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Produktdetails
  • Verlag: Verlag Antje Kunstmann
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 222
  • Abmessung: 21mm x 145mm x 215mm
  • Gewicht: 395g
  • ISBN-13: 9783888972492
  • ISBN-10: 3888972493
  • Artikelnr.: 08894246
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2000

Auf der Suche nach der verpassten Zeit
Wie sich die Beschleunigung des Lebens und die Existenz in einer immerwährenden Rush-Hour auf den modernen Menschen auswirken
LOTHAR BAIER: Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung, Verlag Antje Kunstmann, München 2000. 223 Seiten, 32 Mark.
Die modernen Menschen sind Opfer ihrer eigenen Geschwindigkeit: „Vielen geht vieles, wenn nicht fast alles, viel zu schnell. ” Immer ist etwas los, immer ist etwas zu tun. Aber wie sich wehren, wo es doch dann gegen die Marktgesetze ginge, die heute mindestens so beeindrucken und prägen wie Naturgesetze? Wer nicht mitkommt, dem wird übel mitgespielt. Wer das Tempo der Zeit nicht mithechelt, der bleibt auf der Strecke, gerät auf das Abstellgleis.
Verlorene Tage
Bewegung ist der allmächtige Modus, Dynamik ihr heiliger Rhythmus, Beschleunigung ihr ehernes Prinzip. Wer das nicht akzeptiert, wirkt weltfremd, ja antiquiert, wie aus einer anderen Zeit. „Innezuhalten” empfindet das bürgerliche Individuum als verlorene Zeit, als einen Wunsch, dem es sich zu versagen gilt. Tempus, so scheint es, ist nur noch als Tempo zu haben. Die Zeit ist ins Rasen geraten. Sie läuft einem davon. Beschleunigung bedeutet ja, dass das, was soeben gewesen, so schnell wie möglich (ver)schwinden sollte. Zeit wird wie im Flug konsumiert. Je schneller, desto schneller!
Die rasanten Veränderungen erzwingen einen fluchtähnlichen Zustand. Egal wohin, bloß weg, und zwar so schnell wie möglich. Flexibilisierung befiehlt, es an keinem Ort aushalten zu dürfen. Nicht da zu sein, sondern sich immerfort oder immer fort zu bewegen. Und wer im Stau steht, der staut seine Wut nach innen, es ist zum Wahnsinnig-werden – schon vor einer Stunde hätte man anderswo sein müssen. Unsere Zeit ist portioniert in Zeiträume umschließende Zeitpunkte. Terminisiert sind wir, ein entsprechendes Timing ist daher unbedingt notwendig. Unvorhergesehenes bringt uns aus der Fassung, versetzt uns in Hektik, bereitet uns Stress. „Seit die westliche Moderne neben den anderen Ressourcen ihrer Produktivität auch die Zeit immer rationeller bewirtschaftet, sind brachliegende Zeiträume zum teuren Luxus geworden. Die Strände der Zeit von einst sind vermessen, begradigt, eingezäunt und zubetoniert”, schreibt Lothar Baier.
„Die Beschleunigung, ursprünglich als Hilfe bei der Anstrengung gedacht, die Geschichte selbst in die Hand zu nehmen, ist der Aufklärung entglitten und hat sich am Ende mit Technik und Ökonomie zu einer nicht mehr steuerbaren Gewalt verbunden. ” Beschleunigung determiniert ihre eigenen sozialen Folgen; selbstbestimmte und richtungsweisende Eingriffe sind weitgehend unmöglich. Die kommerzielle Existenzweise, der Zwang zur Verwertung diktiert den Ablauf und dirigiert die Läufer.
Umzäunte Zeiträume
Menschliche Kommunikation wird zusehends zum Totschläger der Zeit. Keine freie Minute soll mehr übrig sein. Mobilität ist zum kategorischen Imperativ des Daseins geworden. Die Welt – sie muss einen nicht nur haben, sie will den Menschen ganz und gar besetzen; jederzeit ist er an-, auf- und abrufbar wie ein Computerprogramm. Wir haben hochzufahren und uns zu melden. Das Anschlussgebot ist dem Subjekt Norm. Es gilt, das Handy unter dem funktionalen Gesichtspunkt eines ewigen Bereitschaftsdienstes zu betrachten: Nicht erreichbar zu sein, ist eine Versündigung wieder die aktuelle Möglichkeit. Möglichkeiten auszulassen, heißt Chancen zu verpassen.
Vor allem muss stets mitbedacht werden, wie viel Zeitgewinn durch Zeitverlust erkauft wird. Beispiel Computer. Lothar Baier: „Das bisschen Zeitgewinn, den der schnellere Prozessor ermöglichte, war durch den vorausgegangenen Zeitverbrauch beim Installieren, Konfigurieren und Umgewöhnen längst aufgefressen worden. ” Aber nicht bloß den Geräten und Programmen haben wir uns anzupassen, sondern ebenso dem ständigen Wechsel der Geräte, der permanenten Erneuerung der Programme. Auf dem neuesten Stand zu sein, heißt auf dem Laufenden zu bleiben. Doch das ist ein Widerspruch in sich. Das Bleibende und das Laufende sind Gegensätze. Ist etwas im Laufen, ist es mit dem Bleiben vorbei. Gewöhnung kann nicht stattfinden. Nicht nur die sich rationalisierende Arbeit ist Hast, auch der Alltag ist den kürzer werdenden Intervallen unterworfen. Das Ticken der Uhr ist allgegenwärtig geworden. Unbarmherzig erhöht sie, so will es scheinen, ihre Schlaganzahl. Das bringt mit sich, dass immer mehr in eine Einheit hineingepackt werden kann und folgerichtig muss. Die negative Dialektik der Zeit funktioniert so: Je mehr wir sie verkürzen, desto deutlicher geht sie uns ab.
Von all dem und vielem anderen schreibt Lothar Baier. Auch wenn man sich gewünscht hätte, dass der Autor manchmal enger an seinem vorgegebenen Hauptthema geblieben wäre, sind seine Abschweifungen allemal interessant. Der Reformstau etwa tritt in seinen Augen auf als „Massengrab der Reformen”. Das leidige Modewort wird entschlüsselt, indem es hinterfragt wird: „Oder sind einfach viel zu viele Reformen unterwegs, wie Autos auf der Autobahn zwischen Erfurt und dem Hermsdorfer Kreuz? Ist das große Reformverkehrshindernis der wilde Reformverkehr selbst?” Baier stellt die irritierende These auf, dass auch eine schnelle Reihung von Reformen sich stauen können bis hin zum Reformstau.
Plädoyer für eine Revolte
„Wer stoppt die Beschleunigung?”, fragt Baier und beruft sich mit Verweis auf die „Notbremse” des im Band oft zitierten Walter Benjamin auf die Notwendigkeit einer „Zeitrevolte”. Menschen leiden freilich nicht nur an der ihnen aufgedrängten Schnelligkeit, sondern auch an der Asynchronität der verschiedenen Zeitebenen, auf denen sie sich tummeln. Die Menschen werden auf diesen Ebenen gleichzeitig gestreckt und gepresst, gedehnt und gedrückt, was ein Gefühl der Zerrissenheit hinterlässt. Es ist zum Rotieren. Dass der moderne Mensch „in mehreren Zeiten lebt”, beschreibt der Publizist, und findet dafür den Begriff der „Hybridzeit”.
Gerade deswegen ist es zu simpel, „zwischen Anhängern der Beschleunigung und Freunden der Langsamkeit” eindeutige Fronten aufzumachen. Vielmehr gilt zu fragen: Was soll schnell gehen? Was soll langsam sein? Zeit ist nicht primär eine Angelegenheit des Tempos, sondern eine der spezifischen gesellschaftlichen Konditionen, in denen sich der Mensch bewegt. Vieles sollte langsamer werden, aber einiges könnte schneller geschehen. Zeitsouveränität bedeutet damit mehr als Entschleunigung.
Insgesamt hat Lothar Baier ein gut lesbares Buch vorgelegt, eines, das differenzierte Einsichten vermittelt, ohne jedoch große Vorkenntnisse vorauszusetzen. Seine Sprache ist unaufdringlich und unaufgeregt, seine Argumentation nachvollziehbar. Gemeinsam mit dem Autor sollte man sich übrigens Michel de Montaigne anschließen, der einst sinngemäß vorgeschlagen hat, die gute Zeit nicht zu vertreiben, sondern festzuhalten und auszukosten.
FRANZ SCHANDL
Der Rezensent ist Historiker und Publizist in Wien.
Das waren noch Zeiten: Bernd Rosemeyer auf Auto-Union gewinnt 1937 den Großen Preis von Donington. Die Kurslänge: 400 Kilometer. Die Geschwindigkeit des rasenden Vehikels: 130 Stundenkilometer – im Durchschnitt.
Foto: SZ-Archiv
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Mit allerlei Phänomenen von Zeit und entkomprimierter Zeit hat sich der Publizist Lothar Baier in seinen Essays auseinandergesetzt. Mit der "Echtzeit" des Golfkrieges, der "Zeitwirtschaft" in Thomas Manns "Zauberberg", mit Primo Levis Wunsch während seiner Haft, außerhalb der Zeit zu sein, berichtet Gunter Hofmann. Der Rezensent sieht beim Autor keineswegs eine kulturpessimistische Sicht gegeben, eher einer kritisch-aufklärerische, wenn er die These aufstellt, dass die Beschleunigung der Zeit durch moderne Technologien eine Illusion sei. So ganz ist Hofmann mit dieser Sicht einer "buntbewimpelten Trägheit" nicht einverstanden. Die Welt der Benutzeroberfläche, hinter der Baier eine nach wie vor einfache Welt vermutet, ist für Hofmann Teil einer komplexen Entwicklung und keine Täuschung. Und auf die Frage nach der Zukunft der Demokratie gibt es für den Rezensenten keine glatte Antwort. Die gibt auch Baier nicht. Gut so, denkt Hofmann und lobt Baiers subversiven Stil, mit dem er den Leser auf eigene und eigenwillige Weise durch verschiedene Zeitverhältnisse flanieren lässt.

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