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Die Entdeckung Amerikas fällt in das Jahr 1890 - das heißt: in diesem Jahr beginnt eine Generation europäischer Intellektueller zu bemerken, daß Europa nicht mehr der Mittelpunkt der Weltgeschichte ist. Es ist zugleich der Zeitpunkt, zu dem der Alte Kontinent, ermüdet von den sozialen und kulturellen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts, der bürgerlichen Kultur und ihrer Trägerschicht, dem Bürgertum, den Totenschein ausstellt. »Kulturuntergangsstimmung« macht sich breit: Es beginnt ein tiefgreifender Wandel des europäischen Selbstverständnisses. Die bange Frage nach der Zukunft Europas…mehr

Produktbeschreibung
Die Entdeckung Amerikas fällt in das Jahr 1890 - das heißt: in diesem Jahr beginnt eine Generation europäischer Intellektueller zu bemerken, daß Europa nicht mehr der Mittelpunkt der Weltgeschichte ist. Es ist zugleich der Zeitpunkt, zu dem der Alte Kontinent, ermüdet von den sozialen und kulturellen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts, der bürgerlichen Kultur und ihrer Trägerschicht, dem Bürgertum, den Totenschein ausstellt. »Kulturuntergangsstimmung« macht sich breit: Es beginnt ein tiefgreifender Wandel des europäischen Selbstverständnisses. Die bange Frage nach der Zukunft Europas angesichts der weltpolitischen Bedeutung der Vereinigten Staaten wie auch das geschichtsphilosophisch motivierte Krisenbewußtsein sind zwei Seiten derselben Medaille. Deshalb ist die »Entdeckung« Amerikas eine »Erfindung«. Die Frage lautet nicht, was und wie Amerika ist, sondern was es für Europa bedeutet. Das geschichtsphilosophisch motivierte Interesse schließt konkrete Landeskunde geradezu aus. Amerika wird zum Thema, indem man es erfindet - und zugleich verdrängt.
Autorenporträt
Georg Kamphausen, geb. 1955, akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Politische Soziologie und Geschäftsführer der Amerika-Forschungsstelle an der Universität Bayreuth, studierte Soziologie und Geschichte an den Universitäten Freiburg, Bielefeld und Tübingen. Seit 2007 apl. Professor für Historische Soziologie. Arbeitsschwerpunkte: Kultur- und Religionssoziologie, politische Ideengeschichte, Amerikastudien. Professor für Politische Soziologie in Bayreuth.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Berlins Dynamik als Vorbild Chicagos
Georg Kamphausen läßt metaphysische Blicke über Amerika kreisen / Von Paul Nolte

Die deutsch-amerikanische Krise hinter den Beschwörungsformeln von der "uneingeschränkten Solidarität" geht nicht in dieser oder jener diplomatischen Verstimmung auf, sondern gründet in einer mentalen Entfremdung, in einer kulturellen Distanz, die in letzter Zeit spürbar gewachsen ist - aller "Amerikanisierung" des europäischen Alltagslebens zum Trotz. Vor etwa hundert Jahren war das ganz anders: Deutschland und Amerika erschienen damals vielen Zeitgenossen als kongeniale Nationen, welche mit ihren gewaltigen technologischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Ressourcen die übrige Welt auf dem Weg in die Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts anführen würden. Wie verschieden auch die politische Verfassung der amerikanischen Republik und des wilhelminischen Kaiserreiches sein mochten, schienen die Entwicklungspfade beider Länder doch in naher Zukunft zu konvergieren; unmöglich zu sagen, ob die Dynamik Berlins das Vorbild Chicagos war oder umgekehrt.

War es vor hundert Jahren wirklich anders? Georg Kamphausen untersucht die Wahrnehmungen und Projektionen "Amerikas" bei deutschen und europäischen Intellektuellen in den drei bis vier Jahrzehnten um 1900, in einer Zeit also, in der die harte Wirklichkeit der technisch-industriellen Moderne kulturell und wissenschaftlich umfassend zu deuten versucht wurde und sich daraus komplizierte Überlagerungen von Fortschrittseuphorie und Fortschrittsskepsis, von naivem Progressismus und fin de siècle-Fatalismus ergaben.

Seine Studie liegt damit auf dem Schnittpunkt verschiedener neuer Interessen der historischen und kulturwissenschaftlichen Forschung. Sie greift Versuche auf, moderne Intellektuellengeschichte als Geschichte sozialer Ordnungsentwürfe in Zeiten kultureller Verunsicherung zu schreiben. Sie knüpft an die Aufwertung der vorletzten Jahrhundertwende zu einer Schlüsselphase der Moderne an, in der, pointiert gesagt, um die kulturellen Konsequenzen des Kapitalismus gerungen wurde. Sie setzt Bemühungen fort, die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht so sehr aus Klassenkonflikten, sondern aus der Überlagerung politisch-kultureller Generationen zu deuten. Und sie reiht sich in neuere Vergleichs- und Beziehungsgeschichten Deutschlands und Amerikas ein: in letzter Zeit ein erfreulich gewachsenes Genre der historischen Forschung.

Die Antwort des Autors auf die Frage nach kultureller Aneignung und Distanz ist skeptisch, ja ernüchternd: Amerika ist von den deutschen Intellektuellen und Sozialwissenschaftlern nie wirklich "entdeckt", sondern immer nur "erfunden" worden. Die Bilder Amerikas blieben eine Spiegelung des europäischen Selbst. Das Buch des Bayreuther Kultur- und Religionssoziologen versteht sich jedoch nicht als eine empirische Bestandsaufnahme deutscher Amerikabeobachtung, sondern benutzt das europäische Amerikabild (französische, italienische, englische Intellektuelle werden häufig einbezogen) als eine Folie zur Verdeutlichung einer generationsspezifischen Modernitätskritik.

Die erste Hälfte des Buches analysiert deren Rahmenbedingungen in der Umbruchzeit des späten neunzehnten Jahrhunderts und der durch sie geprägten, ja hervorgebrachten Generation von Intellektuellen. Aber auch die "Generation von 1890", die einen Angelpunkt des Buches bildet, ist nicht empirisch-soziographisch gemeint; es geht Kamphausen nicht um Geburtsjahrgänge oder kollektive Sozialisationserfahrungen, sondern um einen vor allem pessimistisch-kulturkritischen Diskurs der Jahrhundertwende, der sich mit dem Bogen von Nietzsche über Max Weber bis zu Carl Schmitt beschreiben läßt.

Das Verhältnis Max Webers zu Amerika bildet den Hauptgegenstand der zweiten Hälfte des Buches: mit Webers bereits vieldiskutiertem Amerikaaufenthalt im Herbst 1904 anläßlich der Weltausstellung von St. Louis als Ausgangspunkt. Wiederum interessiert den Autor aber nicht das Itinerar Webers, seine persönlichen Begegnungen oder bibliothekarischen Lesefrüchte, sondern die Amerikadeutung in den gleichzeitig entstehenden religionssoziologischen Arbeiten, vor allem der Studie zu Protestantischer Ethik und "Geist" des Kapitalismus. In der Religionssoziologie spiegelt sich damit die Ambiguität einer in der Säkularisierung befreiten und zugleich gefangenen Moderne.

Kamphausen räumt verschiedentlich ein, daß Max Weber trotz seiner nietzscheanischen Hälfte, auf die seit Wilhelm Hennis immer wieder verwiesen worden ist, nicht ganz der ideale Gewährsmann für diese Art der Modernitätskritik sei; dafür war Weber zu liberal, zu neugierig, zu wenig metaphysisch. Der geheime archimedische Punkt des Autors besteht vielmehr darin, die Erfahrungen der Jahrhundertwende durch den Filter konservativer, auch: konservativ-katholischer Kultur- und Gesellschaftstheorie der 1920er und 1930er Jahre zu lesen - und nicht im Lichte des liberalen Kulturprotestantismus. Jenseits der "Entzauberung" entsteht damit eine "Bewertung der Neuzeit", so Kamphausen, "die noch in ihren radikalsten Säkularisaten eine theologisch und metaphysisch zu deutende Epoche bleibt". Damit wird Carl Schmitt zur eigentlichen Hauptfigur des Buches. Er wird gewissermaßen in die "Generation von 1890" eingeschmuggelt, deren Vertreter geradezu als früheste Schmittianer erscheinen. Dieses Vorgehen ist aufschlußreich, aber methodisch - ganz egal, was man von Schmitts Zeitdiagnosen hält - durchaus problematisch.

In der Konsequenz dieser Lektüre von Zeitdiagnosen um 1900 erscheinen die deutschen und europäischen Intellektuellen romantischer, realitätsferner, gesellschaftsblinder, als sie es tatsächlich oft waren. Das hochentwickelte wechselseitige Interesse Deutschlands und Amerikas an praktischen Problemen der Sozialwissenschaft, ja der Sozialpolitik und Sozialreform, das neuerdings wieder viel Beachtung findet, kommt bei Kamphausen nicht vor. Seine Deutung macht den atlantischen Graben tiefer, als er vor hundert Jahren gewesen ist. Schließlich gab es auch in Amerika nicht nur praktische Sozialpolitik und pragmatische Sozialwissenschaft der Jane Addams und John Dewey, sondern kulturkritische, modernitätsskeptische Positionen, die im Dialog mit denen Europas waren.

Das Buch fängt sich damit in einer merkwürdigen Ambivalenz. Einerseits kritisiert es den deutsch-europäischen Rückzug aus der Entdeckung in die Erfindung, aus der realistisch-empirischen in die philosophisch-kulturkritische Zeitdiagnose. Andererseits bestätigt es diesen Weg auf melancholische Art und Weise: Nicht nur um 1900 ließ sich der europäische Horizont nicht wirklich durchbrechen; die "Erfindung" Amerikas, so lautet die Schlußthese, ist bis heute durch "Entdeckungen" wahrscheinlich nicht zu korrigieren. Das wäre eine probate Erklärung für die gegenwärtigen Probleme im europäisch-amerikanischen Verhältnis - aber vielleicht muß man sich mit ihr nicht zufriedengeben.

Georg Kamphausen: "Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890". Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2002. 324 S., geb., 40,- .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2002

Kennst du das Land, wo die Pistolen glühn?
Antiamerikanismus für Fortgeschrittene: Georg Kamphausen zielt auf das Unverständnis der Deutschen für die Neue Welt – und Max Weber liefert die Munition
„Die Erfindung Amerikas” spielt vor rund hundert Jahren, doch immer noch verstehen wir, was Harry Graf Kessler meinte, als er von der Fremdartigkeit der amerikanischen Kultur sprach, dieser von Europa „abgetriebenen” Zivilisation, deren Sinn der Alten Welt verschlossen bleibe. Die Missverständnisse zwischen Amerika und Europa sind fundiert. Ihnen geht der politische Soziologe Georg Kamphausen auf den Grund. Seine weit ausgreifende Studie – Kultursoziologie und Ideengeschichte in einem – ist allen ans Herz zu legen, die über „Amerika” eine Meinung haben. Kamphausens ideenreiches Buch ist ein gutes Mittel gegen die immergleichen Amerika- Diskussionen, die seit hundert Jahren dieselben Kerben traktieren, weil die Disputanten nicht in der Lage sind, die eigene Ansicht als kulturgeschichtliches Symptom zu begreifen.
Die Welt ist eine andere geworden. Aber Europas Bild von Amerika hat sich seit dem späten 19. Jahrhundert wenig geändert. Immer noch ist es üblich, in der amerikanischen Gegenwart die europäische Zukunft zu erblicken – ob in freudiger Erwartung oder mit resignativem Unmut. Allerdings gab es vor hundert Jahren noch Beobachter, die nicht mit der Amerikanisierung der Welt, sondern mit einer Europäisierung der Vereinigten Staaten rechneten. So dachte auch Max Weber – zu Beginn des Jahrhunderts und bevor er dem wilhelminischen Machtstaat den historischen Auftrag zusprach, das Abendland gegen die moderne Unkultur zu verteidigen.
Webers Bekenntnis zum Wilhelminismus war so verfehlt wie seine Kulturkritik: Er hatte die Durchsetzungsfähigkeit des American way of life und seiner Wirtschaftsverfassung unterschätzt. Anstatt der Refeudalisierung anheimzufallen, halfen die Vereinigten Staaten den Kapitalismus über die ganze Welt zu bringen. Seitdem ist er salonfähig, um nicht zu sagen handbuchfähig geworden. Kamphausen zitiert eine zeitgenössische Warnung: ein Eintrag über „Kapitalismus” habe in einem seriösen Wörterbuch der Staatswissenschaften nichts verloren: Das sei eigentlich kein wissenschaftlicher Begriff, sondern ein politisches Schlagwort und gehöre mithin nicht in ein wissenschaftliches Nachschlagewerk.
Davon kann heute keine Rede mehr sein. Eher schon ist heutzutage zu bezweifeln, ob das politische Schlagwort „Antiamerikanismus” über die polemische Absicht hinaus irgendeinen Sinn hat. Nach dem 11. September gab Präsident Bush eine einfache Devise aus: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. ” Das hat sich herumgesprochen. „Im Krieg gegen den Terror”, schreibt der britische Journalist Hugo Young, gebe es jetzt einen „Loyalitäts-Test: ist man pro- oder antiamerikanisch?”, dem jeder Kommentar über die US-Außenpolitik unterworfen werde: Wer sich nicht auf die Seite der Vereinigten Staaten schlägt, gilt als antiamerikanisch. Kritik an den gegenwärtigen martialischen Extravaganzen der US-Außenpolitik wird als antiamerikanisch abgetan. Europäische Amerika-Freunde tun sich darin besonders hervor.
Außenpolitische Extravaganzen
Das mächtigste Land der Welt, das in den vergangenen Jahren im nationalen Kreis mal mehr, mal weniger zurückhaltend erörterte, ob sein globaler Führungsstil als „pax americana”, als „empire” oder als „freundliche Hegemonie” zu beschreiben sei, benötigt die eifrige Verteidigung aber gar nicht. Wer konkurrenzlos mächtig ist und in der eigenen Vorstellungswelt allenfalls einem Gott untertan, der erträgt fremde Kritik ganz gut, weil er weiß, wie bedeutungslos sie ist.
Wenn Europa die USA kritisiert, dann kommt das in Washington als das durchaus verständliche Aufbegehren von Untergeordneten an, sofern es nicht gleich als Beleg dafür aufgefasst wird, wie sehr die europäischen Staaten machtpolitisch aus der Übung sind. Aus der Perspektive des amerikanischen nationalen Interesses ist der politisch motivierte Antiamerikanismus auf Seiten der potentiellen Verbündeten eine Verirrung, wenn nicht ein Irrtum - eigentlich gibt es ihn nicht. Es gibt nur Unwissende, Uneingeweihte und globalpolitisch Unbedarfte.
Sofern es den Antiamerikanismus aber doch gibt, hat er etwas mit Kulturauffassungen zu tun. Von diesem Antiamerikanismus schreibt Kamphausen, er sei „meist verdeckt”, „mit einer schrillen Amerikakritik” müsse er „gar nicht identisch” sein. In Deutschland, England und Frankreich ist er fast ubiquitär. Kamphausen zufolge dient er den Europäern nämlich dazu, sich von der Moderne eine Vorstellung zu machen: „Zustimmung und Kritik an der Moderne haben einen Erfüllungsort und eine Wunschzeit: Amerika.” Wenn die Reise nach Amerika ging, wurde deshalb auch nicht so genau hingeschaut: Selbst die klügsten Beobachter gaben sich mit dem Detail gar nicht erst ab, sonst hätten sie womöglich davon ablassen müssen, die Diskussion über Amerika mit der Diskussion über die Moderne in eins zu setzen.
Ein wilhelminischer Kugelschreiberexporteur, der sich keine Gedanken über „Amerika” machte, dürfte die Vereinigten Staaten wirklichkeitsnäher eingeschätzt haben als die deutschen Kulturexperten. Aber mit solchen Leuten hält Kamphausen sich nicht auf. Was die weniger gelehrten Europäer von den USA hielten, erfährt man in Alexander Schmidts Studie „Reisen in die Moderne” (1997). Kamphausen interessiert sich für die hohe Theorie.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten Intellektuelle an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen. Es herrschte Sehnsucht nach Sinnstiftung. Und wer die Lücke zu füllen versprach, der fand Gehör. So begründet Kamphausen seine Entscheidung, die Amerika-Theoreme der Intellektuellen zu den maßgeblichen zu erheben. Sodann erklärt er den „historischen Kulturvergleich” zur unabdingbaren Voraussetzung der Zeitdiagnose, und auf dem Rücken dieser Bemerkung befördert er die deutsche Soziologie – Troeltsch, Tönnies, Sombart, Mannheim – ins Zentrum seiner Studie. Carl Schmitt und Arnold Gehlen dürfen des öfteren die Lampe halten, was etwas wunder nimmt und eine Frage der intellektuellen Neigung zu sein scheint. Seinen Protagonisten, den Helden des Verfahrens, hat Kamphausen besser ausgesucht. Es ist Max Weber, der die tragische Seite der Moderne, den Prozess von Säkularisierung und Rationalisierung, mit dem Zauberwort „Entzauberung” umschrieb. Kamphausens Versuch, diese Zuspitzung der Untersuchung als notwendig darzustellen, ist etwas gewagt, muss den Leser aber nicht ins Stolpern bringen – in derlei Fragen geht es in der Ideengeschichte sportlicher zu als in der Sozial- oder Politikgeschichte.
Die Soziologen, mit denen Kamphausen sich vornehmlich auseinandersetzt, nennt er die „Generation von 1890”, begründet dies aber nicht mit dem Anbruch des wilhelminischen Zeitalters, dessen Namensgeber 1888 den Thron bestieg, sondern mit der Bedeutung, die dem Konzept „Generation” damals zukam. Da die traditionalen Bindungen zu vergehen schienen, wurde statt ihrer die Gleichzeitigkeit der Lebenserfahrung als neue, die Menschen sinnvoll verbindende Kategorie hochgespielt. Folglich wurde über den Begriff der „Generation” damals viel nachgedacht.
„Ich möchte zeigen”, schreibt Kamphausen, „welchen besonderen Einfluss die Diskussion über die ,amerikanische Moderne‘ für die Herausbildung und das Selbstverständnis der ,Generation von 1890‘, auf die Konstituierung der Intellektuellen selbst, die Entwicklung ihres ,Denkstils‘, aber auch für die Geschichte der Soziologie als Kulturwissenschaft insbesondere in Deutschland hatte.” Außerdem erklärt er, wie es kam, dass viele verständige Menschen, ehedem friedfertige Wissenschaftler und reife Gelehrte, den Ersten Weltkrieg freudig begrüßten.
Rückblickend frappiert das fin de siècle durch die Gleichzeitigkeit von großer Klarsicht in der Zeitdiagnose und dunkel-monströsen Schlüssen, die daraus gezogen wurden. Die daraus sich ergebenden Abstrusitäten wurden indes als Radikalität des Denkens wahrgenommen und geschätzt: Wo Inhalte abgewirtschaftet haben, da müssen die Begriffe grell sein, sie mussten, mit Kamphausens Worten, „weltanschaulich radikalisiert werden”, um ein Publikum zu finden. Und das Publikum sei in jener Zeit, die absolute Werte schmerzlich vermisste, die entscheidende Instanz gewesen, wenn es um die Beurteilung von Ideen ging. „Ohne nachhaltigen Widerspruch”, so Kamphausen, „können ehemals leitende Kulturwerte wie Individualismus, Liberalismus und Rationalismus zu Negativchiffren umgepolt und Wortschöpfungen wie Intellektualismus, Historismus und Bildungsbürgertum pejorativ auf das untergegangene bürgerliche Jahrhundert gemünzt werden.”
Europäische Tristesse
Mythen, so lautet eine berühmte These des zeitgenössischen Linguisten Friedrich Max Müller, entstünden aus einer „Krankheit der Sprache”. „Die Erfindung Amerikas” legt nahe, ähnliches vom Ersten Weltkrieg zu sagen und die bei vielen Intellektuellen anzutreffende kriegsfrohe Gestimmtheit als das Produkt einer Begriffskrankheit zu bezeichnen, an der die wilhelminische Gesellschaft litt – und die auch den klaren Blick auf die Vereinigten Staaten trübte. Der Unterschied zwischen „Kultur” und „Zivilisation”, zwischen „Gesellschaft” und „Gemeinschaft” beschäftigte die Deutschen so sehr, dass sie für die tatsächlichen amerikanischen Verhältnisse kein Interesse mehr aufbrachten.
So erging es auch Max Weber, der 1904 nach Amerika reiste. Dort suchte er nicht nur die Bestätigung für seine These von der Beziehung zwischen protestantischer Ethik und Kapitalismus, obendrein benötigte er die USA als Gegenmodell zu den Verhältnissen auf den ostelbischen Ländereien, wo feudale Lebensformen die Demokratisierung ganz Deutschlands behinderten. Und weil Max Weber den Kopf so voll hatte, habe er übersehen, was für Kamphausen einen entscheidenden Unterschied zwischen den Gesellschaften dies- und jenseits des Atlantiks ausmacht: Den Umstand, dass vielfältige Glaubensrichtungen friedlich nebeneinander und unabhängig vom Staat existieren. Kamphausen hält das für sehr wichtig: Da liege die Schwelle, über die Europas Intellektuelle nie hinweggekommen seien. Sofern Amerika die Wirklichkeit gewordene Moderne war, musste es für sie ganz säkularisiert sein.
Das Überleben zahlreicher religiöser Richtungen können Europas Modernisierungstheoretiker nicht verwinden. Aus Treue zur Theorie übersehen sie, dass nicht Amerika die Ausnahme ist, sondern dass vielmehr sie selbst, sie samt ihrer Idee von Säkularisierung, eine Anomalie darstellen. Diese Beobachtung – die Kamphausen nicht für sich reklamiert – erklärt auch, warum die europäische Kulturkritik Amerikas so trist ist: Die Idee von der Entzauberung der Welt ist nämlich traurig; mit ihrem nüchtern-asketischen Verzicht auf Mythen und den Glauben haben die europäischen Intellektuellen sich selbst in die Wüste geschickt. Amerikas religiöse patchwork-Verfassung hingegen verleihe dem Land eine Vitalität, die europäische Kulturkritiker als Amerikas „Beitrag zur Moderne” nicht anerkennen könnten. „Die verbreitete europäische Klage über die amerikanische Ungeistigkeit und Unkultur” gründet laut Kamphausen „zumeist in einer Kritik des glücklichen Bewusstseins”. Amerikas „Optimismus, Pragmatismus, the pursuit of happiness und das Vertrauen in den menschlichen Fortschritt” seien für das europäische Empfinden die reine Provokation. Daher der europäische Antiamerikanismus.
Missionarische Großmacht
Er besteht bis heute. Und auch die „Verbindung von Religion und Politik”, die für die USA so charakteristisch ist, sei immer noch „im religiös-missionarischen Grundcharakter des politischen Denkens” Amerikas zu beobachten. Dabei lässt Kamphausen es bewenden.
Eine Ergänzung ist anzufügen: Die religiöse Färbung der Politik hat auch der britische Historiker Eric Hobsbawm beschrieben. Hobsbawm hat von dem „apokalyptischen Ton” des Alles oder Nichts gesprochen, den die USA in den Kalten Krieg einführten. Die Vereinigten Staaten, sagte Hobsbawm, seien „eine revolutionäre Macht”, die sich – im Unterschied zu vielen anderen Weltreichen – „auf eine gewisse Weise der Veränderung der Welt verschrieben hat”. Demokratie und Marktwirtschaft, oder was die USA darunter verstehen, machen das Credo des amerikanischen Missionsgedankens aus. Es hat also die amerikanische Kulturhegemonie eine politische Dimension. Und der kulturelle Antiamerikanismus, dem Europa nicht entkommen kann, ist am Ende zu allem auch noch politisch.
FRANZISKAAUGSTEIN
GEORG KAMPHAUSEN: Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2002. 324 S., 40 Euro.
Die „frontier”, Grenze der amerikanischen Zivilisation, rückte in immer weitere Ferne und bis in den Himmel hinein. Apollo 11 fliegt zum Mond, Cape Kennedy, Florida 1969.
Foto: Garry
Winogrand
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Offensichtlich mit großem Gewinn hat Kersten Knipp Kamphausens Studie zur "Erfindung Amerikas" gelesen. Schließlich habe sich die "Generation 1890" zum ersten Mal die Frage stellen müssen, woher die USA ihre gewaltige Dynamik bezog, während die europäischen Kräfte mehr und mehr zum Stillstand kamen. Ihre Antwort respektive ihre Rechtfertigung war: Amerika sei das Land des Handelns, nicht der Reflexion. Damit haben die deutschen Intellektuellen um die Jahrhundertwende, so Knipp, den Grundstein für das negative Amerika-Bild gelegt, den deutschen Tiefsinn gegen amerikanische Oberflächlichkeit in Stellung gebracht. "Ein ganzes Heer ebenso arroganter wie ignoranter Intellektueller schuf ein Amerikabild, das wenig mit der Wirklichkeit, dafür umso mehr mit den eigenen Interessen zu tun hatte", schreibt der Rezensent. Werner Sombart etwa sah in Amerika "alles ist mit kapitalistischem Öl gesalbt". Dieses Denken war immer strategisch und damit frei von der Wirklichkeit, schließt Knipp: "Dass es bis heute kaum anders ist - eben das macht Kamphausens wunderbaren Text auch zu einer hochaktuellen Analyse der Gegenwart."

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