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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2001

Das verdrängte Bild vom Ganzen
Jörg Disse schält die Metaphysik als Kern der Philosophie heraus

"Die Metaphysik ist und bleibt Kern der Philosophie." Jörg Disse schreibt das ganz ohne die Pose des vom Weltlauf Mißachteten. Und vielleicht versteht es sich, wenn der Begriff hinreichend allgemein gefaßt ist, am Ende wirklich von selbst. Wir sind nicht ständig unter höchstem Konsistenzdruck damit beschäftigt, aber irgendwelche Vorstellungen vom Ganzen tragen wir immer mit uns herum. Wir glauben an einen Schöpfergott oder daran, daß die Gene alles bestimmen. Vielleicht glauben wir auch, daß der Mensch nicht zur Beantwortung der letzten Fragen gemacht ist, aber gerade das ist eine - viel voraussetzende - metaphysische Position. Wenn es nun im Alltagsbewußtsein Totalisierungen gibt, muß auch eine Instanz denkbar sein, die diese Bemühungen methodisch prüft. Sie heißt von alters her Metaphysik oder Erste Philosophie.

Das sehen nicht alle so. Sie halten die Metaphysik für dogmatisch fundiert und damit moderner Rationalität inadäquat. Doch das verdrängte Bedürfnis nach einem Bild vom Ganzen schafft sich seinen Weg. Der dogmatische Antidogmatismus führt zu eigenen Irrationalitäten. So wird in der Wellmer-Schule die Kunst zum Ort der metaphysischen Erfahrungen, über die anderswo nicht geredet werden darf. Und der scharf antimetaphysische Habermas bekennt sich zu den unaufgebbaren semantischen Potentialen der Religion. Wie aber kann es semantische Potentiale geben, deren rationale Explikation aus prinzipiellen Gründen versagt ist? Es müßten ihrerseits metaphysische Gründe sein, deren Ausbreitung dann aber zu den ersten Aufgaben der Philosophie gehörte.

Am Ende schlagen hier - wie ganz ähnlich im Unwillen, über das sogenannte "gute Leben" in der Philosophie zu streiten - szientistische Haltungen durch. Die Wissenschaft darf nur reden über das, was sie selbst nach ausweisbaren Standards eindeutig entscheiden kann. Der Rest ist Lebenswelt. Dabei ist gar nicht einzusehen, warum die Unterscheidungen einer aktualisierten philosophischen Begriffsgeschichte nicht in das Gespräch der Lebenswelt Licht bringen können sollten. Seine Hartnäckigkeit dürfte der szientistische Vorbehalt denn auch aus der Lehre vom Wertezerfall bekommen. Fest sitzt die Vorstellung, die Antike werde von einem natürlich geordneten Kosmos umfangen und das Mittelalter von einem religiös fundierten ordo und die Metaphysik sei die Priesterin dieses Kosmos und dieses ordo. Vermutlich ist der mittelalterliche ordo eine Erfindung der politischen Romantik, auf die dann die Klassizisten mit der Erfindung des griechischen Kosmos reagierten.

An der pejorativen Verwendung ihres Namens ist die Metaphysik freilich nicht unschuldig. Feuerbach, Nietzsche. Heidegger, Derrida - sie bezichtigen jeweils ihre Vorgänger der Metaphysik, das heißt der unausgewiesenen Substantialisierungen. Auch Hegel will in Seins- und Wesenslogik die vormalige Metaphysik rekonstruieren, um deren Wesenheiten dann in die Subjektivität des Begriffs aufzulösen. Ja, man könnte Aristoteles' Platonkritik geradezu als das prominenteste Beispiel von Metaphysikkritik nehmen, die allerdings von Platon selbst im "Parmenides" bereits vorweggenommen wurde, so daß am Ende die Geschichte der Metaphysik mit der Geschichte ihrer Selbstkritik zusammenfällt. Das heißt dann aber, Metaphysik kann heute, durchaus im Einklang mit Habermas' Insistenz auf einem formalen Rationalitätsverständnis, als Name nur für eine Fragestellung stehen.

Jörg Disse referiert drei mal drei Metaphysiken. Platon, Aristoteles und Plotin; Augustinus, Thomas von Aquin und Wilhelm von Ockham; Descartes, Kant und Hegel. Er tut das als katholischer Philosoph. Ganz selbstverständlich wird etwa gefragt, ob Platon mit der Idee des Guten "möglicherweise Gott selbst meint". Doch der katholische Ausgangspunkt gereicht der Arbeit erst einmal zum Vorteil. Das Interesse am rationalen Ausweis der Glaubensgehalte stellt alles Historische in den Dienst der Sache. Und das Bewußtsein, in Auslegungstraditionen zu stehen, entwickelt diese Sache aus einer forschungsliteraturgestützten genauen Lektüre.

Freilich macht sich, wenn die Auslegung offen ist, ein Vorurteil für Transzendenz um so deutlicher bemerkbar. Wo Platon das Aporetische der Ideenlehre zugibt, setzt Disse den Kerngedanken in die Scheidung zweier Welten, bei der die sinnliche Wirklichkeit ihren Grund an einer uns nur indirekt zugänglichen vollkommenen finde. Während er zwar referiert, daß für Aristoteles die Form nur im Einzelding existiert, bedeutet ihm die Anerkennung der Einzelheit doch keinen prinzipiellen Fortschritt über Platon hinaus, da die vergänglichen Einzeldinge bei Aristoteles letztlich um des Göttlichen der ewigen Formen willen da seien. Und obwohl er Hegels Position als Metaphysik der Freiheit faßt, sieht er in der Einzelheit der Individualität dann doch wieder nur die Verkörperung der Allgemeinheit des Geistes.

Das heißt nun freilich nicht, daß Disse in jedem Eichhörnchen das liebe Jesulein erblickt. Er beklagt, daß die katholische Theologie die Aufarbeitung der modernen Physik weitgehend versäumt habe. Er sieht, gewiß zur Freude von Kurt Flasch, in Augustinus' Trinitätslehre Anknüpfungspunkte, die Metaphysik der Substanzen durch eine Metaphysik der Relationen zu ersetzen. Er nennt Whitehead als - der historischen Darstellung allerdings noch zu nahes - Vorbild für eine zeitgemäße Metaphysik. Damit weist er neben der Historie die Fachwissenschaften, und das müßte wohl näher meinen: Naturwissenschaften und Psychologie, als den anderen Bezugspunkt des Philosophierens aus. Metaphysik hätte auf die aus dem alltäglichen Bewußtsein aufsteigenden Fragen nach Einheit und Zusammenhang zu antworten, indem sie die fachwissenschaftlichen Ergebnisse mit Hilfe der aus ihrer Tradition ererbten Unterscheidungen überprüft.

GUSTAV FALKE

Jörg Disse: "Kleine Geschichte der abendländischen Metaphysik". Von Platon bis Hegel. Primus Verlag, Darmstadt 2001. 311 S., geb., 49,90 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Erst einmal erlaubt sich Gustav Falke in seiner Rezension einen eigenen Kurzgalopp durch die Begründungsprobleme der Metaphysik und ihrer Gegner. Es ist ihr, der Metaphysik, so sein Fazit, nicht zu entkommen, noch "der dogmatische Antidogmatismus führt zu eigenen Irrationalitäten". Eine positive Metaphysik jedoch scheint Falke heute nicht mehr möglich, Metaphysik könne heute nur noch "als Name für eine Fragestellung" fungieren. Dieser Problemlage stellt sich, meint Falke recht erfreut, der katholische Philosoph Disse. Zwar hat er, wenig verwunderlich, "ein Vorurteil für Transzendenz" und sucht nicht nur bei Platon nicht das "Aporetische" sondern, schlicht: Gott. Seine Lektüren sind dennoch, findet Falke, "genau" und es geht auch nicht so weit, "dass Disse in jedem Eichhörnchen das liebe Jesulein erblickt". Den Gesamtansatz des Autors, der in der Rezension recht kurz zusammengefasst wird, sieht Falke darin, dass die Fachwissenschaften im Horizont der "Auslegungstraditionen" metaphysischer Philosophie "überprüft" werden sollen. Dagegen hat der Rezensent, wie es aussieht, nichts einzuwenden.

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