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Zwei Mädchen, Zwillinge, hübsch, unzertrennlich, begabt, die "Sterntaler" genannt. Sie wachsen im Kassel der Fünfziger auf, studieren Kunst und machen Filme in den Sechzigern, gewinnen Preise, stürzen sich in die Politik und ziehen weiter nach Rom, Anfang der Siebziger. Dort tauchen sie ein in die Tempel der High Society und in Abbruchhäuser, die der Mafia gehören. Sie sind die Musen von Künstlern und selbst Künstlerinnen, ergriffen von der Vision, "Geist und Geld zu küssen". Da begegnen die beiden ihrem amerikanischen Traum: Paul Getty, dem Enkel eines Milliardärs. Sie ziehen mit ihm…mehr

Produktbeschreibung
Zwei Mädchen, Zwillinge, hübsch, unzertrennlich, begabt, die "Sterntaler" genannt.
Sie wachsen im Kassel der Fünfziger auf, studieren Kunst und machen Filme in den
Sechzigern, gewinnen Preise, stürzen sich in die Politik und ziehen weiter nach Rom,
Anfang der Siebziger. Dort tauchen sie ein in die Tempel der High Society und in
Abbruchhäuser, die der Mafia gehören. Sie sind die Musen von Künstlern und selbst
Künstlerinnen, ergriffen von der Vision, "Geist und Geld zu küssen".
Da begegnen die beiden ihrem amerikanischen Traum: Paul Getty, dem Enkel eines
Milliardärs. Sie ziehen mit ihm zusammen, aber bald danach wird der junge Getty
entführt, ihm wird, um die Zahlung von Lösegeld zu erpressen, das Ohr abgeschnitten,
und das Leben der Zwillinge ändert sich über Nacht.
Zwischen Amerika und Europa begeben sich die beiden Frauen, Sucherinnen, auf
verwegene Reisen - von einem Abenteuer zum anderen, von einer Herausforderung zur
nächsten, getrieben von der Sehnsucht, sich ausschweifend endlich selbst zu finden.
Dieses Buch erzählt ein Leben, das sich ein Romancier nicht hätte ausdenken können, er-
zählt von der Macht und Tragik des Zwilling-Seins und davon, dass es von der Hölle zum
Himmel und umgekehrt nicht weit ist.
Autorenporträt
Die Zwillingsschwestern Gisela Getty und Jutta Winkelmann, geboren Ende der vierziger Jahre in Kassel, leben heute beide in München. Sie arbeiten dort als Filmemacherinnen, Fotografinnen, Designerinnen und Schriftstellerinnen. Jamal Tuschick, geboren Anfang der sechziger Jahre in Kassel, lebt seit 1987 in Frankfurt am Main. Er ist Journalist und Schriftsteller, Autor von drei Romanen, zuletzt "Bis zum Ende der B-Seite".
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.06.2008

Verwechselbarkeit als Alleinstellungsmerkmal
„Vom Versuch, Geist und Geld zu küssen”: Wie ein Zwillingspaar um 1970 die linke und die schicke Welt eroberte
Dieses Buch teilt mit erfreulicher Deutlichkeit gleich im Titel mit, wovon es handelt: „Die Zwillinge oder Vom Versuch, Geist und Geld zu küssen”. Die Zwillinge, das sind Gisela Getty und Jutta Winkelmann, beide als Schmidt in Kassel um 1950 geboren, aufgewachsen in der unvermeidlichen Muffigkeit der Adenauerjahre und von Anbeginn in einer symbiotischen Blase befangen. So gleiten sie durch die späten Sechziger und frühen Siebziger, durch Kunsthochschulen, Filmsets, linke bis anarchische Milieus, das Rom der Cinecittà und das Rom der Mafia, erwerben sich den etwas spöttischen Ehrentitel von „Baader-Meinhof-Yogis”, tun wenig, ziehen aber magnetisch die Aufmerksamkeit auf sich. Jedermann ist entzückt, wenn er erfährt, dass es die eine, die er gerade trifft, noch in einer identischen zweiten Version gibt. Fellini fühlt sich gerührt zum Niederknien, Carlo Ponti desgleichen, Antonioni, Bertolucci und Roman Polanski bekunden Interesse – fehlt einer? Wohl kaum. Größere Filmprojekte kommen trotzdem nicht zustande, weil die Zwillinge bedauerlicherweise kein Talent dazu haben, Verabredungen einzuhalten. Nur ein Film mit Alexander Kluge wird fertig. Die italienische Regenbogenpresse fasst sie ins Visier, als sie die Gefährtinnen des amerikanischen Milliardärsenkels Paul Getty werden, und ruft sie zu den „gemelle del momento” aus, den Zwillingen des Augenblicks.
Vielleicht ließe sich mit größerer Berechtigung sagen, dass es der Augenblick der Zwillinge war, mehr noch als das damals verkündete Zeitalter des Wassermanns. Im Zwillingspärchen scheint sich das Begehrenswerte ohne Widerstand und Mühe zu verdoppeln; die beiden begreifen das und machen die Verwechselbarkeit zu ihrem kostbaren Alleinstellungsmerkmal. Die einzige Abbildung des Buchs zeigt, auf einer Doppelseite, den jungen Getty, wie er besitzergreifend die Arme um ihre Hälse legt – zwei Arme, zwei Frauen, eigentlich ganz logisch –, während die so Umhalsten einen großen, leeren Blick in die Kamera richten.
Ihr Blick ist ihr Ticket. Von ihrer „aufgeschlossenen Unschuld” sprechen sie selbst in dem Buch – ein wahrer Abgrund von einer Formel, in den viele, viele Erlebnisse passen. Sobald sie die Scheinwerfer aufblenden, kriegen sie, was sie wollen, also: die Männer, auf die es ankommt. In Deutschland heißen sie Alf, Rolf, Ralf, Gerd, in Italien Mario, Franco, Marcello, bei welch letzterem es sich um einen unglücklichen Mafioso handelt, der Jutta massakrieren und heiraten will, offenbar in dieser Reihenfolge. Von einem bestimmten Punkt an geht es vor allem um Trophäen: Joe Cocker taucht auf, Ryan O’Neal, Dennis Hopper, doch auch Bommi Baumann und Wolf Wondratschek. Geheiratet wird leicht, geschieden noch leichter; das nebenher anfallende Kind wird, damit es nicht stört, dauerhaft bei den spießigen Großeltern geparkt. Wenn es mit den Sechzehnendern nicht auf Anhieb klappt, kippt der Ton des Berichts ins Beleidigte, etwa bei der Begegnung mit Rainer Langhans: „Für uns bleibt nichts von seiner Aufmerksamkeit, obwohl ich meinen intensiven Hinschaublick eingeschaltet habe.” Während aber die Annäherung bei Langhans später doch noch gelingt, geht ihnen der größte Brocken von allen leider durch die Lappen, Bob Dylan nämlich, den doch Jutta kriegen sollte. Es kommt nur zu einem Partygespräch in der Küche, das die beiden im Nachhinein mächtig aufbauschen.
Was nun das Küssen von Geld und Geist betrifft, so machen Gisela und Jutta aus dessen Praxis kein Geheimnis: „Wir wollten berühmt, reich und erleuchtet werden, ohne schwer – das hieß für uns immer noch ‚männlich‘ – arbeiten zu müssen.” Es handelt sich also um einen Akt der Anzapfung, er dient dem Transfer der Ressourcen. Berühmt werden sie im Blitzlichtgewitter der Paparazzi, erleuchtet unter dem Einfluss verschiedener bewusstseinsverändernder Substanzen; reich aber auf etwas soliderer Grundlage, indem sie sich ihres wichtigsten Begleiters dauerhaft versichern. „Da fragten wir uns: was wird aus uns, wenn die Welt wieder grau und entzaubert sein würde? Wir mussten Vorsorge treffen. Paul, der uns bis dahin, neben vielen anderen, wichtig war, wurde nun unser Unterpfand für die Zukunft. Wir beschlossen, dass Gisela ihn ‚bekommt‘. (. . .) Mit Pauls Möglichkeiten wollten die Zwillinge, die immer schon ein Mini-Harem waren, einen größeren und sicheren Harem errichten. ‚Harem‘ nicht als schwüles Männerparadies, sondern als lustvoll eingelöste weibliche Utopie voller Geld, Geist und Erotik. Mit schönen Plätzen für interessante Menschen.” Eine „Auserwähltenkommune” wollen sie gründen. Wie man sieht, ist unter der bunten Hippie-Hülle Raum genug für den ältesten Mist der Welt.
Der entführte Bräutigam
Ehe es aber so weit ist und sich Paul zur Hochzeit mit Gisela einen Mao-Anzug maßschneidern lässt, stellt sich leider ein lästiger Zwischenfall ein: Paul Getty wird gekidnappt. Das ist besonders fatal, weil er und die Zwillinge schon vorher mit dem Gedanken gespielt hatten, eine Entführung vorzutäuschen, um den hartherzigen Großvater zur Zahlung einer größeren Summe zu bewegen. Dass es aber jetzt ernst wird, zeigt sich spätestens, als eine italienische Zeitung per Post das abgeschnittene Ohr des jungen Getty erhält. Man sollte meinen, dass hier die Erzählung ihre größte Intensität erreichen würde. Das ist aber keineswegs der Fall, die Zwillinge reagieren auf die tödliche Bedrohung ihres Bräutigams in befremdlich geistesabwesender Weise. Sie begnügen sich damit, kurz die „unfassliche Grausamkeit” der Mafia festzustellen; ansonsten ist die Objektkonstanz in ihrem Bewusstsein eher gering, und was nicht da ist und vor Augen steht, wird umgehend vergessen. Irgendwann kehrt das freigekaufte Entführungsopfer zurück und die Schwestern machen einfach weiter wie zuvor.
Womit das hauptsächliche Problem dieses Buchs benannt wäre: Es erschöpft sich komplett in der kaleidoskopischen Reihe. Nichts prägt sich ein, nichts gibt es, woraus je das Mindeste folgen würde. Wozu war es gut, dass die Zwillinge Fellini und Holger Meins getroffen haben, wenn sie nichts von ihnen zu sagen wissen, außer eben: wir haben ihn getroffen? „Mario fühlt sich veranlasst zu sagen, dass er mich heiraten will. Ich liebe ihn, aber mehr noch liebe ich meine Freiheit. Ich habe eine kurze Liebschaft mit Kim Arcalli. Danach, um ihn zu quälen, betrüge ich ihn mit seinem Sohn. Das Ausmaß seines Schmerzes überrascht mich.” Eine SMS ist ein Epos dagegen. Was, um Himmelswillen, hat die Berichterstatterin bei diesen zwei bis drei doch von ihr in Gang gesetzten Tragödien empfunden? In seiner vorliegenden Gestalt dürfte das Buch wohl überwiegend das Werk des Ghostwriters sein (Jamal Tuschik, der im Buch selbst zweimal als Nebenfigur erscheint), speziell bei den Stimmungsbildern. „Die Zypressen sind mystische Zeugen einer anderen Zeit und locken uns in den wahrhaft geheimen Garten.” So etwas ist glatte Routine und mehr nicht.
Es hätte ein interessantes Buch werden können, wenn nicht alles durch die passiven Seelen der Zwillinge einfach so durchgerauscht wäre. Rätsellos bietet sich ihnen noch das Merkwürdigste dar. Dies ist das eigentliche Rätsel, um dessentwillen sich die Lektüre dann doch lohnt: dass so etwas wie diese Zwillinge in einer gar nicht so lang vergangenen Ära möglich war. Heute, im Zeitalter der universalen Abschirmung, der Leibwächter und gated communities, könnte kein Mensch mehr mit nichts als dem blanken naiven Vorsatz, die wichtigen Leute dieser Welt kennenzulernen, dies auf so umstandslosem Weg tun. 1970 – es war eine Zeit voll Schall und Rauch, bunt, eitel, in vieler Hinsicht nichtig. Aber es genügte, weit die Augen aufzuschlagen, und man war dabei auf diesem Karneval der Bohème, wo der eine sich als linker Philosoph verkleidete, der andere als Kinostar und der dritte als Gangsterboss. Die hintere Umschlagsklappe zeigt die Schwestern, wie sie heute aussehen: gut konservierte, elegante Damen, aber die Augen so klein, dass man sie beim besten Willen nicht wiedererkennt. BURKHARD MÜLLER
GISELA GETTY, JUTTA WINKELMANN, JAMAL TUSCHIK: Die Zwillinge oder Vom Versuch, Geist und Geld zu küssen. Weissbooks, Frankfurt am Main 2008. 391 Seiten, 22 Euro.
Oben links die Zwillingsschwestern, wie sie sich in den achtziger Jahren der Welt präsentierten. Daneben Gisela Getty mit dem Milliardärserben Paul Getty 1974. Und unten zusammen mit Rainer Langhans 2007. Fotos: Corbis; dpa; ddp
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2008

Versuch über das geglückte Leben
Sie hatten die Mission, Schönheit in die Welt zu bringen: Jutta Winkelmann und Gisela Getty erinnern sich

Sie heißen Schmidt und kommen aus Kassel. Schon früh im Leben ist ihnen klar: die Welt wird sie kennenlernen. Denn sie sind die absolute Schönheit, der Wahnsinn und der Glanz. Sie sind unendlich selbstverliebt und deswegen absolut sicher, dass auch die Welt sie lieben wird. Und sie sind zu zweit; Gisela und Jutta Schmidt, bald schon Gisela Getty und Jutta Winkelmann, die Zwillinge mit einer Mission. Ihren Auftrag erhalten sie nach einer visionären Nacht des Glücks und der Erlösung am Strand von Sperlonga: "Nach dieser Erfahrung verstanden sich die Zwillinge als die Auserwählten. Sie mussten jetzt die Liebe und die Schönheit, die am Verschwinden waren, wieder in die Welt bringen. Die Tür, die sich Achtundsechzig geöffnet hatte, war ins Schloss gefallen. Nun hielten die beiden den Schlüssel in Händen. Sie waren die Lieblingskinder Gottes. Er hatte sie mit einer Mission betraut. Deren Erfüllung stand aus."

Gisela Getty und Jutta Winkelmann haben, mit der Unterstützung des Kasseler Schriftstellers Jamal Tuschik, die Geschichte ihres Lebens aufgeschrieben. Es ist die Geschichte der Sonnenseite von 1968, die Geschichte einer Welteroberung, die Geschichte von Glanz und Glamour und Glück, von Elend, Drogen, Selbstsucht und Selbstüberschätzung, von der Liebe der Welt zu einem eitlen Zwillingspaar aus Deutschland. Und von der Liebe dieses Zwillingspaars zu sich selbst.

Der Roman einer Epoche.

Er beginnt mit jener Vision am Strand von Sperlonga, und sofort ist der Leser mittendrin in diesem Rausch aus Glück, Selbstentblößung, Wahnsinn und Esoterik: "Wir sind aufgehoben in der Ewigkeit. Und Ewigkeit, das ist Liebe, Schönheit, Gott. Ewigkeit ist absolute Stille. So trete ich denn vor Gott. Es gibt mich nicht mehr." Ja - diese Erfahrung hat jetzt nicht nur etwas mit dem Meer zu tun und dem Glück in Italien, sondern vor allem mit den chemischen Substanzen, die die Zwillinge da vorher eingeworfen haben. Und man kann sagen, dass Drogen auf den nächsten 380 Seiten ihres Lebens eine gewisse Rolle spielen werden.

Die doppelten Sterntaler

Aber erst mal geht es ab nach Kassel, in die ewige Kleinbürgerwelt der Familie Schmidt. Der Vater hängt dem alten Nazideutschland nach, malt Soldatenbilder aus der alten Zeit und weigert sich, im neuen, gründlich verachteten Staat eine Arbeit anzunehmen. Die Mutter hält heldenhaft Familie und Geld zusammen. Die Zwillinge - lieben sich von Anfang an: "Nach ihren eigenen Begriffen sind die Zwillinge vollendet auf die Welt gekommen . . . ungemein heil . . . als illuminierte Wesen, die wie Kinder bloß aussehen. Die menschlichen Sterntaler brauchen allein sich, nur sich."

Ihr Unglück heißt Kassel, und leider muss sich der Leser die ersten hundert Seiten mit den Zwillingen quälen. Sicher war es lebensdramaturgisch notwendig, eine lange Leidenszeit in einer verachteten Umgebung durchlebt zu haben. Dem Leser hätte man gut die Hälfte davon ersparen dürfen. Vor allem angesichts der unendlichen Erlebnisfülle, die sich im weiteren Verlauf des Buchs zusammendrängt. Aber irgendwann dringt eine Stimme aus einer Drogerie in Kassel ans Ohr. Eine Zauberstimme aus einer anderen Welt. Aus einer Welt, die beide ruft. "Zu der wir gehören, immer schon, wir haben es nur nicht gewusst, aber unsere Sehnsucht nach ihr hat uns genau zu diesem Zeitpunkt an diese Stelle von Kassel, also zur Braunsbergstraße geführt."

Es ist die Stimme von Bob Dylan, die sie da zum ersten Mal im Radio hören. Und es ist der Moment ihrer Erweckung. Und wie die Zwillinge hier einerseits das zufällige Vorbeischlendern an einem Drogeriemarkt mit Radiomusik zu einem schicksalhaften Moment heraufmystifizieren (sie hätten die Stimme Bob Dylans sonst mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in den nächsten Tagen auch an einem anderen Ort hören können); und wie sie dies andererseits so entschlossen als Zeichen deuten und gegen Ende des Buches tatsächlich eines Nachts auf einer Party Bob Dylan treffen, der augenblicklich von beiden verzaubert sein wird - das ist der Irrsinn dieses Buches.

Aber zunächst geht es nach Berlin, das Jahr 1967, das Erlebnis der Befreiung und der Gemeinschaft, Politik und Demonstrationen, erste Gewalt und immer die Sehnsucht nach Liebe und dem Süden, nach einem anderen Leben im Glanz. Die Freiheit wird schnell durch erste Schwangerschaften bedroht. Jutta lässt bei einem brutalen Engelsmacher eine Abtreibung vornehmen. Gisela wird ihr Kind bekommen. Kaum ist es da, gibt sie es bei ihren Eltern in Kassel ab und zieht weiter über die Schweiz nach Italien. Sie gibt es ab bei jenen Eltern, die die Zwillinge zuvor immer wieder als Nazis beschimpft und dem Vater mit dem Hinweis "ihr habt Millionen Juden vergast, von dir lasse ich mir überhaupt nichts sagen" jedes Erziehungsrecht abgesprochen haben. Jetzt überlässt man ihnen den frischen Säugling wie eine ausgespuckte Erbse. Sie haben schließlich eine Mission: "Wir müssen Verantwortung übernehmen und anderen zu erkennen helfen, wer sie in Wirklichkeit sind", heißt es nur wenige Seiten später.

Und natürlich ist das eine Bruchstelle im Buch und in den zwei Leben, die es beschreibt. Denn was soll das für eine lächerliche Weltverantwortung sein, die am Strand liegt, Drogen nimmt, von Welteinheit träumt und dabei das eigene Kind als lästigen Freiheitsräuber aus dem selbstbestimmten Leben schiebt? Wer die Welt erobern will, kann sich nicht mit Säuglingen aufhalten. Die Zwillinge schreiben das auf, ohne sich selbst zu schonen.

Und der Flug durch das All der Selbstverwirklichung geht jetzt erst richtig los. Sie fahren nach Rom, und alles scheint auf wundersame Weise von selbst zu gehen. Federico Fellini sucht Schauspielerinnen für einen neuen Film? Aus Tausenden werden die beiden auserwählt. Fellinis Assistent versucht verzweifelt, den Zwillingen aus Deutschland die Augen für das unfassbare Glück zu öffnen, das es bedeutet, von Fellini ausgewählt zu werden. Ihr Kommentar: "Er ahnt nicht, dass wir gerade in Spelonga von Gott auserwählt worden sind. Warum dann nicht von Fellini?"

So geht es weiter, von Glück zu Glück. Man liest immer weiter und fasst es nicht. Es ist wie ein Zaubermärchen aus den Jahren nach 1968, die Zwillinge treffen die Stars der Welt, die sie magisch anzuziehen scheinen. Der Multimillionärsenkel Paul Getty III tritt auf und verliebt sich in Gisela. Die beiden heiraten, Jutta lässt die Schwester gewähren, unter der Bedingung, dass sie dafür später Bob Dylan bekommt. Dylan bleibt das Licht in der Ferne, das große Ziel.

Hopper mit Gewehr

Weiter also, nach Amerika. Auf einer Party treffen sie Dennis Hopper, und die Liebesszenen mit ihm gehören in diesem an Abgründen reichen Buch zu den abgründigsten. Von drei nackten Frauen umgeben, verliert er beinahe den Verstand, brüllt Verwünschungen und Mordphantasien heraus. "Holt mir mein Maschinengewehr, na los, macht schon!", was Gisela sogleich erledigt. Und Hopper bricht heulend zusammen: "Du bleibst immer cool, nichts berührt dich. Du und deine Schwester, ihr denkt, ihr seid was ganz Besonderes", schreit er das Kasseler Mädchen an. Und trifft damit ins Herz. Die Kälte der totalen Selbstliebe, die sich nur in der Schwester spiegeln kann, ist eines der Dramen dieses Buches. Von allen geliebt zu werden und doch selbst nicht lieben zu können, ist die Hölle, die dieser doppelte Lebensroman beschreibt

Und schließlich endlich: Dylan. Eine Nacht, eine Party, ein Pool: "Bobs Interesse an mir ist so unmittelbar wie mein Interesse an ihm. Wir versenken uns ineinander - und ich habe die erregende Empfindung, Jakobs Leiter hinaufzusteigen, Sprosse für Sprosse immer weiter und höher, bis ich das Leben ungeteilt sehen kann . . ." Die Vision vom Strand von Sperlonga, die Zauberstimme aus der Drogerie - alles wird wahr. Alles erfüllt sich. Aber wie? "Meine Hand nähert sich seinem Gesicht - das sehe ich selbst mit Erstaunen - und berührt kurz seinen Schmetterlingsmund. Plötzlich ist Dylans Stimme ganz nah: ,Ihr seid natürlich Nazis.'" Sagt er. Die Stimme. Die Sehnsuchtsstimme. Was für ein Schock! Nein, nein, beeilt sich Jutta zu erklären. "Tochter Hitlers" erklärt sie. Andere Generation, unsere Eltern, die Alten, doch nicht wir! "Ich spüre meine Hand, gehalten von einem jüdischen Sänger. Ich schwitze und meine Zähne schlagen jetzt hörbar auf. ,Hörst du? Ich kann nichts dafür.'" Doch Dylan bleibt dabei: "You have to be anti-semite", beharrt er. Und Jutta: ",Yeah, I have to be . . .', stammle ich. Es ist ungeheuerlich. Ich kann nicht antworten. Wie ein Blitz fährt es in mich. Haben wir aus dem Hass der Eltern gelernt und sind wir wirklich bessere Menschen? Plötzlich friere ich und werde unsicher. Dylan ergreift meine Hand: ,No fear. You get through that. With me. I've seen something deeper.'"

Doch sie werden da nicht gemeinsam hindurchgehen. Es bleibt das einzige Treffen mit dem so lang Verehrten. Der Rausch vergeht. Die Sonnenzwillinge der 68er-Generation sind von Glück zu Glück gerast, von Liebe zu Liebe, die "einsetzende Depression einer ekstatischen Generation" steht am Ende des Buches. Und ein Rat des Kommunarden Rainer Langhans, den sie verehrten wie Bob Dylan und zu dessen "Harem" sie heute noch gehören: "Erzähl dir deine Geschichte, bis sie schön ist, bis du die Handelnde bist, die alles genauso wollte, wie es geschehen ist. Dann ist es eine gute Geschichte." Den Rat haben sie befolgt.

VOLKER WEIDERMANN

Gisela Getty, Jutta Winkelmann, Jamal Tuschik: "Die Zwillinge oder Vom Versuch Geist und Geld zu küssen". Weissbooks 2008, 385 Seiten, 22 Euro

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ungern gelesen, genussvoll verissen: Rainer Moritz hatte wenig Vergnügen mit der Autobiografie der Zwillinge Gisela Getty und Jutta Winkelmann. Zu viel Selbstbeweihräucherung betreiben ihm die Schwestern in den Erinnerungen an ihre "wilden" 68er-Zeiten und dokumentieren damit unfreiwillig ihren "verblendeten Narzissmus", so Moritz. Selbstironie oder Selbstkritik konnte der Rezensent zu seinem Bedauern in diesem "eitlen, selbstgefälligen" Buch nicht finden. Das erzählerische Konstrukt des Buches sorgt ebenfalls für Unmut: Die dialogischen Passagen der Schwestern drehten sich im Kreis und der Außenperspektive von Co-Autor Tuschick fehle es an Distanz, so der Rezensent. Wo sich die Lieblingsvokabeln "mythisch" und "mystisch" häufen, gleiten die Erinnerungen für Rainer Moritz in den "sauren Kitsch" ab.

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