Produktdetails
  • Bibliotheca Academica, Soziologie Bd.3
  • Verlag: Ergon
  • Seitenzahl: 118
  • Deutsch
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 252g
  • ISBN-13: 9783899133837
  • ISBN-10: 3899133838
  • Artikelnr.: 14744951
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2005

Was lange gärt, wird endlich gut
Hoch die Gläser: Jan Dietrich Reinhardt wirft einen soziologischen Blick auf die Trunksucht

Bier, wir sind ganz wild auf Bier! "Wir", das sind die Deutschen. Und "Bier", das sind in Deutschland immerhin hundertzwölf Liter pro Jahr und Person, die (zahlreichen) Greise und die (spärlichen) Kleinkinder mitgerechnet. Zumindest wurde 2004 soviel gekippt, und da gab es ja nicht einmal einen bemerkenswerten Sommer.

Allerdings gab es da noch nicht die Studie von Jan Dietrich Reinhardt mit dem Titel "Alkohol und soziale Kontrolle", die uns darüber hätte aufklären können, was für einen Eindruck unsere Trinksitten auf die Umwelt machen. Oder besser gesagt: Es gab sie schon, aber sie war noch nicht gedruckt. Der Kern des Buches besteht aus der Trierer Diplomarbeit des 1972 geborenen Soziologen Reinhardt, die er 1999 nach eigenem Bekunden "in kürzester Zeit" angefertigt hatte. Danach verging eine lange Zeit, denn bis der glücklich Graduierte die Zusage erhielt, daß seine Arbeit in der Reihe "Bibliotheca Academica", Untergruppe "Soziologie" des Ergon Verlages veröffentlicht werden würde, war es schon 2003, und seine Promotion stand vor dem Abschluß. Der Forscher unterbrach die entsprechenden Bemühungen und verfaßte am 28. Mai 2003 ein Vorwort für die Publikation seiner Diplomarbeit, in dem er seiner Freude Ausdruck verlieh, daß der alte Text just "zu diesem Zeitpunkt" erscheine.

Zu früh gefreut. Es sollten weitere zwei Jahre ins Land gehen, bis der dünne Band in Druck ging. Das im Mai 2003 verfaßte Vorwort wurde nicht mehr aktualisiert, so daß man am Ende der ersten Textseite bereits das Gefühl hat, eine veraltete Arbeit zu lesen. Dieser Eindruck aber trügt. Allerding muß Herrn Reinhardt, der mittlerweile vor der Vollendung seiner Habilitationsschrift steht und sich deshalb wahrscheinlich darüber freut, daß der Text nun just zu diesem Zeitpunkt erscheint, seit der Diplomprüfung etwas das Gefühl für kluge Formulierungen verlassen haben: So schreibt er im Vorwort nach dem Verweis auf die "kürzeste Zeit", die er benötigt habe: "Das wäre ohne die Hilfe vieler Verwandter, Freunde und Bekannten nicht möglich gewesen, die ich hier nicht alle nennen kann." Oder nicht nennen wollte? Denn der Dank an Helfer für Mitarbeit an einer soziologischen Studie zum Alkoholismus läßt leider schnell unangenehme Vermutungen entstehen.

Sie sind indes unbegründet, denn Reinhardts Buch bietet keine empirische Erhebung, sondern ein Thesenpapier. Es basiert - mehr darf man von einer Diplomarbeit nicht erwarten - auf Material, das von anderer Seite gesammelt und interpretiert wurde. Doch Reinhardt geht wiederum über die Erwartungen an eine normale Diplomarbeit weit hinaus, indem er eine Interpretation der Interpretationen versucht.

Reinhardts "Gedanken zu einer Soziologie des Alkoholismus" setzen am Beginn der zivilisierten Welt an, denn der Mensch säuft, seit er denkt. Ob er denkt, weil er säuft, läßt die Studie leider offen, aber immerhin führt uns das Phänomen bis zum "Gastmahl" des Platon, wo der reichliche Genuß geistiger Getränke auch den Geist befeuert. Hier haben wir auch noch die archaische Situation eines Gelages, das Ritualcharakter besitzt, und gerade diese Betrachtung des Alkoholkonsums bezeichnet die Wegscheide zwischen Altertum und Neuzeit: Erst als das Krankheitsbild des Alkoholismus begründet wird, sieht Reinhardt die Menschheit in der Moderne angekommen.

Den geeigneten theoretischen Fluchtpunkt für solche Erwägungen hat Foucault mit seinen Ausführungen zur Disziplinierung geschaffen. Kaum hat sich das Bürgertum gegenüber dem Adel emanzipiert, entwickelt es die Vorstellung von der Trunksucht, die den Schuldigen nicht länger bei der Droge Alkohol sucht, sondern beim Trinker, dessen Maßlosigkeit den sozialen Comment verletzt. Die neue Arbeitsorganisation läßt keinen Platz mehr für Fehlzeiten, und wer mit brummendem Schädel an der Werkbank erscheint, betrügt seinen Arbeitgeber um einen Teil des Mehrwerts. Auf daß der grundgütige Gläubiger nun nicht auch noch mit der Belastung durch Erholungsphasen seiner Arbeitnehmer belastet werde, setzte sich die Betrachtung der Trunksucht als Krankheit, als Alkoholismus, durch, so daß im Zuge der Wohlfahrtspolitik die Kosten der Behandlung auf die Gesellschaft umgewälzt werden konnten.

So weit, so schlüssig. Und mit den Bezugsgrößen Norbert Elias, Talcott Parsons und Niklas Luhmann für den Übergang vom Feudalsystem zur Bürgerwelt auch methodologisch gut abgesichert. Dazu kommen zahlreiche Reminiszenzen an das Werk des Trierer Soziologen Alois Hahn, der Reinhardts Diplomarbeit betreute - und fertig ist ein kreuzbraver, solide recherchierter historischer Überblick, der jedoch nur die erste Hälfte ausmacht. Die zweite Hälfte liefert alles, was Reinhardts Buch interessant macht.

Das fängt mit einer spannenden Erörterung des Verständnisses von Alkoholismus als abweichendes Verhalten ("der" Soziologe, und somit auch Reinhardt, spricht hier von "Devianz") an und führt zu einer Analyse der Testverfahren zur Entscheidung der Frage, ob man es mit einem Alkoholabhängigen zu tun hat oder nicht. Gegen die Praktiken der "Anonymen Alkoholiker", die im Eingeständnis der Eigenverantwortung für Trunksucht den einzigen Schlüssel zu deren Bekämpfung sehen, betont Reinhardt den sozialen Blick auf das Phänomen: Zum Trinker wird man nicht selten gemacht. Damit will er die medizinische Betrachtungsweise nicht negieren: "Eine Abschaffung des Krankheitsbegriffes zu fordern wäre reine Polemik, da ich einerseits die medizinischen und psychologischen Forschungsergebnisse verkennen würde und andererseits das Phänomen Alkoholismus auch nur aus einer - eben soziologischen - Perspektive betrachtet habe." Aber der Satz enthält im Wörtchen "auch" den großen Vorwurf an das etablierte Verständnis vom Alkoholiosmus als Krankheit: Es nimmt nur eine Perspektive ein.

Reinhardts Buch ist ein Plädoyer für eine komplexere Betrachtungsweise. Den Nutzen des soziologischen Blicks beweist er in einer Fortführung von Emile Durkheims Analyse des Selbstmordes als Folge von steigenden Selbstkontrollanforderungen in der modernen Gesellschaft. Dabei darf man sich von einem flapsigen Satz wie "Ich behaupte einfach, daß die Überschreitung sozialer und im besonderen hegemonialkultureller Trinknormen die gleichen Ursachen hat wie der egoistische Selbstmord" nicht irremachen lassen: Diese Behauptung ist besser belegt, als man vermuten sollte. Reinhardt zieht Erhebungen aus mehreren Staaten heran, die erkennen lassen, daß es ähnliche Motive sind, die einen zum Selbstmörder oder zum Trinker werden lassen. Auch wenn er nicht erklären kann, warum Frauen in festen, aber unverheirateten Bindungen leichter zu Trinkerinnen werden als ihre geschiedenen, verwitweten, getrenntlebenden oder ledigen Geschlechtsgenossinnen (verehelichte Damen neigen am wenigsten zum Übermaß), ist sein Buch doch eine anregende Lektüre, um die eigene Vorstellung vom Alkoholismus zu überprüfen. Und die Soziologie hat einen hübschen Beleg für ihre Allzuständigkeit mehr.

ANDREAS PLATTHAUS

Jan Dietrich Reinhardt: "Alkohol und soziale Kontrolle". Gedanken zu einer Soziologie des Alkoholismus. Bibliotheca Academica Soziologie, Band 3. Ergon Verlag, Würzburg 2005. 118 S., Abb., br., 22,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Eine "anregende Lektüre" sieht Rezensent Andreas Platthaus in Jan Dietrich Reinhardts Studie "Alkohol und soziale Kontrolle". Wie er berichtet, bietet die erste Hälfte der Diplomarbeit einen historischen Überblick über die Trunksucht, den er "kreuzbrav", aber "solide recherchiert" und "methodologisch gut abgesichert" nennt. Richtig interessant wird es für ihn erst in der zweiten Hälfte: die beginne mit einer "spannenden" Erörterung des Verständnisses von Alkoholismus als abweichendes Verhalten und führe zu einer Analyse der Testverfahren zur Entscheidung der Frage, ob man es mit einem Alkoholabhängigen zu tun hat oder nicht. Platthaus hält fest, dass Reinhardt den sozialen Blick auf das Phänomen betont. Den Nutzen des soziologischen Blicks beweise Reinhardt in einer Fortführung von Emile Durkheims Analyse des Selbstmordes als Folge von steigenden Selbstkontrollanforderungen in der modernen Gesellschaft.

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