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Am Vorabend seines dreißigsten Geburtstags fährt François auf Wunsch seines Vaters von Paris an den Ort seiner Kindheit. Vom Bahnhof aus zu Fuß unterwegs wird er von der hereinbrechenden Nacht überrascht und verirrt sich.In einer Landschaft, die nichts Vertrautes mehr zu haben scheint, mehren sich die Vorzeichen von Tristesse und Verzweiflung: verlassene Häuser, Weggabelungen und beunruhigende Begegnungen mit Fremden. Dunkle Kindheitserinnerungen an den bedrohlichen Vater und den frühen Tod der Mutter mischen sich in die Erlebnisse der Nacht. Am Ende seiner Kräfte und seiner Reise findet…mehr

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Produktbeschreibung
Am Vorabend seines dreißigsten Geburtstags fährt François auf Wunsch seines Vaters von Paris an den Ort seiner Kindheit. Vom Bahnhof aus zu Fuß unterwegs wird er von der hereinbrechenden Nacht überrascht und verirrt sich.In einer Landschaft, die nichts Vertrautes mehr zu haben scheint, mehren sich die Vorzeichen von Tristesse und Verzweiflung: verlassene Häuser, Weggabelungen und beunruhigende Begegnungen mit Fremden. Dunkle Kindheitserinnerungen an den bedrohlichen Vater und den frühen Tod der Mutter mischen sich in die Erlebnisse der Nacht. Am Ende seiner Kräfte und seiner Reise findet François Zuflucht im Haus einer Familie, in dem es zu einer unerwarteten Konfrontation mit seinem Vater kommt.Jean Cayrols IM BEREICH EINER NACHT, 'empfindsam übersetzt' (Der Spiegel) von Paul Celan, ist eine außergewöhnliche Vater-Sohn-Geschichte, in der der Mythos vom verlorenen Sohn umgeformt wird 'in eine wesentlich härtere Variante: in die Geschichte vom verlorenen Vater, zu dem es keine Rückkehr mehr gibt' (Neue Zürcher Zeitung). Jean Cayrol, wie Camus und Sartre ein Autor von europäischem Rang, ist zu entdecken, ebenso Paul Celans herausragende Übertragung, die erstmals seit Jahren wieder erscheint. Ein Nachwort von Ursula Hennigfeld, geboren 1977, Romanistin und Germanistin, informiert über Cayrols Leben und Werk sowie über Celans Übersetzung und liefert eine umfangreiche Analyse von IM BEREICH EINER NACHT.
Autorenporträt
Jean Cayrol, geboren 1911 in Bordeaux, arbeitete nach dem Studium der Jurisprudenz und Literaturwissenschaft als Bibliothekar. 1941 schloss er sich der Résistance an, kam in deutsche Gefangenschaft und war bis 1945 im KZ Mauthausen inhaftiert. Nach seiner Rückkehr nach Paris arbeitete er als Verleger der Editions du Seuil und war Mitglied der Académie Goncourt. Cayrol verstarb 2005 in Bordeaux. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. »Im Bereich einer Nacht« wurde von Paul Celan aus dem Französischen übersetzt.Paul Celan, geboren 1920 in Czernowitz, ist einer der bedeutendsten Lyriker des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Lektor und Übersetzer, z. B. von René Char, John Donne, Sergej Jessenin, Ossip Mandelstam, Fernando Pessoa und Giuseppe Ungaretti. Im Juli 1948 zog er nach Paris, wo er bis zu seinem Freitod 1970 lebte. Paul Celan wurde für sein Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Bremer Literaturpreis (1958)

und dem Georg-Büchner-Preis (1960).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.06.2011

In welche Richtung soll das gehen?

Gut, dass Jean Cayrol zum einhundertsten Geburtstag neu entdeckt werden kann. Schlecht, dass es ausgerechnet mit dem diffusen "Nacht"-Roman geschehen muss.

Dieses Buch kommt von weither, und das merkt man ihm an. In Frankreich ist es 1954 erschienen, die deutsche Übersetzung von Paul Celan wurde erstmals 1961 veröffentlicht. Von Jean Cayrol, der heute vor hundert Jahren in Bordeaux geboren wurde, erschienen in den späten fünfziger und sechziger Jahren noch weitere Romane auf Deutsch, "Die Fremdkörper" etwa oder "Der Umzug", Letzterer mit einem Nachwort von Heinrich Böll.

Mit Böll hat Cayrol gemeinsam, dass er heute auch im eigenen Land ein kaum noch gelesener Autor ist. Dabei hat er im literarischen Leben Frankreichs eine bedeutende Rolle gespielt, unter anderem als Mitverleger der "Éditions du Seuil". Dass etwa Roland Barthes bei diesem Verlag anheuerte und ihm treu blieb, ist wesentlich Cayrol zu verdanken. Mit Böll hat Cayrol auch jenes, im damaligen Frankreich eher existentialistisch gefärbte, katholische Milieu gemein, dessen Thematik und Probleme uns heute fremd erscheinen. Der vorliegende Roman ist eine Paraphrase auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn, allerdings mit überraschendem Ausgang. Und schließlich ist es die Erfahrung des Krieges, die diese beiden Autoren verbindet - eine Erfahrung, die für Cayrol in zwei Jahre KZ Mauthausen mündet, das er nur knapp überlebt.

Als Überlebender schreibt er den Text zu Alain Resnais' berühmtem Dokumentarfilm "Nacht und Nebel", der 1956 auf Intervention des deutschen Botschafters aus dem offiziellen Programm von Cannes genommen und nur außer Konkurrenz gezeigt wird. Die deutsche Übersetzung des Textes besorgt ein anderer Überlebender: Paul Celan.

Die Erfahrung des Lagers - darauf weist Ursula Hennigfeld in ihrem Nachwort hin - steht hinter allen Büchern Cayrols. Der Roman "Im Bereich einer Nacht" ist in der Zeit seiner Entstehung angesiedelt. Frankreich führt einen Krieg in Indochina, den es nicht gewinnen kann (die Schlacht von Dien Bien Phu besiegelt die Niederlage), und die offizielle Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg überhöht die Résistance und kennt Kollaboration nur als individuelles Versagen - eine gesellschaftliche Lebenslüge, die sich bekanntlich recht lange gehalten hat. Das ist der Hintergrund, vor dem die Geschichte des verlorenen Sohns inszeniert wird. Inszenierung ist hier durchaus das angemessene Wort: Cayrol leuchtet die Szenerie und die handelnden Personen über den ganzen Roman hin nur sehr spärlich aus. Vom eigentlichen Helden, François, erfahren wir zwar am meisten, aber letzten Endes bleibt er, wie alle anderen Figuren des Romans auch, im Zwielicht.

Der junge Mann - er steht kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag - lebt in Paris, arbeitet in irgendeinem Büro, über das wir nicht viel erfahren. Er lebt mit seiner Freundin Juliette zusammen, die er bald heiraten will, auch über sie schweigt sich der Text aus. Das ist Methode, denn die beiden erzählen sich schließlich auch gegenseitig nichts von ihrer Vergangenheit: "nicht der leiseste Versuch, den andern mit irgendwelchen vergangenen Bindungen zu behelligen".

Als François sich auf den Weg zu seinem Vater macht, in den französischen Südwesten, ins Poitou etwa, funktioniert diese Haltung nicht mehr. Schon allein deshalb nicht, weil der Vater offenbar ein Ekel ist, das die Mutter in den frühen Tod getrieben hat. Aus welchen Gründen auch immer steigt François früher aus dem Zug und möchte den Rest des Weges in das Haus seiner Kindheit zu Fuß zurücklegen. Dieser während einer Nacht zurückgelegte Weg ist das Herzstück des Romans.

François verliert in der Dämmerung bald die Orientierung, landet zunächst im Haus einer Familie, deren leicht nymphomanische Tochter gegen ihren Willen verheiratet werden soll. Von da aus geht es weiter in ein anderes Haus, in dem ein Toter aufgebahrt liegt. Dass man als Leser früher als François zu ahnen beginnt, dass es sich bei diesem Toten um seinen Vater handelt, weist darauf hin, dass der Held auch als tumber Tor in Erscheinung tritt. Das passt zu seiner Orientierungslosigkeit. Nur überträgt sich diese leider zunehmend auf den Leser. Nicht, dass die einzelnen Handlungsstränge unverständlich wären, aber man weiß nicht so recht, warum man sich für all diese Menschen und ihre Probleme interessieren soll. Ursula Hennigfeld macht in ihrem Nachwort auf den Mangel an Empathie aufmerksam, der alle Figuren dieses Romans auszeichnet - diese Haltung überträgt sich auch auf den Leser.

Dabei dürfen wir den Protagonisten sogar von innen besichtigen, denn die Perspektive wechselt, zuweilen sogar mitten im Absatz, von der des auktorialen Erzählers in die Ich-Form, vornehmlich dann, wenn es um seine Kindheitserinnerungen geht. Die schönste Stelle des Romans verdanken wir einer solchen Erinnerung. François denkt zurück an eine Zeit, wo er von seinem Vater gezwungen wird, als Sühne für eine Lüge einem Bauern beim Pflügen zu helfen, und auf zwei Seiten wird hinreißend geschildert, wie er als Kind neben dem Ackergaul einhergeht, der Simon heißt. "Ich sprach zu Simon, und Simon hörte mir zu. Zunächst beklagte ich mich natürlich über Vater, erzählte von den harten Strafen, die er mit auferlegte, von den Prügeln, die ich erhielt, und Simon schüttelte den Kopf. Wie ein Geigenkasten sah er aus, dieser Kopf; manchmal floss sein Speichel auf meinen Pullover. Ich liebte seinen Schritt, der sicherer war als der meine." Fast stimmt es versöhnlich, dass der Bauer Jérôme, dem François damals half, auch derjenige ist, mit dem zusammen er seinen toten Vater aus dem Haus trägt und der das letzte Wort in diesem Roman hat. Über ihn wird nicht viel gesagt; dennoch ist er prägnanter als die meisten anderen Figuren in diesem Roman, die etwa Sätze aufsagen wie diese: "Ich kenne sie: sie ist praktisch veranlagt. Ihre Mutter hat sie darin unterwiesen, wie man sich seine Existenz zurechtschneidert: aus geliehenem Stoff. Das sitzt wie angegossen." So etwas - ein Versicherungsvertreter sagt das in diesem Fall - ist keine Ausnahme. Das Prunkstück sind gut vier Seiten Unterhaltung zwischen François' Eltern, die ganz unvermittelt im Text stehen, ohne dass klar wird, wer dieses Gespräch belauscht hat. Das liest sich wie ein Dialog aus irgendeinem der existentialistischen Thesenstücke von Sartre, mit deren Haltbarkeit es nicht so weit her war, wie wir heute wissen.

Ziemlich am Anfang des Romans hat Cayrol, ob bewusst oder unbewusst, in einem inneren Monolog von François die Poetik dieses Buches vorweggenommen: "Jetzt begreife ich auch, warum ich nie Romane zu lesen vermochte; alle diese Schriftsteller ahmen das Leben nur nach, sie gestalten es nicht neu, mit ihrer Feder rühren sie an den Tod." Ob das für "alle diese Schriftsteller" und für alle Romane gilt, sei dahingestellt. Auf dieses Buch, das wirklich von weither kommt, trifft es jedenfalls zu.

JOCHEN SCHIMMANG

Jean Cayrol: "Im Bereich einer Nacht". Roman.

Aus dem Französischen von Paul Celan. Nachwort Ursula Hennigfeld. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2011. 254 Seiten, geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.08.2011

Der Schrei, der nie verstummt
Jean Cayrols vergessener, von Paul Celan übersetzter Roman „Im Bereich einer Nacht“ in einer Neuausgabe
Am Ende von Alain Resnais’ Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“ aus dem Jahr 1955 sieht man zur Musik von Hanns Eisler farbige Bilder eines zerfallenden Konzentrationslagers. Im Kopf des Betrachters vermischen sie sich mit den historischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Deportationen, Gaskammern, Leichenbergen, die zuvor gezeigt worden sind. Das Gras wächst über die Massengräber. Es wächst, sollen diese letzten Einstellungen sagen, hinweg über die Geschichte des größten Verbrechens der Menschheit. Die Stimme aus dem Off spricht dazu die Zeilen eines Textes, der das Grauen protokolliert und zu einem Poem des nie vergehenden Schmerzes wird, zu einer Mahnung: „als glaubten wir wirklich, dass all das nur / einer Zeit und einem Lande angehört, / uns, die wir vorbeisehen an den Dingen neben uns / und nicht hören, dass der Schrei nicht verstummt.“
Die Vorlage zu Resnais’ berühmtem Werk stammt von dem hierzulande fast unbekannten oder zumindest vergessenen französischen Schriftsteller Jean Cayrol, die Übertragung von Paul Celan – beide Überlebende des Holocaust. Cayrol (1911-2005) war bei Ausbruch des Krieges Mitarbeiter des französischen Geheimdienstes, schloss sich 1941 der Résistance an und wurde 1942 ins KZ Mauthausen verbracht, wo er nur unter sehr glücklichen Umständen überlebte. In den fünfziger Jahren hatte er in Frankreich eine einflussreiche Position im Literaturbetrieb inne. Er erhielt für seine Romane und Lyrikbände renommierte Preise, arbeitete als Berater der Éditions du Seuil und entdeckte Autoren wie Philippe Sollers oder Roland Barthes.
Zudem darf man ihn zu den Wegbereitern des Nouveau Roman zählen, Stilelemente, die später bei Alain Robbe-Grillet oder auch Claude Simon ausformuliert werden, sind bei Cayrol bereits angelegt. Im Walter-Verlag erschienen seinerzeit einige seiner Bücher auf Deutsch, „Der Umzug“ oder „Der Fremdkörper“. Auch sein Roman „Im Bereich einer Nacht“ aus dem Jahr 1954 kam Anfang der sechziger Jahre in der Übersetzung von Paul Celan heraus, kaum rezipiert und rasch aus den Regalen verschwunden. Dass man ihn nun wieder lesen kann, verdankt sich dem Schöffling-Verlag, der sich an eine Neuausgabe wagt und nicht umsonst auf dem Cover des Buches neben dem Autor den weitaus berühmteren Übersetzer Paul Celan nennt. Tatsächlich fanden hier zwei Dichter zueinander, die nicht nur einen kaum beschreibbaren Erfahrungsraum teilten, sondern auch in ihrer Sprache und Metaphorik einander ähnlich sind. Celan geht mit der Vorlage, wie Ursula Hennigfeld in ihrem instruktiven Nachwort ausführt, zudem sehr frei um, verwandelt sich den Text an, macht ihn sich zu eigen. Wo Cayrol ganz zu Beginn vom Nahen der Dämmerung schreibt – „l’approche du crépuscule“ –, erzeugt Celan durch eine kleine Dramatisierung bereits einen unbehaglichen, auf das Kommende einstimmenden Ton: „Die Dämmerung rückte näher und fraß sich mehr und mehr in das Blau der Rauchfahnen.“
„Im Bereich einer Nacht“, das wird schon an diesen ersten Sätzen deutlich, verweist eben nicht nur auf eine zeitliche Dimension, sondern auf eine existentielle Dunkelheit, in deren Tiefen das vergangene Unbewältigte sich eingenistet hat. Sie umfängt den Menschen wie ein dicht gewobenes Netz, durch das man die Außenwelt nur noch schemenhaft erkennen kann. „War nicht alles von ihr zu gewärtigen, von dieser Nacht, die wie eine Faust auf alle Wesen und Dinge niederfuhr?“
Die Hauptfigur von Cayrols Roman heißt François, er steht im bedeutungsschwangeren dreißigsten Jahr, und einen Tag vor seinem Geburtstag macht er sich von Paris aus auf die Reise zu seinem Vater, der in einem kleinen Dorf lebt. François beschließt, schon eine Station vor dem Zielbahnhof aus dem Zug zu steigen und die letzten Kilometer zu Fuß zu gehen. Er will sich vorbereiten auf die Begegnung mit dem ungeliebten Übervater und „Überwitwer“, von dem der Junge einst die Angst und vielleicht auch die Unfähigkeit zu wahren Beziehungen eingeimpft bekommen hat. Die Mutter ist früh gestorben, und der Vater, wenn er vielleicht auch nicht im juristischen Sinne schuld ist an ihrem Tod, hat dieses Unglück doch für seine Zwecke ausgenutzt: „Vater hatte sie eingekerkert, eingesargt in einem unzugänglichen Kummer. Niemand durfte ihrer gedenken. Nur auf seinen Wink hin durften die Tränen fließen und die Seufzer laut werden. Er gehörte ihm und nur ihm allein, dieser Tod.“ Der Fußweg führt François durch ein Waldgebiet, die Dämmerung bricht herein, und mit der Nacht kommen die Kindheitserinnerungen wieder, traumatische Episoden und Erlebnisse, Gedanken an das einzig Verbindende innerhalb der Familie – viele der Mitglieder haben Selbstmord verübt.
Auch François hat in seiner Jugend mehrmals versucht, sich umzubringen. Cayrol schafft eine Atmosphäre der Ausweglosigkeit – die Geschichte ist nicht hintergehbar, sie begleitet François auf Schritt und Tritt, und mit jedem Meter, den er vorankommt, gleitet er tiefer hinein in diesen Orkus. Zwischen den Schrecken der Vergangenheit und den Ungewissheiten der Gegenwart liegt ein undurchdringlicher, fast mythisch anmutender Wald, der verschluckt wird von der Nacht. Monströs sind die Bilder der Kindheit. Sie legen sich auf die Eindrücke des Jetzt. Immer wieder wechselt Cayrol die Perspektive, lässt auch die in Paris zurückgelassene Verlobte Juliette und die tote Mutter zu Wort kommen und erzeugt so einen schwankenden Erzählboden. Über diesen zieht François dahin, um sein Ziel immer weiter zu verfehlen und doch unbewusst schnurstracks darauf zuzuwandern. Er verirrt sich, buchstäblich und in Gedanken, er begegnet Menschen, die sich auf seltsamste Weise verhalten, er erholt sich in einem Haus, in dem im Nebenzimmer die Leiche eines Mannes aufgebahrt ist. Seine Gastgeber streiten sich lautstark, er kommt nicht zur Ruhe. Und schließlich stellt sich heraus, dass der Tote nebenan, der Liebhaber seiner Gastgeberin, sein eigener Vater ist.
Der Bereich einer Nacht wird mehr und mehr zum Bereich der Toten, ein Landstrich, vermessen von der Ewigkeit und bevölkert von Geistern und Schattenwesen. Es hat etwas Surreales, manchmal wie in einem Jenseitstraum aus einem Buñuel-Film – grotesk und absurd, nicht mehr von dieser Welt, obwohl die gewöhnlichen Dinge und Alltäglichkeiten die Welt noch beherrschen. Es ist ein poetischer Text, der wie in einem Schauermärchen eine Figur an die Abgründe seiner Wahrnehmung, auf die andere Seite der Wirklichkeit führt. Alle Hoffnung, aus dem Albtraum zu erwachen, zerschlägt sich. Die ödipale Grundstruktur, die biblischen Anspielungen auf den verlorenen Sohn, das spätromantische Setting sind dabei für den Leser trügerische Rettungsringe, die einen in Wahrheit tiefer hineinziehen ins Undurchdringliche und Unauflösbare. Samuel Beckett hat dieses Grundgefühl noch weitergetrieben, auch in der Sprache. Aber bei Cayrol ist es bereits spürbar.
Ganz zu Recht weist Ursula Hennigfeld darauf hin, dass „Im Bereich einer Nacht“ im Kontext der Literatur über die Shoah gelesen werden kann oder sogar muss. Seinen Zustand während der Deportation beschrieb Jean Cayrol mit den Worten „Nacht“, „unmenschliche Dunkelheit“ oder „Verdunkelung der Persönlichkeit“. Sein Roman führt mitten hinein in dieses Schattenreich, in dem das Individuelle ausgelöscht wird. „Lazarenische Literatur“ nennt Cayrol das: Es schreibt hier einer, der wie Lazarus von den Toten wiedergekehrt ist und dem die Realität unwirklich erscheint. Es ist eine Literatur – und die Übersetzung Paul Celans trägt nicht unwesentlich dazu bei –, die aus der Erfahrung der Lager Poesie entstehen lässt, keine erbauliche, keine zuversichtliche, keine hoffnungsstiftende. Schreiben, sagte Cayrol einmal, heiße die Leere erschaffen, worin die furchtbare Tatsache, dass das Rettende fehlt, erkennbar wird. „Im Bereich einer Nacht“ schafft die Dunkelheit nach, in der die Todgeweihten sich fortan durchs wiedergeschenkte Leben tasten mussten.
ULRICH RÜDENAUER
JEAN CAYROL: Im Bereich einer Nacht. Roman. Aus dem Französischen von Paul Celan. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2011. 255 Seiten. 19,95 Euro.
Cayrol war ein Wegbereiter
des Nouveau Roman, dessen
Stilelemente er vorwegnahm
Deportations-Szene aus Alain Resnais’ Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“ (1955). Foto: AFP ImageForum
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ulrich Rüdenauer begrüßt enthusiastisch die Neuausgabe von Jean Cayrols 1954 im französischen Original erschienenen Roman "Im Bereich der Nacht". Paul Celan, der Anfang der 1960er Jahre die deutsche Übersetzung besorgte, entpuppt sich dabei als Geistesverwandter des bei uns fast vergessenen Autors. Mit ihm teilte er nicht nur das Schicksal des Holocaust-Überlebenden, sondern war ihm auch poetisch eng verwandt, wie der Rezensent betont. Im Roman reist der 30-jährige Francois zu seinem ungeliebten und gefürchteten Vater, verirrt sich im Wald und verstrickt sich in bedrückende Kindheitserinnerungen und alptraumhafte Begegnungen, erfahren wir. Rüdenauer stellt uns den 2005 gestorbenen Autor als Ahnherrn des Nouveau Roman vor, der in seinem Buch an Bunuel und Beckett erinnert. Dass es im Kontext der Shoah zu lesen ist, wie Ursula Hennigfeld in ihrem Nachwort betont, meint auch der Rezensent, der sich von der existentiell hoffnungslosen Grundstimmung des Romans hat tief beeindrucken lassen.

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»Ein existentielles Sprachkunstwerk.« Andreas Trojan, Bayerischer Rundfunk »Ein moderner Klassiker, poetisch und düster.« Chrismon »Faszinierend poetisch.« Nürnberger Nachrichten