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Italien, Kriegsende 1945. Ein jüdischer Kapo kehrt aus dem KZ zurück auf das riesige, im Veneto gelegene Gut seiner Familie. In der Annahme, die Familie sei im Krieg ausgelöscht worden, haben die Verwalter und Pächter sich die Ländereien angeeignet. Der einzige Heimkehrer vertreibt sie und führt fortan ein Leben in absoluter Isolation. Die furchtbare Schuld, die er auf sich geladen hat, verbietet ihm, sich je wieder liebend einem Menschen, seinem Fleisch, seinem Körper zu nähern. Eros und Schuld sind eine innige Verbindung eingegangen. Immer obsessiver fotografiert er, was nach der Zerstörung…mehr

Produktbeschreibung
Italien, Kriegsende 1945. Ein jüdischer Kapo kehrt aus dem KZ zurück auf das riesige, im Veneto gelegene Gut seiner Familie. In der Annahme, die Familie sei im Krieg ausgelöscht worden, haben die Verwalter und Pächter sich die Ländereien angeeignet. Der einzige Heimkehrer vertreibt sie und führt fortan ein Leben in absoluter Isolation. Die furchtbare Schuld, die er auf sich geladen hat, verbietet ihm, sich je wieder liebend einem Menschen, seinem Fleisch, seinem Körper zu nähern. Eros und Schuld sind eine innige Verbindung eingegangen. Immer obsessiver fotografiert er, was nach der Zerstörung geblieben ist,auch Getier und Insekten, bis deren Laute in ihm schließlich die Schreie der von ihm zu Tausenden in die Gaskammern Getriebenen widerhallen lassen.Eines Tages erscheint eine verschlagene Alte, bietet ihm ihre blutjunge Enkeltochter feil und wird von nun an jeden Monat kommen, den Lohn für deren Dienste einzufordern. Tonia, seine Schuld ahnend, beginntsich ihm hinzugeben: Hautfetzen für Hautfetzen wird er ihren schönen Körper ablichten. Als sie ihren ersten Orgasmus erlebt und ihrer durch das Auge des Fotografen bestimmten Sexualität gewahr wird, flüchtet sie. Der Zurückgelassene sucht ebenso verzweifelt wie vergeblich nach ihr und entfaltet ein gespenstisches Szenario ...Giorgio Chiesura erzählt in nüchterner, messerscharfer Sprache vom Grauen der Schuld und liefert ein literarisches Zeugnis, das sich neben Pasolinis Die 120 Tage von Sodom und Viscontis Die Verdammteneinreiht in die Meisterwerke der Verarbeitung des Faschismus und seiner pornografischen Komponenten.
Autorenporträt
Giorgi o Chiesura (1921-2003) wurde in Venedig geboren, wo er auch starb. Er hat bei Norberto Bobbio in Rechtsphilosophie promoviert. Von 1947 bis 1968 war er als Staatsanwalt tätig. Als im September 1943 Marschall Pietro Badoglio auf Sizilien den Waffenstillstand proklamiert, beschließt Giorgio Chiesura, sein Leben dem Krieg nicht mehr zur Verfügung zu stellen: Er begibt sich in deutsche Kriegsgefangenschaft, wird inhaftiert und verbringt die letzten beiden Kriegsjahre in deutschen Kriegsgefangenenlagern, wo er sein langes Poem Zona Immobile schreibt. Sein Roman Hingabe liegt nun erstmals in deutscherÜbersetzung vor.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Auch mit dem größten Wohlwollen vermag Christiane Pöhlmann Giorgio Chiesuras Roman nur als fragwürdig einzustufen. Die Geschichte um einen ehemaligen italienischen KZ-Häftling, der versucht, sein Trauma mittels erotischer Ersatzhandlungen zu verarbeiten, findet Pöhlmann tendenziell frauenverachtend und pädophil, in jedem Fall aber anstrengend. Dem Autor bei einer metaphorischen Ausdeutung von Story und Motiven zu folgen, scheint ihr nicht gelingen zu wollen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2016

Seltsame Schambewältigung
Giorgio Chiesuras halluzinogener Roman "Hingabe"

Als 1970 in Italien das Scheidungsrecht eingeführt wurde, stieß es auf derartigen Widerstand, dass ein Referendum dieses vier Jahre später nochmals endgültig bestätigen musste. Als 1979 das Album "California" von Gianna Nannini erschien, hielt die Freiheitsstatue auf dem Cover statt einer Fackel einen Vibrator in der Hand. Der Skandal ließ nicht auf sich warten. Trotz dolce vita war das Italien der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht gerade ein Vorreiter gesellschaftlichen Fortschritts oder sexueller Revolution.

Wenn Giorgio Chiesura in seinem Roman "Hingabe" den namenlosen Ich-Erzähler in der Nachkriegszeit also durch eine norditalienische Stadt streifen und ihn dort halbnackte Frauen, an jeder Ecke offen kopulierende Paare und eine Flut von Pornoheften entdecken lässt, kann da etwas nicht stimmen. Bis zu dieser Szene gibt es im Text selbst keinen Hinweis darauf, dass der Erzähler unter Halluzinationen leidet. Nun aber drängt sich die Frage auf, wie vertrauenswürdig er ist. Der jüdische Ich-Erzähler war aus einem KZ nach Italien zurückgekehrt. Er hatte in einem Sonderkommando Mitgefangene für die Gaskammern und Verbrennungsöfen vorbereitet. Nun will er von seiner Scham erzählen. Als Folge seiner Taten und gleichsam als Strafe begreift er eine Art leprösen Ausschlag, der bei ihm auftritt, sobald er andere Menschen berührt. Er lebt völlig abgekapselt in der geerbten Familienvilla außerhalb der Stadt, bis er eines Tages einer Bäuerin ihre minderjährige Enkelin Antonia abkauft. Diese hält er auf dem Anwesen gefangen, sie muss ihm als Aktmodell dienen. Damit der Erzähler sie mit dem Fotoapparat "bezwingen" kann, muss sie sich die Schamhaare abrasieren. Mit der Kamera will er meistern, was seine Hände nicht mehr vermögen: jede Pore ihres Körpers zu erkunden. Das soll sein Weg zurück ins Leben sein. Die Villa ist schon bald mit ihren Nacktfotos gepflastert.

Nach Jahren gelingt Antonia die Flucht. Der Erzähler begibt sich in die Stadt, um sie zu suchen. Damit wären wir bei eingangs erwähnter Szene. Gegen seinen Willen erregt den Erzähler die Atmosphäre, er bekundet Mitgefühl mit Vergewaltigern, Opfern einer übersexualisierten Umwelt. Mittlerweile ist enormes Wohlwollen nötig, um diese Szene noch metaphorisch zu deuten, in ihr - vielleicht - ein Bild für Verdrängung in der Nachkriegszeit zu sehen. Nach elend langen, skrupulösen Beschreibungen von Antonias Körper und von Pornoheften fällt das jedoch schwer. Um seine "Therapie" fortzusetzen, engagiert der Erzähler Aktmodelle. Mit ihnen stellt er noch dezidierter KZ-Szenen nach als mit Antonia. Als ihm das bewusst wird, verjagt er sie. Schließlich taucht Antonia wieder auf. Sie ist schwanger und bittet ihn um Geld. Er vermacht ihr sein Vermögen und bereitet seinen Selbstmord vor.

Im Nachwort sagt die Übersetzerin Monika Lustig, Giorgio Chiesura (1921 bis 2003) habe ihr ans Herz gelegt, den Roman "unbedingt als einen erotischen zu publizieren". Abwegiger könnte eine Rubrizierung nicht sein, denn "Hingabe" ist ein anstrengender Roman mit frauenverachtenden und pädophilen Tendenzen. Da Chiesura selbst in deutscher Kriegsgefangenschaft war, möchte man diese Momente jedoch reflexartig als unverstandene Metaphorik deuten - was die Lektüre freilich nicht angenehmer macht.

Der Roman hat noch eine Vorgeschichte: Chiesura veröffentlichte 1990 den Roman "Devozione", in dem eine stark an Primo Levi angelehnte Figur auftaucht. Als Levis Witwe dagegen Protest einlegte, kürzte Chiesura den Text um diese Figur und gab ihn 2001 als "Villa dei cani" heraus, der nun als "Hingabe" auf Deutsch vorliegt. Levi hatte sich in seinem letzten Roman "Die Untergegangenen und die Geretteten" ebenfalls mit der "Scham" (so eine Kapitelüberschrift) von KZ-Überlebenden beschäftigt. Inspirierende Gedanken zu Chiesuras Roman speisen sich denn auch eher aus Werken wie diesem. Bei aller hartnäckigen Wohlgesinntheit bleibt zu "Hingabe" nur zu sagen: fragwürdig.

CHRISTIANE PÖHLMANN

Giorgio Chiesura:

"Hingabe". Roman.

Aus dem Italienischen von Monika Lustig. Secession Verlag, Zürich 2015. 248 S., geb., 23,95 [Euro].

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