Produktdetails
  • Die Graue Reihe 47
  • Verlag: Die Graue Edition
  • Seitenzahl: 126
  • Altersempfehlung: ab 18 Jahren
  • Erscheinungstermin: September 2006
  • Deutsch
  • Abmessung: 235mm x 145mm
  • Gewicht: 470g
  • ISBN-13: 9783906336473
  • ISBN-10: 3906336476
  • Artikelnr.: 20900547
Autorenporträt
Ludger Lütkehaus, geboren 1943, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg und Mitglied des deutschen P.E.N.-Zentrums. 1979 Sonderpreis der Schopenhauer-Gesellschaft. 1996 Preis für Buch und Kultur. 1997 Max Kade Distinguished Visiting Professor, University of Wisconsin-Madison. 2007 erhielt Ludger Lütkehaus von der Robert-Mächler-Stiftung in Zürich den Theodor-Preis für sein "aufklärisches Gesamtwerk".
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.11.2006

Wir Geborenen
Ludger Lütkehaus eröffnet das Gespräch über Natologie
Dass wir Sterbliche sind, ist ein Gemeinplatz der abendländischen Mythopoetik. Philosophieren, das gilt seit Sokrates, heißt Sterben lernen. Dass wir außerdem, nein: zunächst einmal Geborene sind, ist zwar ebenfalls bemerkt worden, hat eine auch nur annähernd vergleichbare Erregung aber kaum jemals hervorrufen können.
Das ist merkwürdig, ja erstaunlich, und es ist die drohende Entfesselung der anthropotechnischen Machbarkeiten, die uns diese Unbedachtheit nun krass und überdeutlich vor Augen stellt. Der Freiburger Philosoph und Schopenhauer-Kenner Ludger Lütkehaus hält in dieser Situation eine Philosophie der Geburt für unabweislich. Diese, konzipiert als eine den traditionellen Todeslehren und „Thanatologien” entgegengesetzte „Natologie”, sei das Gebot der Stunde.
Und er hat recht. Das Regime der Anthropotechnik widerruft die traditionellen Metaphoriken des Geburtsereignisses – das „Geschenk” des Lebens, das „Licht” der Welt –, ohne deren Orientierungsleistung ersetzen zu können. Lütkehaus ergreift in dieser Situation nun die Initiative mit einer Sammlung geistesgeschichtlicher Spuren und Zeichen, die auf das natologische Projekt vorausweisen. Die Ausbeute ist, wie vermutet, gering. Die sokratische „Maieutik” ist wie die Idealepoche der „Renaissance” dem Modell der Wiedergeburt nachempfunden und möchte gerade nicht ein Anfang sein. Die große, grundstürzende Ausnahme von diesem Standardmodell ist die Geburt des Gotteskindes, die freilich resultativ verstanden wurde. So hat es zweitausend Jahre gedauert, bis schließlich die jüdische Philosophin Hannah Arendt als die philosophische Pointe der Heiligen Nacht die Emphase des radikalen Neuanfangs erkannte, der mit jedem Menschenleben gemacht ist.
Die Philosophie der Geburt antwortet auf ein genuines Bedürfnis der Moderne. Lütkehaus erschließt dieses Potential, indem er Arendts natologische Fragmente zusammensetzt und, mit Seitenblicken auf Sartre, Sloterdijk und Blumenberg, reich kommentiert. Das Hauptverdienst des klugen Büchleins aber besteht darin, den schrecklichen Vereinfachungen die Bahn zu verstellen: Der zeugungsblinden Geburtsbegeisterung auf der einen und der bräsigen Gegenrede auf der anderen Seite, die – wie Schopenhauer – schlechthin „jedes Gebären” für „verdächtig” hält. Allen Fundamentalismen abhold, schließt Lütkehaus fürs Erste mit einer goldenen Regel für Gebärende und Zeugende. Sie lautet: „Handle so, als ob das Leben ein Geschenk, die Welt ein Licht sein könnte.”
RALF KONERSMANN
LUDGER LÜTKEHAUS: Natalität. Philosophie der Geburt. SFG-Service Center Fachverlage GmbH, Kusterdingen 2006. 126 Seiten, 21 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2007

Wollt ihr ihm eine Freude machen, so erspart ihm doch bitte, gezeugt zu werden
Rechenfehler eines Babyprüfers: Ludger Lütkehaus sucht den gordischen Knoten des Lebens zu lösen, indem er ihn entzweihaut und eine frivole Philosophie gebiert

Der glückliche Vater trug sein Kind vom Kreißsaal hinüber zur Neugeborenenstation. Auf dem Gang begegnete er einer Mutter mit ihrem Sohn. Mühsam schleppte das Kind seinen von der Chemotherapie ausgezehrten Körper vorwärts. Die Mutter sah die Vorbeigehenden an, und ihren Blick wird der Rezensent nicht vergessen. Es lag kein Neid darin, nur tiefe Trauer, als sie sagte: "So wie du heute habe auch ich mich damals über diesen hier gefreut."

Dass jedes Leben auf den Tod zueilt, jeder Tag der letzte sein kann und in jedem Glück schon das kommende Leid mahnt, gehört zu den Grundgewissheiten des abendländischen Denkens. Aber diskreditiert dies das Leben? Nein, antwortet Kant, aber es lässt doch immerhin jede Zeugung eines Menschen als einen moralisch höchst prekären Akt erscheinen. Durch die Zeugung haben wir nämlich, so der Junggeselle aus Königsberg, "eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herübergebracht; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen".

Die Antwort Schopenhauers, des zweiten Hagestolzes unter den großen deutschen Philosophen, fällt härter aus. Schon ein einziges Leid entscheide den Rangstreit zwischen dem Sein und dem Nichts zugunsten des Letzteren. Die Ungeborenen entbehrten nicht die Freuden des Lebens, weil sie sie nie kennenlernten, aber vom Leid des Lebens blieben sie verschont.

Ludger Lütkehaus, der nach seinem Hauptwerk "Nichts", einer großangelegten Kritik an der Nichtsvergessenheit der westlichen Philosophie, nun eine "Philosophie der Geburt" vorlegt, stimmt dem Befund Kants zu. "Jede Geburt ist eine unerbetene Gabe. Das weitestreichende, buchstäblich gravierendste, über Sein oder Nichtsein im striktesten Sinn entscheidende existentielle Faktum ist zugleich das schlechthin fremdbestimmte, das jeder Wahl entzogen ist." In Bezug auf die eigene Geburt komme ich immer zu spät. Da es aber nun einmal so weit gekommen ist, sind die Verursacher dazu verpflichtet, ihren Kindern die diesen aufgebürdete Lebenslast nach Kräften zu erleichtern. ",Handle so, als ob das Leben ein Geschenk, die Welt ein Licht sein könnte', lautet der Imperativ, der an die Schöpfer jeder Provenienz für ihr Verhältnis zu den Geborenen ergeht."

Freilich ist der Schopenhauerianer Lütkehaus davon überzeugt, dass die Welt tatsächlich alles andere als ein Licht und das Leben keineswegs ein Geschenk ist. Wer nicht existiert, dem nimmt das Nichtgeschenk der Geburt nichts, sagt er. Damit ist der Weg frei für die Schopenhauerische Konsequenz, "die Kunde vom fundamentalen Nachteil, geboren zu sein". Mit dem griechischen Waldgott Silen antwortet Lütkehaus auf die Frage, was für den Menschen das Ersprießlichste sei, das Beste sei die "alle Mühsal des gebürtlichen Lebens vermeidende Nicht-Geburt" und das Zweitbeste sei der "baldige Tod". Der Tod sei "die einzige Möglichkeit, die Katastrophe der Geburt zwar nicht als Faktum, aber wenigstens in Bezug auf ihre Lebensfolge rückgängig zu machen".

Besser als die nachträgliche Korrektur jenes unerwünschten Ereignisses ist Lütkehaus zufolge freilich seine Vermeidung: die Befolgung des im düstersten Stück der deutschen Romantik, den "Nachtwachen des Bonaventura", Hamlet in den Mund gelegten "Gesetzes gegen die Bevölkerung". Die Erfüllung dieses Gesetzes sei, so des Verfassers finaler Trost, heutzutage so einfach wie noch nie. Von einem Opfer könne man kaum noch sprechen, "wenn heute, im Zeitalter einer sanften Geburtenkontrolle, ganz ohne Verzicht, ganz ohne die Strapazen der Enthaltsamkeit der bequeme Heilsweg ins Paradies der Ungeborenen eröffnet ist".

Die Logik dieses Beweisganges ist indessen zweifelhaft. Die von Lütkehaus betonte ontologische Differenz zwischen dem Sein und dem Nichts hat nämlich eine Kehrseite, die der Autor unterschlägt. Ist wegen der Nichtigkeit des Nichts ein zum Zwecke der Rechtfertigung des Lebens angestellter Vergleich unzulässig, so muss das Gleiche auch für eine zu seiner Denunziation dienende Vergleichsrechnung gelten. Wenn man nicht sagen kann, dass der Mensch durch seinen Eintritt in die Welt etwas gewinne, kann man ebenso wenig behaupten, er büße dadurch etwas ein. Einbüßen kann ich nur, was ich zuvor gehabt habe; wer inexistent war, der besaß nichts, auch nicht die Vorzüge eines Zustands der Leidfreiheit.

Existentielle Grundfragen lassen sich freilich nicht allein durch Argumente der Logik entscheiden. Mindestens ebenso wichtig ist die praktische Überzeugungskraft der zu ihrer Beantwortung aufgebotenen Lehren. Hier versagt Lütkehaus vollkommen. Er macht sich des Vergehens schuldig, das man unter Soldaten als Feigheit vor dem Feind bezeichnet. Den gordischen Knoten des Lebens sucht er zu lösen, indem er ihn buchstäblich entzweihaut. Statt sich dem Dunklen der menschlichen Existenz in Tapferkeit und Demut zu stellen, predigt er die Desertion.

Statt sich zu mühen, die Hungernden zu speisen und die Verzweifelten zu trösten, erteilt er ihnen die Auskunft, philosophisch gesehen wäre es ohnehin besser gewesen, sich beizeiten davonzumachen. Ein solcher Hedonismus mit umgekehrten Vorzeichen verdient keine Nachsicht. Er ist erbärmlich.

MICHAEL PAWLIK

Ludger Lütkehaus: "Natalität". Philosophie der Geburt. Die Graue Edition, Kusterdingen 2006. 126 S., geb., 21,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Schon die Tatsache, dass sich Ludger Lütkehaus der Philosophie der Geburt annimmt, findet Ralf Konersmann angesichts der traditionellen Konzentration der Philosophie auf den Tod sehr begrüßenswert. Lütkehaus reagiere mit dem Thema auf ein offensichtliches "Bedürfnis der Moderne". Als besonders verdienstvoll würdigt der Rezensent an dem "klugen" und fundierten Buch, das auch frühere philosophische Ansätze einer "Natologie" aufgreift und kommentiert, dass der Autor jegliche Vereinfachungen meidet und weder der dummen Verherrlichung noch der "bräsigen" Verteufelung der Geburt das Wort redet.

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