektakel.
Autorenporträt
Vuillard, Éric§§Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründete, wurde er u. a. mit dem Prix de l'Inaperçu, dem Franz-Hessel-Preis und dem Prix Goncourt ausgezeichnet.§§
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2017

Alles, was er anfasste, wurde zu Pappmaché

Éric Vuillard erkundet in seiner schillernden Erzählung "Traurigkeit der Erde" die Geburt des modernen Massenspektakels.

Buffalo Bill (1846 bis 1917) ist eine legendäre Gestalt: Sein Name versetzt uns in den Wilden Westen, die berühmte Landnahme mit ihren manchmal ruhmreichen und oft grausamen Exzessen; er ist ein Symbol, wie die Namen Geronimo, Billy the Kid, Wyatt Earp und Konsorten. Interessant scheinen den Kindern in uns meist die blutigen Taten des jungen Schützen; seine "Wild West Show" wirkt wie ein anekdotischer Nachklapp. Éric Vuillard tritt an, die Gewichte neu auszutarieren: "Traurigkeit der Erde" erzählt nicht einfach "Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody", wie der Untertitel ankündigt, sondern zeigt uns die eminent moderne Seite der Figur. Denn ausgerechnet die "Wild West Show", dieses traurige Imitat früherer Kämpfe, ist hier das eigentliche Werk Buffalo Bills, sein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte: "Der ehemalige Journalist, Makler und Leiter einer Akrobatentruppe erfand in einem perfekten Zusammenführen des Menschen mit seiner Zeit das show business."

Vuillard beginnt mit dem Höhepunkt: Die Show begeistert die Besucher der Weltausstellung von Chicago 1893, sie reißt auf Tourneen in Amerika und Europa die Massen hin. Bereits die schiere Fracht der Transportschiffe lässt die Dimensionen des Spektakels erahnen: "Die Laderäume enthielten 1200 Pfähle, 4000 Masten, 30 000 Meter Tauwerk, 23 000 Meter Segeltuch, 8000 Sitze, 10 000 Holz- und Eisenteile, und alles zusammen sollte etwa hundert, mithilfe von drei Dynamos erleuchtete und mit Flaggen aus aller Herren Länder bekrönte Zirkuszelte ergeben. Die Truppe zählte achthundert Menschen, fünfhundert Reitpferde und ein paar Dutzend Bisons." Je 15 000 Zuschauer können zwei Vorführungen am Tag besuchen.

Was treibt sie dazu? Für Vuillard ist der Erfolg der "Wild West Show" Hinweis auf die Geburt des modernen Menschen: "Die amerikanischen Städter, diese neue Sorte von Menschen, die sich hartnäckig nur um sich selbst drehten, die im Ursprung ihrer Angst das Gefühl hatten, etwas Besonderes zu sein, auserwählt vom Genius des Fortschritts, um die Fackel der Menschheit zu ergreifen und sie höher zu halten als je irgendjemand vor ihnen, nun ja, diese amerikanischen Städter wollten Zeugen von etwas anderem sein, sie wollten im Geiste die Great Plains durchqueren, die Schluchten des Colorado durchmessen und das Leben der Pioniere erleben." Es geht schlicht um Teilhabe an der Geschichte der Nation, die im Westen gerade geschrieben wurde.

Man ahnt es: All das lässt die Eroberung Amerikas und den westlichen Fortschritt in keinem guten Licht erscheinen. Der 1968 in Lyon geborene Autor hat bereits kritische Bücher über die Kolonialisierung Zentralafrikas ("Kongo", 2014) und Lateinamerikas ("Conquistadors", 2009; nicht übersetzt) veröffentlicht, mit dem Ziel, gängige europäische Geschichtsbilder zu korrigieren. "Traurigkeit der Erde" wendet diesen Ansatz nun auf Nordamerika an: "Die Zivilisation ist eine riesige, unersättliche Bestie. Sie frisst alles."

Das ist schön gesagt, aber nicht neu: Innovativ ist der neuralgische Knotenpunkt, den Vuillard im Fall Buffalo Bill ausgemacht hat. Mit wortmächtiger, ätzender Sprache zerlegt er das Geflecht, packt ein grelles Thema mit grellen Worten. Denn die "Wild West Show" ist vieles auf einmal: Hier lassen sich die Verlierer der Geschichte, die Indianer, im Rampenlicht zweimal täglich massakrieren (unter ihnen Sitting Bull, der Sieger von Little Bighorn). Hier entsteht ethnographisches Interesse aus dem Geist des Spektakels - Friedrich Nietzsche und Guy Debord sind denkbare Leitsterne. Hier wird das moderne Massenspektakel geboren, das auf einer anonymen Menge vereinzelter Zuschauer aufbaut und das kurz darauf im Kino seine Fortsetzung findet. Vuillard betont, dass die Reality Show daher nicht als später Exzess der Massenunterhaltung, sondern als ihr eigentlicher Ursprung anzusehen sei.

Das Messer seiner Kritik schärft Vuillard nicht nur an zeitgenössischen Fotografien, die er kritisch deutet. Er wetzt es besonders an einem Exempel: der Transformation des Massakers von Wounded Knee zur zentralen Geschichte der "Wild West Show". Auf der einen Seite steht das Gemetzel der amerikanischen Armee an einer elenden Resttruppe von Kriegern, Frauen und Kindern; Vuillard schiebt die wenig erbauliche Episode von einem verschacherten Indianerkind ein. Auf der anderen Seite steht die Wiederauferstehung der grausamen Episode als persilweiße "Schulbuchfassung für unsere Kinder": Aus dem Massaker Unterlegener mittels modernster Kanonentechnik wird eine glorreiche Schlacht gleichberechtigter Gegner, in die Buffalo Bill rettend eingreift - ein echter Westernritter eben.

In Wirklichkeit war Buffalo Bill zu spät angereist und konnte nur die Überreste des Schlachtfelds besichtigen. Aber die Trennung von wahr und falsch war für ihn zu diesem Zeitpunkt ohnehin obsolet: Er hatte sich selbst in eine Marke seines Unterhaltungsbetriebs verwandelt, war sein eigenes Werbeprodukt geworden. Daher weiß man selten, was echt an dem Mann ist: "Alles, was mit Buffalo Bill zu tun hat, verwandelt sich in entwaffnender Weise in Pappmaschee." Eins liegt auf der Hand: Die Weißwäscherei und Geschäftemacherei ruiniert die Legende gründlich, das führt Vuillards "Erzählung" - tatsächlich eine Art Dokufiktion, deren Quellen Vuillard aber nicht nennt - voll mitreißender Verve vor.

Dennoch berührt es, wenn Vuillard auf das Schicksal des ergrauten Schützen zu sprechen kommt. Der Herrscher eines kommerziellen Imperiums, Gründer einer nach im benannten Stadt, trifft jahrelang den Nerv seiner Zeit. Das Geld - Tageseinnahmen von circa 40 000 Dollar - steckt er in unrentable Projekte und teure Liebschaften. Eines Tages verlässt ihn die Gunst des Publikums: "Er sollte seine glänzende Laufbahn als einfacher Angestellter des Sells-Floto Circus beschließen." Für hundert Dollar am Tag spielt der alternde Schausteller sich selbst, bevor er arm und einsam im Haus seiner Schwester stirbt.

Éric Vuillard beendet seine furiose Polemik mit einem Kontrapunkt: Auf wenigen Seiten schildert er das diskrete Leben Wilson Alwyn Bentleys, Erfinder der Schneeflockenfotografie. Bentleys stille Leidenschaft liefert Vuillard eine poetische Note, welche Buffalo Bills Leben wohl nicht bot - ein überraschend friedlicher Schluss, der sich wie ein Grabtuch auf das grausige Spektakel legt.

NIKLAS BENDER

Éric Vuillard: "Traurigkeit der Erde". Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody. Erzählung.

Aus dem Französischen von Nicola Denis. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 136 S., geb., 18,- [Euro].

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»Vuillards gerade einmal 120 Seiten schmaler Text handelt zwar von Ereignissen, die mehr als hundert Jahre zurück liegen, darüber hinaus ist er eine sprachmächtige Meditation über die destruktive Kraft der Ökonomie der Aufmerksamkeit.« -Peter Zimmermann, Ö1 Peter Zimmermann Ö1 ORF 20170618