Produktdetails
  • Verlag: b-books
  • Seitenzahl: 224
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 300g
  • ISBN-13: 9783933557131
  • ISBN-10: 3933557135
  • Artikelnr.: 09007954
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Hochaktuell erscheint Rüdiger Rossig dieser Interviewband mit Exiljugoslawen, die sich alle mehr oder weniger dem linken Spektrum zurechnen. In den Gesprächen geht es laut Rossig vor allem um die Frage, wie Jugoslawien sich in den vergangenen vierzig Jahren von einer multikulturellen Nation zu dem "ethnonationalen Hexenkessel" von heute entwickeln konnte. Dabei werde die weltoffene Atmosphäre der 60er Jahre wieder fühlbar, so der Rezensent. Später hätten jedoch die kommunistischen Machthaber zwecks Ausschaltung der Opposition die Bevölkerung in Nationalitäten aufgesplittet - ein Umstand, den sich die von der Funktionärskaste instrumentalisierten Nationalbewegungen zunutze gemacht habe. Insgesamt beschleicht Rossig der Verdacht, dass der Ethnonationalismus Jugoslawiens gar keine so antagonistische Entwicklung im europäischen Kontext darstellt, sondern vielmehr eine weitere postmoderne Variante des Populismus à la Haider, Le Pen oder Berlusconi bedeutet und uns Westeuropäern damit viel näher ist als allgemein vermutet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2001

Die Praxis des Turbo-Folks
Katja Diefenbach fragt nach dem jugoslawischen Alltag

"Die Texte", schreibt die Autorin Katja Diefenbach einleitend, "sind dem Gedanken verbunden, daß die Analyse mit der Beobachtung des Kleinen und das Begreifen mit der Verbindung differenter Linien des Geschichtlichen, Politischen, Sexuellen, Ökonomischen und Begehrenden beginnt." Auf den ersten Blick mag diese Herangehensweise erstaunlich wirken, immerhin behandelt das Buch "belgrad interviews" mit den Balkankriegen und der Genese des serbischen Nationalismus eines der zentralen Probleme der jüngeren europäischen Geschichte. Doch die Lektüre zeigt schnell, wie sinnvoll es sein kann, der großen Politik im mikropolitischen Raum nachzuspüren - gerade dann, wenn man verstehen will, was heute im ehemaligen Jugoslawien passiert, ein halbes Jahr nach dem Sturz des Milosevic-Regimes.

Daß sich Diefenbach, die als Dozentin an der Berliner HdK tätig ist, im Umfeld popkultureller Debatten bewegt, ist dem Buch deutlich anzumerken. "belgrad interviews" ist ein Sampler aus Essays, Interviews, Reportagen und Fotomaterial, der Fragmente zur Kritik der postjugoslawischen Realität zusammenträgt. Das Interesse Diefenbachs (und der Fotografin Katja Eydel) gilt dabei allerdings weniger den politischen Größen der Anti-Milosevic-Bewegung, die inzwischen in Regierungsämter vorgerückt sind, sondern der städtischen und kulturellen Opposition: etwa den Machern der "Underground"-Projekte Radio B-92 und Cinema Rex, die schon während des ersten Balkankriegs für nationalismuskritische Jugendliche zum wichtigen Referenzpunkt wurden, der Historikerin Dubravka Stojanovic oder der Kunsttheoretikerin Bojana Pejic. Mit ihnen diskutiert Diefenbach über ein Kräftefeld, dessen Eckpunkte die soziale Krise Jugoslawiens Mitte der achtziger Jahre, die dissidenten Kulturbewegungen um die Neue Slowenische Kunst - aus deren Reihen u. a. die umstrittene Musikgruppe Laibach hervorging - und die von Milosevic betriebene nationale Erweckungsmythologie darstellen.

Vor allem Bojana Pejic zeigt die Verbindungen zwischen diesen Entwicklungen auf. Sie geht davon aus, daß Milosevic die serbisch-chauvinistische "Wiederentdeckung" des Amselfelds Ende der achtziger Jahre als Instrument begriff, um die jugoslawische Krise zu seinen Gunsten zu wenden. Vor dem Hintergrund, daß das titoistische Projekt an einem Endpunkt angelangt war, formierte sich um den Funktionär eine neue Elite, die ihr nationalistisches Programm massenwirksam zu inszenieren verstand und damit neue (pop-)kulturelle Trends in Bewegung setzte. Eine These, die Dubravka Stojanovic für den Bereich Literatur konkretisiert. Ihr zufolge wurden die großen serbischen Massenmobilisierungen von der Renaissance einer antimodernistisch gefärbten Nationalliteratur begleitet.

Noch deutlicher wird das Zusammenwirken von politischem Nationalismus und kulturellem Diskurs im sogenannten "Turbo-Folk", einer in Serbien äußerst erfolgreichen Musikrichtung. "Anfang der 90er", schreibt Diefenbach, "wurde Oriental mit serbischen Lyrics populär. Die Musik wurde zum Soundtrack einer nationalistischen Subkultur. Eine der bekanntesten Sängerinnen ist Ceca Velickovic, die Frau von Zeljko Raznatovic", dem inzwischen toten Anführer der rechtsextremen "Serbischen Freiwilligengarde". Daß der Paramilitär Raznatovic alias "Arkan" zudem auch Präsident der Fußballmannschaft Obilic Belgrad wurde und diese 1997 zur jugoslawischen Meisterschaft führte, ist ein weiterer Hinweis, wie sich politische und popkulturelle Phänomene miteinander verknüpften.

Es ist ein Verdienst des Bandes, diese Entwicklung einer deutschsprachigen Leserschaft nachvollziehbar zu machen. Ebenfalls interessant sind die Reflexionen Diefenbachs über die jugoslawische "Praxis"-Gruppe. Aus diesem Diskussionszusammenhang entstand in den sechziger und siebziger Jahren der sogenannte "schöpferische Marxismus", der zu einem Referenzpunkt für so unterschiedliche Theoretiker der "Neuen Linken" wie Agnes Heller, Iring Fetscher, Ernst Bloch, Herbert Marcuse oder Jürgen Habermas wurde. Auch hier spart die Autorin trotz deutlicher Sympathie nicht mit kritischen Beobachtungen, etwa mit dem Hinweis, daß zahlreiche exponierte Mitglieder dieser unter Tito als "Linksabweichler" bezeichneten Gruppe Mitte der achtziger Jahre mit dem serbischen Nationalismus zu sympathisieren begannen - etwa Mihajlo Markovic, Svetozar Stojanovic oder Ljubomir Tadic.

Wenn es gegen "belgrad interviews" etwas einzuwenden gibt, dann ist es die Tatsache, daß die von Diefenbach gewählten Gesprächspartner keinesfalls als repräsentativ für die jugoslawische Gesellschaft gelten können. Doch auch das ist vom Ansatz der Autorin her betrachtet durchaus konsequent. Poststrukturalistische Theoretiker haben stichhaltige Argumente gegen die Konzepte von Repräsentanz und Repräsentativität vorgebracht. Solange man sich also vergegenwärtigt, daß "belgrad interviews" dem Leser Mosaiksteine und keinen Gesamtüberblick an die Hand geben will, wird man von der Lektüre mit Sicherheit profitieren.

RAUL ZELIK

Katja Diefenbach: "belgrad interviews". Gespräche und Texte. Mit Fotografien von Katja Eydel. Verlag b_books, Berlin 2000. 230 Seiten, br., 28,- DM.

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