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Produktdetails
  • Verlag: Attempto
  • ISBN-13: 9783893083275
  • ISBN-10: 3893083278
  • Artikelnr.: 09340412
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2001

Müssen wir hier wirklich eine abstrakte Debatte führen?
Was die Redestrategien der Renaissance mit denen des Deutschen Bundestags verbindet: In der Verständigungsform sieht Hans Carl Finsen den Schlüssel der Nation

Lesen macht ein Land groß - "Reading makes a country great". Dieser Satz stand an der Tafel des Klassenzimmers in Sarasota, Florida, in dem der amerikanische Präsident George W. Bush von dem Selbstmordanschlag auf das World Trade Center erfuhr. Noch nachdem man ihm ins Ohr geflüstert hatte, daß "Amerika angegriffen wird", lobte er die siebenjährigen Schüler: "Ihr seid wirklich gute Leser!"

Hier waren nicht nur die Bemühung um Zivilisation und deren Zerstörung in einem Moment zusammengetroffen. Zugleich zeigte sich, daß der Präsident ein Bewohner zweier Reiche ist. Das eine, das nun zurückstehen mußte, ist das Reich des Dialogs. Hier wird die Kultur des Austauschs gepflegt; man setzt sich auf einen Stuhl, schlägt die Beine übereinander und hört den anderen zu. Was gesagt wird, ist jeweils auf eine Antwort ausgerichtet, kann ergänzt und befragt werden, und erst die Gesamtheit von Äußerungen und Erwiderungen ergibt den Zusammenhang, der diese Kommunikationsform konstituiert. In dieser Hinsicht gibt es keinen großen Unterschied zwischen den zumeist gepflegten Umgangsformen der république littéraire, die den Grundschülern in Florida im Idealfall nähergebracht werden sollen, und dem bodenständigen, nachbarschaftlichen Schwätzchen am Zaun einer texanischen Ranch, das George Bush vertrauter ist.

Nach dem Verlassen des Klassenzimmers mußte der Präsident den netten Onkel hinter sich lassen und Schritt für Schritt in das zweite Reich eintreten. Dort herrscht ein anderer rhetorischer Modus: Der Sprecher, so lautet das Ziel, integriert alle möglichen Äußerungen in seiner Person. "Das ist ein schwieriger Moment für Amerika", hieß es schon wenige Minuten später. Diese Form der Rede ist, in nur eine Richtung laufend, nach ihrer inneren Anlage nicht auf die sprachliche Reaktion des Gegenübers angewiesen; sie zielt auf Applaus, Rührung, Erhebung, Zusammenhalt und Zustimmung. Wenn die Stunde des Staatsmannes schlägt - wie dann insbesondere bei Präsident Bushs Ansprache vor den beiden Häusern des Kongresses am 20. September - ist keine Unterbrechung vorgesehen, weder im konkreten Moment noch in anschließender Gegenrede. Eben deswegen hatte es eine so auffällige Wirkung, als Bush an einer Stelle seiner Kongreßrede kurz vom Text abwich und in die Umgangssprache zurückfiel ("And you know what? We're not going to allow it!").

Unter etwas weniger dramatischen Umständen begegnen uns die beiden Weisen der Kommunikation im täglichen öffentlichen Verkehr in der Demokratie. Zwar sind die Augenblicke, in denen einem Politiker als Sammlungspunkt und Autorität andachtsvoll gelauscht wird, selten geworden, und der Dialog - auch wenn er nicht immer so dezent und gewandt abläuft wie etwa in Großbritannien - wird hochgehalten, so hoch, daß manchem das viele Gerede schon zuviel wird.

Und doch können gerade die dialogversessenen Talkshows im Fernsehen der Anschauung der unterschiedlichen Publikumsausrichtungen dienen. Wenn Politiker dort auftreten, sind sie ständig hin und her gerissen: Sollen sie sich am gegenübersitzenden Gesprächspartner orientieren? Oder am Publikum, das seinerseits wiederum die "draußen" gelegene Zuschaueröffentlichkeit vertritt? So changieren sie zwischen kontrollierter, wechselnder Unterhaltung und, wenn sie wieder an die Wähler denken, monologischen, wahlkampfartigen Statements, mit denen sie Punkte zu machen hoffen. Teils achten sie auf Interaktion, teils auf Beifall. Eine komplizierte rhetorische Situation - weil unklar ist, in welchem der beiden Reiche man sich befindet.

Der auf deutsch schreibende dänische Germanist Hans Carl Finsen hat mit dem Buch "Die Rhetorik der Nation" den Versuch unternommen, den zwei Redehaltungen geistesgeschichtliche Plätze zuzuweisen. Dem umfassenden Titel zum Trotz beschränkt er sich dabei, von einem Rekurs auf Aristoteles und Cicero abgesehen, auf die Zeit von der Renaissance bis zum frühen neunzehnten Jahrhundert. Eine Reduktion, die der Untersuchung nichts von ihrem Bezug auf die Gegenwart nimmt; wer sie liest, wird die rhetorische Öffentlichkeit mit einer größeren reflexiven Feinfühligkeit in den Blick nehmen.

Finsens These ist, daß von der frühen Neuzeit an weniger der Inhalt von Reden das nationale Selbstverständnis europäischer Staaten begründet hat als vielmehr die Form des Redens und deren Betrachtung, daß also mit der Zeit "der Diskurs die Modalität der Rede auf die Nation überträgt". Diese rhetorische nationale Verfaßtheit habe jedoch vor dem Aufstieg des modernen Nationalstaats einen grundsätzlich anderen Charakter gehabt, der sich in dem Ideal der Konversation manifestiert habe: Es regierte der galante, gebildete und zugleich bewußt unprätentiöse Ton der höfischen Vorzimmer und der aristokratischen Salons, die Sphäre, in der der Sprecher "sein kultiviertes Selbst zur Aufführung bringt". Finsen sieht darin "die Gelegenheit, die Geschichte der Nation neu zu erzählen, und zwar als Redegeschichte". Ein Hauptanliegen ist dabei, die Salonkultur aus der Opposition "Verlogene Aristokraten - ehrliches Bürgertum" zu befreien. Gegen Ursula Geitner ("Die Sprache der Verstellung") und Jean Starobinski ("Über die Schmeichelei"), der vom "Krieg unter der Maske der Höflichkeit" gesprochen hat, will Finsen den positiven gesellschaftlichen Identitätswert der "schönen und leichten Form" vorführen.

Einer ihrer Ursprünge liegt in der Differenzierung in separate schriftsprachliche und kulturelle Gemeinschaften nach dem Ende der Exklusivität des Lateins. Sie hatte einen gebrochenen Übergang von der "Stratumkultur" zur Segmentierung zur Folge: Zum einen verstärkte die Beförderung der Heimatsprache die Eigenart der Länder, zum anderen gab es ein gemeinsames Modell, das man als beispielhaft ansah: die Antike. So konnte man in Konkurrenz treten und war sich doch einig darüber, worin man es besser machen wollte als die anderen, nämlich in der Nachahmung derselben Vorbilder. Finsen schildert diesen Vorgang einprägsam an den Beispielen Joachim Du Bellay, Leibniz und der Begegnung zwischen Gottsched und Friedrich dem Großen. Der humanitas-Begriff, den Cicero in "Über den Redner" entwirft, wird dabei Referenzpunkt einer neuen, gepflegten Redekultur.

Ein großer Teil des - bis auf einige Lücken im Inhaltsverzeichnis - übersichtlichen Buches spielt die Geschichte dieser nicht-monologischen Gesprächigkeit an verschiedenen Haltepunkten durch: dem französischen Salon, Shaftesbury, Christian Thomasius und Christian Garve. Besondere Aufmerksamkeit gilt dann den Schwierigkeiten der notorisch hinterherlaufenden Deutschen, die angestrebte kommunikative Weltläufigkeit in die eigene Nationalkultur Eingang finden zu lassen. An Herder wird ein Rückzug vom essayistischen zum systematischen Denken geschildert, eine "Absage an die Regeln der Urbanität, an denen die deutschen Intellektuellen so schmerzlich gescheitert sind".

Doch erst nach dem etwas kryptisch formulierten Herder-Kapitel, am Ende, versteht man, worauf diese Entwicklung nach Finsens Auffassung hinausläuft: Auf ein pietistisch und romantisch geprägtes Bild von der öffentlichen Rede, das den Dialog durch die Offenbarung ersetzt. Im Jahre 1812 hielt Adam Müller in Wien seine "Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland". Die mangelnde Eleganz der Landsleute wird dort - wie öfter in den Zeiten antifranzösischer Stimmung - zur wertvollen Eigenständigkeit erhoben. Die direkte, echt gefühlte Ansprache wird als synthetischer Akt dem konzilianten Austausch vorgezogen: Der Redner ist ein predigendes Genie, wenn, so Müller, "eine große Versammlung von der Macht der Rede so überwältigt wird, daß sie die konventionelle Antwort vergißt, daß sie wie mit einem einzigen Ohr horcht, wenn die ganze Versammlung sich unsichtbar, aber ganz deutlich aneinanderlehnt, jeder empfindet, daß er nur ein Glied eines größeren Menschen ist, der angeredet wird". Mit anderen Worten: George W. Bush spricht vor dem Kongreß.

Man ist Finsen dankbar, daß er darauf verzichtet, die im deutschen Kontext auf der Hand liegenden Assoziationen mit späteren Formen nationaler Erweckung nicht mehr zu benennen - auch wenn der letzte Satz des Buches schon recht finster vorausweist: "Deshalb inszeniert der neue Diskurs der Nation als Kult des schweren, des gehaltvollen Wortes." Die Suggestivität der gezeichneten Entwicklungslinie jedoch darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Verfasser zugunsten einer klaren Typologie die Gegenüberstellung doch etwas zu schematisch angelegt hat. Die Gelehrtenrepublik um 1800 läßt sich so einfach einteilen; wer "Die Rhetorik der Nation" liest, muß denken, alle Deutschen der Zeit hätten sich aus Rache für den Vorwurf der Provinzialität zur Förderung der nationalen Besinnungsrede entschlossen.

Damit ist auf eine Schwierigkeit gewiesen, die das Buch auch sonst aufweist: Finsen scheint sich der zivilisierten Geselligkeit so sehr zugewandt zu haben, daß auch seine eigene Redeform die gewandte, reflexive Analyse vorzuziehen scheint. Die historischen Bedingungen der Kommunikationsgeschichte kommen dabei, ebenso wie die Differenzierung der Anlässe rhetorischer Performanz und die Frage nach den Zielgruppen, etwas zu kurz. Und Finsen findet sich so gern im Gespräch mit der ganzen Geistesgeschichte wieder, daß er Aristoteles mit Ricoeur und die antike Topik mit Roland Barthes liest, selbst aber die Forschungsliteratur recht sporadisch berücksichtigt. So fehlt ein zu seinem Thema einschlägiger Aufsatz von Johannes G. Pankau "Zur Formulierung des Rhetorischen in der deutschen Romantik" von 1990.

Und doch zeigt das Buch uns etwas Wichtiges: Daß es nicht immer die große, erhabene Rede sein muß, die in einer Gesellschaft ein gemeinschaftliches Selbstverständnis begründet. Eine zivilisierte Öffentlichkeit tut gut daran, die von Finsen kontrastierten Redeformen im Gleichgewicht zu halten: Nicht alles darf zur Grundsatzrede, nicht alles zu Wortfetzen werden. Die Kombination macht ein Land groß. Und Lesen natürlich.

JOHANN SCHLOEMANN

Hans Carl Finsen: "Die Rhetorik der Nation". Redestrategien im nationalen Diskurs. Attempto-Verlag, Tübingen 2001. 197 S., br., 44,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der dänische Autor Hans Carl Finsen, der auf deutsch schreibt, sieht laut Rezensent Johann Schloemann, in der Analyse der Rhetorikgeschichte, die Möglichkeit, die Geschichte der Nation neu zu schreiben. Er widmet sich in seinem Buch der Geschichte der Rhetorik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert. Die Mängel dieses Buches sieht Schloemann in der etwas zu schematischen Darstellung der Entwicklungslinien und einer teilweisen Vernachlässigung der Forschungsliteratur. Dennoch zeige das Buch dem Leser etwas Wichtiges, wie Schloemann am Ende feststellt, "eine zivilisierte Öffentlichkeit tut gut daran, die von Finsen kontrastierten Redeformen im Gleichgewicht zu halten: Nicht alles darf zur Grundsatzrede, nicht alles zu Wortfetzen werden".

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