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Helmut, Lore und Micha: in drei unterschiedlichen Zeiten und Perspektiven erzählt Rachel Seiffert vom Umgang mit dem Erbe der Nazi-Generation, von der Zerreißprobe, zu der das Zusammenleben mit den Tätern wird, wenn diese unsere geliebten Väter, Mütter oder Großeltern sind. Die Lebenswege der drei jungen Deutschen kreuzen sich nicht, sie verbindet jedoch etwas weit Stärkeres: Sie alle sind als Kinder von NS-Mitläufern geboren. Sie alle sind "Täterkinder" und müssen sich mit der dunklen Vergangenheit ihrer Familie auseinandersetzen. In Seifferts beeindruckendem Debüt geht es um das Leben von…mehr

Produktbeschreibung
Helmut, Lore und Micha: in drei unterschiedlichen Zeiten und Perspektiven erzählt Rachel Seiffert vom Umgang mit dem Erbe der Nazi-Generation, von der Zerreißprobe, zu der das Zusammenleben mit den Tätern wird, wenn diese unsere geliebten Väter, Mütter oder Großeltern sind. Die Lebenswege der drei jungen Deutschen kreuzen sich nicht, sie verbindet jedoch etwas weit Stärkeres: Sie alle sind als Kinder von NS-Mitläufern geboren. Sie alle sind "Täterkinder" und müssen sich mit der dunklen Vergangenheit ihrer Familie auseinandersetzen. In Seifferts beeindruckendem Debüt geht es um das Leben von gewöhnlichen Menschen in außergewöhnlichen Zeiten, ums Erwachsenwerden, aber auch um die Versöhnung mit der eigenen Geschichte.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.03.2001

Kein Verzeihen
Rachel Seiffert beschreibt
Erinnerungen der Kinder und Täter
Wie ist es möglich, dass jemand gut und böse zugleich sein, recht und unrecht haben kann? Um diese Frage kreist das literarische Debüt der jungen Deutsch-Australierin Rachel Seiffert. Dass Familienväter, Onkel und Großväter während des Nationalsozialismus gleichzeitig Mörder und liebevolle Verwandte waren, ist nur scheinbar ein Widerspruch, der Psychologen und Historiker seit langem beschäftigt. Sich literarisch damit zu beschäftigen, stellt eine große Herausforderung dar – vor allem wenn man eine der Literatur abträgliche moralische Geste vermeiden möchte.
Rachel Seifferts Lösung ist so einfach wie genial: In drei Kapiteln schildert sie das Schicksal dreier junger Erwachsener in unterschiedlichen Zeitabschnitten von 1921 bis in die Gegenwart. Diese Figuren stellen exemplarisch mögliche Verhaltensmuster und Bewältigungsstrategien dar, ohne jemals zu bloßen Ideenträgern zu verkommen, weil Seiffert, in knapper Sprache, sie aus ihrer Perspektive sprechen lässt, mit all der Ungewissheit, dem Zweifel. Weil die Autorin an einer Filmhochschule studiert hat, erinnern die Geschichten nicht von ungefähr an Drehbücher für Kurzfilme, und die Fotografie spielt eine zentrale Rolle.
Der von seinen Eltern innig geliebte Helmut wird 1921 mit einem verkümmerten Brustmuskel geboren. Anhand der Familienfotos erschließt sich die Biografie eines Jugendlichen, dessen Ziel es immer war, den körperlichen Mangel und die daraus resultierende Isolation zu kaschieren: Sie „zeigen einen gesunden Jungen . . . Sein rechter Arm liegt auf der Schulter seiner Mutter, und er steht so, dass seine linke Seite der Kamera zugewandt ist. Mit diesem doppelten Trick soll das Augenmerk von der schiefen Brust, der gekrümmten Haltung des Arms abgelenkt werden. ”
Eingefrorene Momente
Das Fotografieren und die Möglichkeiten der Manipulation werden Helmut fortan nicht loslassen. Kein Bild ist „wahr”, es hängt vom Auge des Betrachters ab, welche Wahrheit zu sehen ist. Und manchmal kann man seinen Augen nicht trauen, oder umgekehrt: zeigen die Fotos nicht das, was man eigentlich festhalten wollte. Als Helmut heimlich die Auflösung des „Zigeunerlagers” in Berlin fotografiert, erweist sich, dass die Fotos nichts zeigen – von der Angst des Zuschauers, von der Brutalität der Nazis, welche die Menschen zusammentreiben. Jedes Foto scheint den falschen Moment eingefroren zu haben – exakt jenen Moment, in dem nichts passierte.
Als gegen Kriegsende das letzte Aufgebot an Soldaten zusammengestellt wird – die Jugendlichen, die Kranken und Behinderten –, fühlt sich der zuvor für nicht tauglich befundene Helmut zum ersten Mal in eine Gemeinschaft aufgenommen. Dieses Gefühl des Dazugehörens ist stärker als sein ohnehin nicht sonderlich ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein. Wieder ist es eine Aufnahme, die mehr sagt als jede Abhandlung: Nie zuvor hat Helmut auf Fotos auch nur den Mund verzogen, nun steht er inmitten der Kameraden „hoch oben auf seinem Trümmerberg, den sowjetische Panzer mit Leichtigkeit erklimmen werden, und er lächelt”.
Am eindrucksvollsten gelingt Seiffert die Geschichte von Micha, die 1997 spielt. Wer in diesem Jahr noch jung ist, der hat es nicht mehr mit der Schuld der Väter, sondern mit der der Großväter zu tun. Aber auch Großväter wurden geliebt und bewundert, im besten Fall hat man seine Kindheit mit ihnen verbracht, Freude und Nöte mit ihnen geteilt. Ohne ersichtlichen Grund beginnt Micha die Vergangenheit seines verstorbenen Großvaters zu erforschen – von dem er nur weiß, dass er in der Waffen-SS war und dreizehn Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Je mehr er über den Holocaust in Erfahrung bringt, desto verbissener verfolgt er sein Ziel, gegen alle Widerstände seiner Verwandten, aber auch seiner türkischen Freundin Mina.
Endlos sind die Gespräche, dreimal wird Micha nach Weißrussland fahren, dem ehemaligen Einsatzgebiet seines Großvaters. Aber auch hier ist nicht alles, wie es scheint. Die alten Leute dort sind nicht nur Opfer – sie können auch Kollaborateure gewesen sein, sich an den Massenerschießungen und am Profit durch Ausbeutung beteiligt haben. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis nach Michas Reisen und auch die des Buches: Nichts ist eindeutig, wir müssen uns damit abfinden. Die Täter und Tausende von Mitläufern haben nach dem Krieg weiter gemacht, haben Kinder gezeugt, waren mehr oder weniger erfolgreich im Beruf, haben die Kinder geliebt und ihre Geheimnisse mit ins Grab genommen. Und wehe jemand rührt daran! „Micha kann Kolesniks karge Antworten nicht vergessen . . . Keine Schuldgefühle, und auch kein Verzeihen. Kein Grund zur Trauer. Zu irgendwelchen menschlichen Regungen . . . Menschen tun es einfach, und dann geht es weiter. ”
Rachel Seiffert lässt einen ratlos zurück, und auch Micha erfährt keine Karthasis, keine Linderung seines Schmerzes, keine Bereitschaft zu verzeihen, was ohnehin unverzeihlich ist. Immerhin kann er sich zu einem Besuch bei der Großmutter entschließen, um ihr endlich seine kleine Tochter vorzustellen: „Micha schaut seine Tochter an, beobachtet, wie sie ein weiteres Familienmitglied aufnimmt, ohne Umschweife. Sie schlägt den Familienatlas auf, unproblematisch, neugierig, unverzüglich. Es tut Micha weh, das zu sehen. ”
ELKE SCHUBERT
RACHEL SEIFFERT: Die dunkle Kammer. Aus dem Engl. v. Olaf Roth. Ullstein Berlin, Berlin 2001. 368 S. , 39,90 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Überwältigt ist die Rezensentin Elke Schubert von Rachel Seifferts Roman, dem es "genial" im Stile von "Drehbüchern für Kurzfilme" gelinge, das schwierige Verhältnis von nationalsozialistischen Tätern, die zugleich liebevolle Verwandte waren, darzustellen. Die Autorin nähere sich der Thematik über die Schilderung der Geschichte "dreier junger Erwachsener in unterschiedlichen Zeitabschnitten von 1921 bis in die Gegenwart". Tief beeindruckt hat dabei die Rezensentin vor allem die Geschichte von Micha, der sich im Jahr 1997 auf die Suche nach den Spuren seines Großvaters macht, der bei der Waffen-SS in Weißrussland war. Keine moralisierende eindeutige Geschichten bringe er von dort mit, sondern die verwirrend ambivalente Erfahrung, die in jedem vermeintlichen Opfer auch den Kollaborateur sehen lässt. Diese Qualität des "Nichts ist eindeutig, wir müssen uns damit abfinden" begeistert die Rezensentin und macht für sie den ästhetischen Reiz des Buches aus, obwohl der Leser ihrer Aussage nach am Ende ebenso "ratlos" zurückbleibt wie Micha.

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