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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.03.2002

Hand und Fuß
Lang erwarteter Überblick:
Geschichte der Juden in Europa
Angelsächsische Wissenschaftler greifen gern nach deutschen „Handbüchern”, um dann ironisch-verzweifelt zu demonstrieren, dass sie selbst einem sehr kräftigen Mann aus der Hand fallen. Aber die beiden Halbbände, von denen hier die Rede ist, sind nicht nur „handlich‘, sie erfüllen zugleich die Erwartungen, die man in Deutschland mit einem Handbuch verbindet. Der erste Band bietet einen Überblick über die Geschichte der Juden in den europäischen Ländern, nicht selten von den besten Kennern des Gegenstandes geschrieben. Er beginnt nach einem Artikel über „Das Heilige Römische Reich bis 1648” mit Beiträgen über Deutschland, geht dann über die Schweiz, Österreich, die Tschechoslowakei und Ungarn zunächst nach Osten, widmet mehrere Beiträge dem Balkan und wendet sich dann Italien, Spanien, Frankreich und schließlich dem europäischen Nordwesten und Norden zu.
Das ist ein überzeugender Aufbau. Auch das Problem, dass die „Kultur- und Kommunikationsräume” nicht immer mit den staatlichen Einheiten deckungsgleich sind, wird einleuchtend gelöst. Das Elsass zum Beispiel, das zu unterschiedlichen Zeiten verschiedenen Staaten angehörte, wird in mehreren Kapiteln behandelt. Andererseits gibt es einen durchgehenden Beitrag über Polen, obwohl dessen Teilungen und wechselnde staatliche Zugehörigkeiten eine solche Lösung nicht nahezulegen scheinen. Freilich hätten ein paar einfache Karten die Zugehörigkeit einzelner Regionen deutlicher sichtbar gemacht.
Der zweite Band stellt den kleinen Ländermonographien des ersten Bandes regionenübergreifende, themenbezogene Überblicksdarstellungen an die Seite. Ein erster großer Abschnitt über die „Binnenstruktur” enthält unter anderem Beiträge über die demographische Entwicklung der europäischen Juden, die Sozial- und Wirtschaftsstrukur der jüdischen Gemeinden, über ihre Rechtstellung, über Frauen und die Familie. Es folgen Abschnitte über „Religion”, „Geistige Entwicklung”, „Die Juden und die christliche Gesellschaft”, „Judenfeindschaft”, jeder mit zahlreichen Einzelbeiträgen.
Man dürfe eine Darstellung der Geschichte der Juden nicht „im Blick auf den Holocaust” anlegen, hat Michael M. Meyer vor einigen Jahren gefordert, und Paul Spiegel hat das jüngst in seinem Erinnerungsbuch bekräftigt. Die Gefahr sei groß, dass man dann frühere Hoffnungen aus dem Blick verliere. Man muss hinzufügen: Gibt man der Vergangenheit ihre Optionen zurück, macht das die Schuld an den Verbrechen der Nazis um nichts kleiner. Wer dieses Werk liest, wird zunächst erdrückt durch die Feststellung, was der NS-Terror zerstört hat, aber er sieht auch Vielfalt und Reichtum jüdischer Geschichte und Kultur in den Regionen Europas. Sie erschließen sich erst ganz, wenn man die zahlreichen Möglichkeiten des Querlesens wahrnimmt. Zunächst scheint es so, als sei die jüdische Aufklärung – um ein Beispiel zu geben – nur in dem ausgezeichneten Beitrag Christoph Schultes dargestellt, aber dann sieht man, dass sie in zahlreichen Artikeln unter immer neuen Aspekten behandelt wird. Dass das Werk eine solche Lektüre nicht durch ein Sachregister unterstützt, ist allerdings zu bedauern.
Insgesamt aber lässt sich sagen: das „Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa” ist genau das Werk, auf das wir lange gewartet haben. ERNST-PETER WIECKENBERG
ELKE-VERA KOTOWSKI, JULIUS H. SCHOEPS, HILTRUD WALLENBORN (Hrsg.): Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Band 1: Länder und Regionen, Band 2: Religion, Kultur, Alltag. Primus Verlag, Darmstadt 2001. 511 und 507 Seiten, zus. im Schuber 92 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2002

So hätten wir es gern häufiger
Ein mustergültiges Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa

Dieses Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa möchte bescheiden nicht mehr als "einen Überblick" geben. Während der erste Band die Geschichte der Juden in den einzelnen europäischen Ländern von der Antike bis zur Gegenwart behandelt, thematisiert der zweite Band die europäische Dimension der jüdischen Geschichte transnational. Bis auf wenige sind die Artikel (einundzwanzig im ersten, vierunddreißig im zweiten Band) ohne Anmerkungen geschrieben. Am Ende der Bände ist jeweils eine Auswahlbibliographie zusammengestellt, elf Seiten für Band eins, neun Seiten für Band zwei (vielleicht etwas wenig für die vielen in diesem Band angeschnittenen Themen; im Text wird auf Bücher und "klassische Studien" verwiesen, die nicht in die Bibliographie aufgenommen worden sind). Die Länge der Artikel entspricht dem, worüber sie handeln; ist wenig zu sagen, ist der Artikel kurz (Finnland zwei Seiten), ist viel zu sagen, ist der Artikel länger (Italien fünfundzwanzig Seiten).

Bei einem Handbuch mit vielen Autoren ist es immer leicht, Kritik zu üben und Fehler zu finden, doch dieses Handbuch ist gut zu lesen und in seinem Aufbau einleuchtend. Der erste Band behandelt die Geschichte der Juden zwischen Spanien und Rußland, zwischen Griechenland und Irland und enthält die Sektionen Mitteleuropa, Osteuropa, Südeuropa, Westeuropa und Nordeuropa. Die Artikel und die Sektionen sind jeweils chronologisch aufgebaut (zum Beispiel unter Mitteleuropa: Das Heilige Römische Reich bis 1648; Preußen und Norddeutschland 1648-1871; Bayern und Süddeutschland 1648-1871; Deutschland ab 1871). Im zweiten Band sind die Artikel teils chronologisch (etwa der zur Geschichte der jüdischen Literatur), teils systematisch (so der zur jüdischen Mystik). Dieser zweite Band macht das geschichtliche Handbuch erst richtig interessant, weil in ihm Bereiche thematisiert werden, die man in "gewöhnlichen" Geschichtsüberblicken nicht findet.

In der ersten Sektion werden "Binnenstrukturen" behandelt (Siedlungsformen, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsstrukturen, Frauen, Familien, Migrationen). Dann folgt die "Religion" (Halacha, Messiasbewegungen, Mystik, Reform, Orthodoxie). Auf die "kulturelle Entwicklung" (Literatur, Kunst, Architektur, Musik, Volkskunde) folgt die "geistige Entwicklung" (Religionsphilosophie, Jüdische Aufklärung, Schulwesen, jüdische Presse, Wissenschaft des Judentums). Hier muß nun doch etwas gelobt und getadelt werden: In dem Artikel über die Religionsphilosophie wird Maimonides zwar genannt, aber über sein großes Schaffen und seine bis heute andauernde Wirkung in Europa wird nicht geschrieben (Hitler hat im Personenregister mehr Einträge als Maimonides). Die "Spanier" Josef Albo und Jehuda Halevi werden gar nicht erst erwähnt, das heißt: die (Religions-)Philosophie des Mittelalters wird zu wenig behandelt.

Erfreulich ist, daß der "Jüdischen Aufklärung (Haskala)" ein eigener Artikel gewidmet ist und sie als eigenständige Bewegung ernst genommen wird. Fünf Artikel behandeln "Die Juden und die christliche Gesellschaft" (Recht, Konversion, Emanzipation, Judenordnungen, Akkulturation); in der Sektion "Judenfeindschaft" (vier Artikel) geht es um Antijudaismus und Antisemitismus. Die Beiträge der letzten Sektion ("Nationalismus, Kosmopolitismus, Internationalismus") widmen sich den Aspekten Nationalstaat, Demokratie, Arbeiterbewegung, Zionismus.

Jeder der Autoren dieses Handbuches vertritt seine eigene Meinung, das Werk ist nicht irgendeiner weltanschaulichen, religiösen oder politischen Absicht verpflichtet. Die Artikel - viele von ihnen sind für dieses Buch ins Deutsche übersetzt worden - sind weder apologetisch noch anklagend, sie sind rein deskriptiv. Der Versuch, einen "Überblick" über die Geschichte der Juden in Europa zu geben, ist gelungen.

In dem Beitrag über die "Wissenschaft des Judentums" wird der programmatische Aufsatz von Immanuel Wolf zitiert ("Über den Begriff einer Wissenschaft des Judentums"), der 1822 in der ersten Nummer der "Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums" erschienen war. In ihm heißt es, in dieser Wissenschaft müsse das Wort Judentum in seiner "umfassendsten Bedeutung" verstanden werden, "als Inbegriff der gesamten Verhältnisse, Eigentümlichkeiten und Leistungen der Juden, in Beziehung auf Religion, Philosophie, Geschichte, Rechtswesen, Literatur überhaupt, Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten". Genau so verfährt das neue Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa und wird darum dem Programm der "Wissenschaft des Judentums" in allen Punkten gerecht.

FRIEDRICH NIEWÖHNER

"Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa". Herausgegeben von Elke-Vera Kotowski, Julius H. Schoeps, Hiltrud Wallenborn. Band 1: Länder und Regionen. Band 2: Religion, Kultur, Alltag. Primus Verlag, Darmstadt 2001. 511 u. 507 S., geb., im Schuber 92,- .

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Ausgesprochen zufrieden ist Rezensent Friedrich Niewöhner mit den beiden Bänden dieses Handbuches. "Bescheiden" wollten die Herausgeber "nicht mehr als einen Überblick" über die Geschichte der Juden in den einzelnen europäischen Ländern geben, was der Rezensent mustergültig gelungen findet. Punkt für Punkt hakt er seine Prüfliste ab. Verhältnis der Textlänge der jeweiligen Beiträge zur Bedeutung ihres Gegenstandes: angemessen. Die Beiträge selbst: weder apologetisch noch anklagend. Der Aufbau: teils chronologisch, teils systematisch oder nach Ländern geordnet. Die Auswahlbibliografie: in Ordnung, doch für Band zwei vielleicht etwas zu kurz. Denn während im ersten Band die Geschichte der Juden zwischen Spanien und Russland behandelt werde, thematisiere Band zwei Bereiche, die man in gewöhnlichen Geschichtsbüchern nicht finde: jüdische Binnenstrukturen wie Siedlungsformen, Rechts- und Sozialstrukturen, außerdem kulturelle, geistige und politische Entwicklungen. Obwohl der Rezensent hier die Unterbelichtung der mittelalterlichen jüdischen Philosophie bemängelt ("Hitler hat im Personenverzeichnis mehr Einträge als Maimonides"), macht gerade dieser zweite Band das Handbuch für ihn "erst richtig interessant".

© Perlentaucher Medien GmbH"